Meije-Überschreitung
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Meije-Überschreitung

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON WOLFGANG STEFAN, NEUENHOF AG

Dumpfe Schritte und das Klirren von Eisenzeug durchdringen die nächtliche Stille. Eine Seilschaft nach der andern tritt aus dem von einer Kerze spärlich erleuchteten Raum der Promontoirehütte in die Dunkelheit. Gespenstisch streichen die kleinen Lichter unserer Stirnlampen suchend über den mit Flechten bewachsenen Granit.

Nach kurzem Klettern stauen sich die Bergsteiger bei einer kleinen Wandstufe. Einzeln muss jeder Tritt und Griff sorgfältig abgeleuchtet werden, und vorsichtig schieben wir uns Meter um Meter höher. Der bekannte einbeinige Bergsteiger Bruno Wintersteller aus Gmunden mit seinen zwei Kameraden Heinz Gidl und dem Bergführer Gerwin Eder ist schon einige Zeit vor uns von der Hütte aufgebrochen. Wir waren zu fünft auf die Promontoirehütte gekommen und haben uns in zwei Seilschaften geteilt. Während mein Kamerad Franzi Lindner mit Werner Kos und Thurl Spiegier eine Seilschaft bildet, klettere ich mit Traudì Zaloudek an einem Seil. Die vierte Partie bilden zwei junge schwäbische Bergsteiger.

Wir eilen die folgenden leichten Gratstufen aufwärts. Die Route ist mir noch von unserem Abstieg vor zwei Jahren ziemlich gut in Erinnerung. Nach der Durchsteigung der Direkten Südwand des Grand Pic stiegen wir damals im letzten Abendlicht zur Hütte hinunter. Durch eine endlose Querung erreichen wir das grosse Couloir, in dessen Grund sich noch immer Eis befindet. Etwas links ausweichend steigen Traudì und ich, gefolgt von den beiden anderen Seilschaften, auf. Schon entdecken wir über uns die Dreiergruppe mit Bruno Wintersteller. Während ich mich gerade in aalglatten Platten verstiegen habe, dröhnt ein furchtbares Krachen über uns, und im selben Augenblick sausen riesige Blöcke über unsere Köpfe hinweg. Wir drücken uns so eng als möglich an den kalten Fels und warten die Steinsalve ab. Zum Glück wird niemand von den unterhalb kletternden Kameraden von dem Steinschlag getroffen, der durch das Seil der ersten Partie ausgelöst wurde.

Vor uns liegt der kleine, ebene Platz in der Scharte unter der Pyramide Duhavel. Diese Raststätte führt in der französischen Beschreibung den lustigen Namen « Weiberl-Ablagerplatz ». Hier treffen wir mit den Kameraden zusammen und erfahren, dass Bruno eine ernste Fingerverletzung durch den Steinschlag davongetragen hat. Nach einigem Überlegen entschliesst er sich doch, weiter zu klettern.

Wunderschöner Fels leitet uns über Bänder und kleine Wandstufen aufwärts, wobei ein gewaltiger Tief blick auf den östlichen Arm des Glacier des Etançons die Ausgesetztheit der Kletterstellen besonders zur Geltung kommen lässt. Ich bewundere Bruno, wie er fast spielerisch über die schwierigen Stellen höher turnt. Wenn man seine Bewegungen mit den Augen verfolgt, glaubt man fast, mit einem Bein besser klettern zu können als mit zweien. Selbst die verletzte Hand macht er durch ungeheure Geschicklichkeit und eiserne Härte wieder wett. Rasch gewinnen wir an Höhe, und bald haben Traudì und ich das untere Ende des Glacier Carré erreicht. Die nächsten zwei Seilschaften lassen auch nicht lange auf sich warten. Nur Franzi ist mit Werner und Thurl noch immer nicht auf der Querung zu unserem Standplatz zu sehen. Er hat es auch wirklich schwer mit seiner Fotografen-Seilschaft. Nicht nur, dass er filmt und fotografiert, sondern auch Werner fröhnt dem selben Hobby und der dritte Mann im Bunde ist ebenfalls mit einem Fotoapparat bewaffnet.

