Marokko
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Marokko

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON CHRISTEL KENEL, ZUG

Lieber Bergkamerad, Ich will Dir erzählen von Marokko. Wir waren im Frühjahr dort, von Mitte März bis Mitte April, mit den Ski und dem Zelt, in den Bergen des Hohen Atlas. Als bei uns noch alles grau und kalt war, gingen wir schon in sommerlicher Hitze unter einem tiefblauen Himmel... Doch ich will von vorne anfangen. Eine Reise fängt ja nicht mit dem Tag der Abreise an, sie fängt viel früher an. Sie begann an einem düsteren Abend im Spätherbst auf Lidernen, als Gottlieb so obenhin bemerkte, dass er einmal nach Marokko gehen möchte. Das verklang so in der dämmrigen Stille. Aber damals fing die Reise an und verfolgte uns den ganzen Winter über bis zu dem Tag im März, als wir im Bahnhof Zug auf dem Perron standen und auf den Zug warteten, mit riesig viel Gepäck und einem stürmen, müden Kopf, denn nie ist das Leben komplizierter als vor einer Abreise, und nie ist es einfacher als auf einer Reise, so Tag für Tag, so obenhin.

Ja, am Anfang, da war alles fremd in Marokko, und als wir in den engen Gassen von Tanger standen, dieser von Licht überfluteten Stadt am blauen Meer, da kamen wir uns verloren vor in einer fremdartigen Menge, die so anders war, so fliessend, so weich, die uns nicht berührte und doch mit hundert Augen sah. Da waren uns unsere Pullover viel zu rot, und wir waren froh, als wir ausserhalb der Stadt durch die Wiesen gingen, denn das Gras, das ist doch überall so ungefähr dasselbe. Aber, was viel schlimmer war, als wir zurückkamen, da war uns Europa fremd, erschreckend fremd, und es hat eine ganze Weile gedauert, bis wir uns zurückfanden in diese unsere Welt. Denn Marokko ist anders, ganz anders...

Du musst Dir ein Land vorstellen aus Gebirge, Wüste, « grünem Land » und Meer. Das Meer, blau, mit einem Rand aus weissem Gischt und der Sand, fast weiss, so ganz leicht gelblich. Und unter « grünem Land » musst Du Dir weitgezogene Hügel vorstellen mit tiefgrünem Gras, voll von orangefarbenen Ringelblumen und, weithin, feuerrotem Mohn. Und alles überdeckt von einem weiten, blauen Himmel und eingehüllt in sommerliche Wärme. Und oft kommt noch dazu, dass das Gras auf roter Erde wächst, harter Erde, mit einem kurzen, trockenen Klang. Und auf den Feldern gehen Menschen hinter einfachsten Pflügen, arbeiten mit einfachsten Werkzeugen. Aber überall, auf dem Land und in den Städten, sind sie gekleidet in weisse, würdige Djellabas und haben einen stolzen, aufrechten Gang. Und so, wie bei uns auf den frischgepflügten Äckern die Raben und Krähen gehen, gehen in Marokko die Störche.

Tiere gibt es überall: in den Bergen rehbraune, struppige Kühe und eine Sorte struppiger, brauner Ziegen, von denen man nie recht weiss, ob es Ziegen oder Schafe sind. Im flachen Land weiss und schwarz gescheckte Kühe, viele, viele Schafe und kleine, klapprige Pferde in allen Farben, die so mager sind, dass Du in den Städten, wenn die Strasse auch noch so sanft ansteigt, die mit Gepäck beladene Droschke selber schieben musst. Und wie haben wir geschoben! Dazu kommt eine Unzahl geduldiger Eselchen mit einem graziösen Trippelschritt und unendlich sanften Augen. Auch ihre Besitzer - und auch Nichtbesitzer von Eseln - können, wenn sie wollen, unendlich sanfte Augen haben, in denen sich 's schlechthin versinken lässt. Dies aber nur nebenbei.

