Margheritastudie 1992 - ein ungewöhnliches Forschungs- und Bergerlebnis
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Margheritastudie 1992 - ein ungewöhnliches Forschungs- und Bergerlebnis

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Stefan Goerre, Haldenstein

Seit 10 Jahren werden auf der

( Vgl. auch den Beitrag im gleichzeitig versandten MB 6/93 « 100 Jahre höhenmedizinische Forschung in der Capanna Regina Margherita » ) Die Capanna Margherita ( 4559 m ) mit ihrem berüchtigten Schlussanstieg Capanna Margherita: touristischer und wissenschaftlicher Stützpunkt in grosser Höhe Die Capanna Margherita ist ein hüttenar-chitektonisches und alpinhistorisches Unikum. Die Leistung der italienischen Pioniere, die Ende des letzten Jahrhunderts auf dem Gipfel der 4559 m hohen Punta Gnifetti ( auch Signalkuppe genannt ), einem Nachbarn der Dufourspitze, eine Schutzunterkunft errichteten, können wir hochgerüsteten heutigen Bergsteiger wohl gar nicht mehr richtig einschätzen. Berg- und Baumaterial waren schwer und unhandlich, Seilbahnen oder Helikopter unbekannt, und das Hochgebirge galt als unheimliche Welt voller Gefahren. Die mutigen Hüttenbauer tauften ihr Werk auf den Namen der damaligen italienischen Königin. Diese nahm dafür die Mühe des Hüttenaufstiegs auf sich, um bei der Einweihung anwesend zu sein. In der Folge wurde die unterdessen vergrösserte und modernisierte Hütte zu einem der beliebtesten Ausflugsziele im Monte-Rosa-Massiv, diente aber auch immer wieder als Rettungshafen für in Schwierigkeiten geratene Bergsteiger. Nach der Königin und den Touristen kamen Anfang der achtziger Jahre schliesslich die Wissenschaftler. Oswald Oelz und Peter Bartsch, beide Mediziner und himalayaerfah-rene Bergsteiger, suchten nach einem möglichst hoch gelegenen, andererseits aber auch gut zugänglichen Ort für höhenphysiologische Forschungsarbeiten. Die Capanna: '. ,f:

Margherita erfüllte beide Bedingungen, und seither wird der Dachstock der Hütte jeden Sommer für einige Wochen zu einem hochalpinen Forschungslabor. Die bis dahin geheimnisumwitterte Bergkrankheit konnte dank der Margherita-Untersuchungen soweit aufgeklärt werden, dass heute wirksame Vorbeugungs- und Behandlungsmassnah-men sowie entsprechende Medikamente zur Verfügung stehen.

Vorbereitungsarbeiten Selbstverständlich hatte das Team Oelz/ Bartsch auch für 1992 verschiedene Forschungsprojekte vorgesehen. Nachdem sich auch wieder genügend Bergsteiger bereit erklärten, als Probanden mitzumachen, und der Nationalfonds die Mittel zur Verfügung stellte, war die Margheritastudie 92 beschlossene Sache. Unterdessen formierte sich um die beiden Initianten ein bunt zusammengewürfeltes Untersucher-Team: aus München die beiden Neuropsychologen Florian und Thomas, aus Heidelberg die Sportmedizinerin Elke und der Kardiologe Ferry, aus Bern die Röntgentechnikerin Franziska und schliesslich aus Chur Hansruedi und ich, beide ( gewöhnliche ) Mediziner. Als wir uns am 29. Juli in Zermatt trafen, lagen umfangreiche Vorarbeiten hinter uns. Unter ande- rem hatten wir alle 34 Probanden im Zürcher Triemlispital voruntersucht. Danach musste das gesamte für drei Wochen benötigte medizinische und technische Material - von der kompletten transportablen Röntgenanlage, der umfangreichen Laborausrüstung bis hin zu allen denkbaren Ersatz- und Reservege-genständen - zusammengestellt und flugtüchtig verpackt werden.