Auf einem kleinen Felsvorsprung sitzend, legen wir die Steigeisen an und bewundern den klaren Morgen, der sein zartes Licht auf die Berge vor uns legt. Noch haben uns die Sonnenstrahlen nicht erreicht, und die bittere Kälte gebietet uns den Aufenthalt zu beenden. Auf alten Spuren steigen wir in herrlichem Firn aufwärts, in dem die spitzen Zacken der Steigeisen vortrefflich Halt finden. Unvermittelt treten wir aus dem Schatten in das Licht, welches die einzelnen Eiskristalle vor unseren Augen in einen glitzernden Teppich verwandelt. Dem steilen Hang folgt eine ebene Querung. Diesen von der Natur wie geschaffenen Rastplatz benutzen wir, um auf die Kameraden zu warten. Die wunderbarsten Motive zwingen sich uns direkt auf, und die unmöglichsten Verrenkungen werden unternommen, um ja das beste Bild zu bekommen. Doch die vielen Stunden Kletterei vor uns mahnen zum Aufbruch, wollen wir doch heute den Grat bis zum Pic Central überschreiten, und noch ist nicht einmal der Grand Pic erreicht. Am oberen Ende des Glacier Carré empfängt uns noch einmal eisiger Schatten. Ein kalter Wind bläst über die steile Nordflanke herauf. Schnell sind die Steigeisen abgeschnallt und in den Rucksack verstaut. Obwohl der weitere Aufstieg durch Risse vorgezeichnet ist, sind wir uns nicht ganz einig, wo die leichteste Route hinaufführt. Traudì und ich steigen in einer teilweise von Wandstufen unterbrochenen engen Rinne auf, während die anderen ihr Glück weiter links versuchen. Vorsichtig überqueren wir vereiste Stellen, schleichen über wackelige Blöcke, um eine weniger steile Plattenzone zu gewinnen. Traudì klettert sehr sicher und vorsichtig, so dass wir bis zum letzten Aufschwung knapp unterhalb des Grates gleichzeitig aufwärtssteigen können. Vor uns baut sich das « Rote Pferd », wie die Kletterstelle aus rötlichem Granit benannt ist, auf. An diese glatte Platte und die nachfolgende luftige Wandstelle mit den losen Blöcken kann ich mich noch gut erinnern, wo man direkt zwischen den Beinen hindurch auf La Grave hinuntersehen kann.

Damals nach unserer Durchsteigung der Südwand glaubten wir, ganz gemütlich zum Gipfel laufen zu können und waren nicht wenig erstaunt, noch so eine zünftige Kletterstelle knapp vor dem Ziel vorzufinden. Zur Sicherheit schlage ich noch einen Standhaken, und dann beginnt das luftige Höherturnen. Gerwins Rucksack bleibt beim Aufseilen noch einige Male hängen, und es dauert geraume Zeit, bis wir den unförmigen Koloss endlich auf den Standplatz gehisst haben. Jetzt hält uns nichts mehr davon ab, die letzten Meter im gutgriffigen Granit zu erklettern. Um 11 Uhr Vormittag erreichen wir den 3983 m hohen Grand Pic, den höchsten Gipfel der Meije.

Im Norden breitet sich ein grossartiges Panorama vor uns aus. Alles überragend erhebt sich der weisse Mont Blanc-Gipfel als gewaltiger Eckpfeiler des Alpenhauptkammes. Neben dem Monarchen reihen sich die Gipfel der Grandes Jorasses, des Grand Combin, des Matterhornes und des Monte Rosa wie eine riesenhafte Kulisse aneinander. Direkt unter uns liegen die kahlen, schwarzen Hügel, die fast bis in die Talsohle als unbewachsene Schotterfelder hinabreichen. Die kleinen Häuser von La Grave schmiegen sich eng an den Hang, und die Autos kriechen gleich winzigen Punkten über das in den Berg geschnittene Asphaltband.