Die schönste Stadt ist Marrakech, aus roter Erde gebaut und eingehüllt in den Duft blühender Orangenbäume, einen Duft, der so stark ist, dass einem die Nase weh tut. Und dann die Berge, einsam, kahl und karg wie alle Berge und doch ganz anders, voller Eigenart, mit tief eingeschnittenen Tälern und kahlen, einsamen Passübergängen, spärlich bewachsen mit niedrigem, dornigem Gestrüpp und lebendig nur dort, wo Wasser hinkommt. Dann aber wächst die Gerste sattgrün auf den Terrassenäckerchen rings um die erdgebauten Dörfer der Berber, und Schwertlilien blühen stahlblau dazwischen. Zur Zeit, als wir dort waren, fingen die Nussbäume, die die Dörfer in ganzen Hainen umgeben, eben zu grünen an, und Pfirsichbäume blühten rosa in den kleinen Höfen. Die Berge selbst sind steil gebaut, mit engen Couloirs, flacheren Hochmulden und manchmal breiten, meist aber schmalen und oft felsigen Graten, die zu den Gipfeln führen. Die Gipfel sind alle weite, flache Dächer mit einem Teppich von kleinen, verwitterten Steinen. Und wenn Du auf den Gipfeln stehst, dann reiht sich nicht wie bei uns nach allen Seiten Gipfel an Gipfel, dann siehst Du Gipfel nur in der Längsrichtung, nach Süden aber hast Du eine weite, weite Sicht in die dunstigen, gelbbraunen Fernen der Wüste und nach Norden in die blaugrünen, von Wolken leichthin überdachten Ebenen von Marokko. Der schönste und höchste Gipfel ist der Toubkal ( 4165 meine Skitour, die sich mit dem Oberalpstock vergleichen lässt, wenn Du über den Regenstaldenfirn abfährst, allerdings mit dem Unterschied, dass es im Atlas keine Gletscher gibt. Auch all die anderen Gipfel mit den seltsam fremdklingenden Namen - Ras n'Ouanoukrim ( 4083 m ) und Timesguida n'Ouanoukrim ( 4089 m ), Imrhaz ( 4030 m ), Afella n'Ouanoukrim ( 4043 m ) und Bii-guinnoussene ( 4002 m ), Iguenouane ( 3875 mlassen sich - zum Teil durch steile, manchmal enge Couloirs - mit Ski erreichen. Die beiden liebsten Gipfel sind mir Afella n'Ouanoukrim und Bii-guinnoussene, beide mit schönen Graten aus grauem, rauhem Fels und steilen Hängen, unten zu enger Rinne verengt, in die sich bei Sulzschnee Schwung an Schwung ziehen lässt. Unser ständigster Begleiter war der Wind, ein heftiger Wind aus dem Süden, der unsere Zelte nächtelang knattern liess, der uns mehr als einmal zu Boden warf und der uns zwang, demütig über schmale Grate zu kriechen. Aber es gibt auch Hütten, die dem französischen Alpenclub gehören, ohne Decken und Holz allerdings, aber, wie die Neltner-Hütte, mit einer weiss getünchten Balkendecke und einem grossen, blechbeschlagenen Tisch, in den keine Kerze ein Loch brennt und auf dem auch der schlaftrunkenste Koch Kakao brauen kann. Und wenn Du am Abend in der Hütte sitzest oder am Tag an den steilen Hängen höhersteigst und hinunterschaust in das enge, karge Hochtal, dann musst Du Dir in Erinnerung rufen, dass Du im Hohen Atlas, in Afrika, bist und nicht in den Alpen in der Schweiz, denn so ähnlich ist das.

Und dann die Wüste, neu und unbekannt für uns. In der Hitze flimmernde, gelbbraune Weite, farbige, von Rot bis Violett getönte Berge, stolze, einsame, aus Wüstenerde gebaute Kasbas. Und wenn Du hinausschaust in diese Weite, dann spürst Du sie wieder, diese Lockung, einzudringen in die Öde und die Einsamkeit und darin zu bestehen und zu leben! In den ÜÖrfern aber wohnen dunkelhäutige, unendlich neugierige, zutrauliche Kinder, die innert kürzester Zeit die Nationalität und den Lebenslauf jedes Fremdlings, der hieherkommt, erforscht haben.

Und vieles ist erlaubt oder Sitte in Marokko, was in Europa nicht gestattet oder zum mindesten nicht erwünscht ist, z.B. die Zeit und die Wocheneinteilung völlig zu vergessen, am Boden zu sitzen und mit Steinen zu spielen, in den Tag und in die Weite hineinzuträumen, das Zelt auf dem Trottoir unter Orangenbäumen aufzustellen, mit der Hand - der rechten nur, wohlverstanden - zu essen und dabei alle Finger abzuschlecken, arm zu sein, ohne seine Menschenwürde zu verlieren, und es ist erlaubt, am Tage müde zu sein und sich, wo es auch immer sei, hinzulegen und zu schlafen. Nur eines kann man auf die Dauer nicht: alleine sein. Immer ist man umgeben von Menschen, von grossen oder kleinen, hell-, dunkel- oder schwarzhäutigen, in allen möglichen Bekleidungen, die schwatzen, reden und gestikulieren und die einem behilflich sein wollen ( gegen Bezahlung und oft auch ohne ), die diskutieren wollen, die einen einladen wollen, die wissen wollen, wie Du bist, und zugleich zeigen, wie sie sind, die Dir ein Glas Minztee bringen oder die auch einfach schweigend neben Dir sitzen, lange Zeit, und hinausschauen in ein im letzten Licht verdämmerndes Tal, sich dann erheben, ernst und würdig « Salam » grüssen und verschwinden im Schwarz der Nacht. Das einzige, was bleibt, sind Flöhe von der Djellaba, die der eine Dir umhängte, weil es kalt war, und Bisse, die noch jucken, wenn Du schon wieder zu Hause bist.

Das alles ist Marokko - so wie wir es erlebt haben - voll buntesten Lebens, voll Wärme, voll tiefen Ernstes und voll Würde. Aber jeder sieht es wieder anders, auf seine Art. Nur, bevor Du hingehst, musst Du bedenken, dass Dir die Sehnsucht bleiben wird nach Dingen, die uns längst verloren sind.

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