Die Einrichtungs- Spätestens als wir zu viert pustend und keuchend das 300 kg schwere Echokardio-graphiegerät in den Dachstock der Marghe-rita-Hütte schleppten, wurde uns klar, dass unsere Tätigkeit hier wenig mit herkömmlicher wissenschaftlicher Arbeit zu tun hatte. Hier hiess es zupacken - und improvisieren. Beispielsweise wenn die deutsche Kühlzen-trifuge über ein schweizerisches Verlänge-rungskabel an eine italienische Steckdose angeschlossen werden sollte oder das auf Zürcher Stadtluft geeichte Spirometer an die auf 4559 m herrschenden Druckverhältnisse angepasst werden musste. Immer gut für böse Überraschungen war der über 30 Jahre alte Dieselgenerator, dessen Launen in Form von Stromschwankungen nur mit Zerhackern und Stabilisatoren beizukommen war. Nach verschiedenen Griffen in die Trickkiste waren schliesslich planmässig am 31. Juli Lungen-funktion, Röntgen, Blutlabor, Neuropsycho-logie und der Überdrucksack funktionstüchtig eingerichtet. Die Zeit bis zum Eintreffen der ersten Probanden am Nachmittag des I. August nutzten wir als gute Patrioten, um am Nationalfeiertag dem Dach der Schweiz, der Dufourspitze, einen Besuch abzustatten. Diese Mischung aus hektischer, nicht immer einfacher, aber immer sehr interessanter Forschungsarbeit auf der einen Seite und rassigen Bergtouren in einer faszinierenden Gletscherwelt auf der andern Seite sollte zum Markenzeichen der nächsten drei Wochen werden.

Der Einsatz der Probanden bedeutet eigentlich ( Versuchsperson ). Dieser passive Begriff wird aber den an der Margheritastudie beteiligten Bergstei- {Hochsommerliche ) Verhältnisse: Nicht zuletzt dank ihrer Drahtseilver-ankerung vermag die Hütte den Sturmwinden zu trotzen.

Photo Stefan Goei gern in keiner Weise gerecht. In Wirklichkeit leisteten sie einen aktiven und engagierten Beitrag zur Gewinnung neuer Erkenntnisse über die Bergkrankheit. Die meisten von ihnen hatten schon unter Höhenproblemen gelitten und waren dadurch motiviert, an der Studie teilzunehmen und mehr über die Reaktionen von Körper und Psyche auf die Höhenakklimatisation zu erfahren. Freiwillig nahmen sie dabei einiges an Unannehmlich- Photo Hans Ruedi Keller keiten und Anstrengungen auf sich. Es ist ganz klar, dass ohne diesen grossen Einsatz das ganze Projekt nie zustande gekommen wäre. Wenn die Probanden bei uns eintrafen, hatten sie eine weite Anreise hinter sich. Zunächst die Anfahrt via Simplon nach Alagna am Monte-Rosa-Südfuss, von dort mit der Seilbahn zur Punta Indren, gefolgt vom Aufstieg zur bereits auf 3600 m gelegenen Capanna Gnifetti. Am nächsten Tag nahmen sie in Begleitung von Bergführer Kari Kobler die 1000 m Höhendifferenz zur Margherita-Hütte in Angriff. Noch am Ankunftstag unterzogen sie sich erstmals der umfangreichen Unter-suchungsprozedur mit Lungenfunktionsprü-fung, Sauerstoff-Sättigungsmessung, Tho-raxröntgen, Echokardiographie, arterieller und venöser Blutentnahme und neuropsy-chologischen Reaktionstests. Zu einem Härtetest wurde die Fahrradergometrie, denn es ist sicher nicht jedermanns Sache, nach einer anstrengenden Bergtour noch auf den Hometrainer zu steigen!

Gemütlicher Tagesabschluss Dank Peter Bärtschs Tempodiktat waren Untersuchungen, Probenverarbeitung und Dateneingabe mit wenigen Ausnahmen bis zum Nachtessen abgeschlossen. Damit begann der gemütliche Teil der Forschung.

Das Monte-Rosa-Mas-sivvon Norden ( Zermatter Seite ). Von links nach rechts: Dufourspitze, Zumsteinspitze, SignalkuppePunta Margherita ) mit der Capanna Margherita und Parrotspitze; im Vordergrund der Grenzgletscher Jetzt schlug die Stunde der , der italienischen Hüttenwarte, die uns wie Fürsten bewirteten. Man muss sich vor Augen halten, dass jeder Tropfen Wasser aus Schnee geschmolzen werden muss, dass das Wasser bereits bei 80 Grad siedet und neben uns noch 50 bis 100 weitere hungrige Mäuler gestopft werden mussten. In Stoss-zeiten glich der Essraum einem vielsprachigen Bienenhaus, doch die Custodi hatten die Lage mit italienischem Temperament jederzeit im Griff. Nach dem Essen bildete sich regelmässig eine ( feucht-)fröhliche Runde aus Probanden, Untersuchern und Hüttenwarten, die oft erst lang nach der Hüttenruhe aufge- hoben wurde. Spätestens bei dieser Gelegenheit verschwand auch eine am Anfang vielleicht noch spürbare Distanz zwischen Untersuchern und Probanden.

Hochtouren in der Mittagspause Die 2- bis 5köpfigen Probandengruppen blieben jeweils drei Tage lang bei uns. Das Untersuchungsprogramm wurde jeden Tag wiederholt. In der freien Zeit lockten die zahlreichen Viertausender rund um die Hütte. Für ungetrübte Bergerlebnisse sorgte der unermüdliche Kari Kobler. Ohne mit der Wimper zu zucken, kletterte er am gleichen Tag zweimal hintereinander auf die Dufourspitze, um allen Interessenten die Besteigung zu ermöglichen. Wer sich wegen Höhenbeschwerden etwas weniger zumuten wollte, hatte eine reiche Auswahl kürzerer Ausflüge vom Lyskamm bis zur Zumsteinspitze, dem Hüttenberg. Wir Untersucher schlossen uns, sofern rechtzeitig mit der Arbeit fertig, den Probanden an. Auf diesen gemeinsamen Touren kam man sich menschlich näher, und spontan entstand echte Bergkameradschaft.

Der Ausgangspunkt Margherita-Hütte weist einige Besonderheiten auf: Die Touren beginnen immer mit dem Abstieg und enden, was weniger angenehm ist, mit dem Gegenaufstieg unter der brennenden Nachmittagssonne. Auch kurze Ausflüge gehen wegen der Höhenlage an die Substanz, und die Marschzeiten werden aus dem gleichen Grund unterschätzt. Für uns kam noch ein organisatorisches Problem dazu: Wegen der Morgenuntersuchungen brachen wir selten vor dem Mittag auf, was wir mit schlechten Schneeverhältnissen und einem gewissen Zeitdruck bezahlten. Stellvertretend für zahlreiche derartige Nachmittagstouren hier die Schilderung einer Dufour-Besteigung in der Mittagspause: Sofort nachdem die letzten Blutproben verarbeitet und im Flüssigstick-stoff-Tank verschwunden sind, stürzen wir uns in Bergmontur und traben wenig später wie Jogger den Grenzgletscher hinunter. Nach einer Blankeis-Seillänge stehen wir am Fuss des Dufour-Südpfeilers, der ( Cresta Rey>, wohl wissend, dass Bergsteiger um diese Tageszeit hier eigentlich nichts mehr zu suchen haben. Im sonnenwarmen und er- staunlich soliden Fels packt uns bald ein richtiger Kletterrausch, und wir stürmen Aufschwung um Aufschwung höher, immer im Kopf-an-Kopf-Rennen mit den steigenden Schatten. Als wir uns ziemlich ausgepumpt auf dem für einmal einsamen Dufourgipfel die Hände reichen, empfinden wir eine heimliche Spitzbubenfreude über diesen Nachmittagsausflug an einem ganz normalen Arbeitstag. Den Abstieg, wo wir mittlerweile jeden Tritt und Griff kennen, bringen wir in Windeseile hinter uns, und pünktlich zum Beginn der Abenduntersuchungen sind wir zurück im Labor. Im Lauf des dreiwöchigen Aufenthalts konnten wir auf diese Weise einen Grossteil der Monte-Rosa-Gipfel und -Routen .

Naturschauspiel rund um die Uhr Die Möglichkeit, in der Mittagspause Hochtouren zu unternehmen, war nicht der einzige Vorzug der einmaligen Lage unseres Labors. Nur schon ein kurzer Blick aus dem Fenster während der Arbeit war atemberaubend. Bei gutem Wetter breitete sich vor dem Auge ein überwältigendes Gipfelpanorama aus. Die Identifizierung immer neuer Gipfel und Spitzchen wurde zu einem beliebten Zeitvertreib und bot Anlass zu hitzigen Diskussionen unter Panoramologen. Ein besonderes Schauspiel waren die Wetterwechsel, angekündigt durch rasch herannahende, riesige, dunkelviolett gefärbte Wolkengebirge. Wenn wenig später orkanartige Böen an den Sicherungsseilen der Hütte rüttelten, die Temperatur schlagartig unter Null sank und mitten im Sommer der Schneesturm tobte, wurde uns so richtig bewusst, dass wir uns im Hochgebirge aufhielten. Zu den eindrücklichsten Naturerlebnissen gehörten die Gewitter. Aufgrund der exponierten Lage übt die Hütte eine magische Anziehungskraft auf jeden Blitz im Monte-Rosa-Massiv aus. Während der ohrenbetäubenden und wie Serienfeuer aufeinanderfolgenden Einschläge leuchteten die Fensterrahmen sekundenlang gespenstisch blau auf, und bei allem Vertrauen auf den Faraday-Käfig wurde einem in solchen Momenten unweigerlich etwas mulmig zumute. Wenn sich das Gewitter entfernte, waren die Blitze in ihrer ganzen Ausdehnung als weitverzweigte Leuchtbäume zu bewundern. Immer wieder von neuem faszinierend waren die Sonnen- Morgenstimmung in der Capanna Margherita auf- und -Untergänge. Zu diesen Zeiten ruhte die Wissenschaft, denn das Labor-Personal klebte am Fenster oder reihte sich vor der Hütte unter die Fotografen.

Aus dem Krankengeschichten-Archiv Während bei unseren Probanden kaum schwerwiegende Höhenprobleme auftraten, hielten uns die zahlreichen Hüttenbesucher um so mehr auf Trab. Neben der eigentlichen Höhenkrankheit wurden wir immer wieder mit den gesundheitlichen Folgen von Selbstüberschätzung, ungenügender Ausrüstung oder mangelnder Bergerfahrung konfrontiert. Hier einige Margherita-Krankenge-schichten: Céline, eine unternehmungslustige und bergerfahrene Mitvierzigerin, fühlte sich schon bei der Ankunft in der Hütte nicht

Emilio - der Retter in der Not In der dritten und letzten Woche passierte, was nicht passieren durfte. Wir steckten mitten in den Analysen, als plötzlich sämtliche Geräte stillstanden: Generatorpanne! Beim Versuch, den Koloss wieder auf Trab zu bringen, entlud sich auch noch das Telefonag-gregat. Kontakt zum Tal war damit nur noch über die unzuverlässigen Funkgeräte möglich. Auf diese Weise versuchten wir nun, im Immer wieder faszinierende Abendstimmung autofreien Zermatt Lastwagenbatterien aufzutreiben und vor Einbruch der Dunkelheit einfliegen zu lassen. Kostbare Stunden vergingen, und die Stimmung sank unter den Nullpunkt. Die Weiterführung der Studie war ernsthaft in Frage gestellt. Plötzlich und un-angekündigt hörten wir Rotorenlärm. Dem schwebenden Helikopter entstieg seelenruhig Emilio, der italienische Techniker, schwer beladen mit Batterien! Nach dem Ausfall der Telefonverbindung hatte er unser Problem erkannt, Batterien beschafft und einen Helikopter organisiert. Eine Stunde später ertönten in den Laborräumen wieder die vertrauten Geräusche - Margherita 92 war gerettet!

Rückkehr in den Alltag Am 17. August verabschiedeten wir die letzten Probanden, und einen Tag später beförderte uns die Air Zermatt mit dem verbliebenen Material zurück in die Zivilisation. Der Anblick von grünen Wiesen, bunten Blumen oder das Gezwitscher der Vögel waren nach drei Wochen Schnee und Eis eine wohltuende Abwechslung. Verkehrsrummel und Stadthektik hingegen wirkten wie ein Kulturschock und weckten Heimweh nach der beschaulichen Margherita-Welt. Das Leben dort oben hatte aus den Menschen in und um die Hütte, der Forschungsarbeit und den Bergtouren bestanden -vom Alltag und den Alltagssorgen trennten 2000 m Höhendifferenz. Jetzt, beschäftigt mit der Auswertung der Resultate, gehen die Gedanken wieder zurück auf die Punta Gnifetti, und rückblickend wird deutlich, dass die Teilnahme an der Margheritastudie weit über das rein Me-dizinisch-Wissenschaftliche hinausgehende und unvergessliche Erlebnisse vermittelte.1 1 Wer sich näher für die Margheritastudien interessiert, kann sich bei folgenden Stellen informieren:

Prof. Peter Bartsch, Medizinische Universitätsklinik, Abteilung Sportmedizin, D-6900 Heidelberg Prof. Oswald Oelz, Stadtspital Triemli, 8000 Zürich

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