Nach und nach treffen die letzten Kameraden auf dem Gipfel ein und ein wildes Hin- und Her-fotografieren bringt die ganze Gruppe in Bewegung. « Jetzt müssen wir aber weiter », stellt Bruno auf die Uhr schauend fest. Ja richtig, es ist schon eine Viertelstunde nach Mittag. Zu lange haben wir hier oben gesessen. Wenn man den weiteren Gratverlauf hinüber zum Pic Central mit den Augen verfolgt, so sieht dieser gar nicht so erschreckend lang aus, und man könnte meinen, in ein bis zwei Stunden den spitzen Gipfel erreicht zu haben. Wie ein schräger Riesenzahn ragt er aus dem Grat hervor. Nach Süden bricht dieser mit einer überhängenden Felswand ab, während ein steiles Eisfeld nach Norden zu dem ebenen Gletscher hinunterleitet.

Bruno, Gerwin und Heinz brechen als erste auf und richten die Abseilstelle ein. Dann folgt Werner, der uns filmen will. Hier wird das Abseilen fast zum Vergnügen, obwohl ich sonst ein grosser Feind dieser Abstiegsmethode bin, bei der man zur Gänze den Abseilhaken ausgeliefert ist. Einer nach dem anderen gleitet an den von einem soliden Ringhaken gehaltenen Seilen hinunter. Eine Querung bringt uns in die Scharte, die den Grand Pic vom Dent Zigmondy trennt. Dieser wurde zu Ehren des hervorragenden Bergsteigers Emil Zsigmondy benannt, der bei dem ersten Durch-steigungsversuch der Südwand einem tragischen Unglück zum Opfer fiel.

Senkrecht erhebt sich ungefähr zwei Seillängen hoch der ungegliederte Aufschwung des Dent Zsigmondy, die Schlüsselstelle der gesamten Überschreitung. Nur ein Riss, der nach links in die vereiste Nordflanke zieht, bietet eine Durchstiegsmöglichkeit. Während Werner seine Filmkamera schussbereit hält, klettert Bruno meisterhaft in dem abdrängenden Riss aufwärts. Nun bin ich an der Reihe. Mein Rucksack, der als zusätzliche Last noch das Reserveseil zum Abseilen trägt, drückt mich stark nach aussen, und der griffarme Riss macht mir schwer zu schaffen. Ich bin nur froh, dass Werner filmt und ohnehin Bewegung braucht und nicht wie ein Stehbildfotograf gerade im unmöglichsten Moment sagt: « Bleib doch einmal ein bisschen stehen, das gibt ein erstklassiges Foto. » - Auch die nächste Seillänge bietet erhebliche Schwierigkeiten. Steile Granitplatten, auf denen die wenigen Haltepunkte durch Eis verdeckt sind, erschweren den Aufstieg. Doch das letzte Stück unterhalb des Grates schenkt uns zum Ausgleich wieder so richtig genussvolle Kletterei in steilem, festem Fels. Bald sitzt Traudì bei mir droben auf der luftigen Schneide, während die nächste Seilschaft den kleinen Standplatz in der schattigen Nordflanke bezogen hat. Der Abstieg von diesem Gratgipfel erweist sich als wesentlich gutmütiger als der Aufstieg, und auch das Überschreiten der nächsten Zacken bietet keine allzu grossen Schwierigkeiten. Doch der lange Grat bis zum Pic Central will kein Ende nehmen. Wir holen die vorauskletternden Kameraden auf dem vorletzten Turm wieder ein und geben ihnen das Reserveseil zum Abseilen mit. Nun löst ein mit Eis bedecktes Gratstück die Felsen ab. Das steile Eis zwingt uns zum Anziehen der Steigeisen. Eine tückische Neuschneeauflage erschwert die heikle Querung, auf der überdies keine gute Sicherungsmöglichkeit vorhanden ist. Dicht gefolgt von den zwei jungen Schwaben streben wir dem Gipfelaufschwung zu, während Franzi gerade auf dem letzten Felsturm seine Gruppe filmt. Bruno, Gerwin und Heinz sind unseren Blicken Richtung Gipfel entschwunden.

Die Sonne steht schon tief und lässt aus dem Meer der Gipfel jeden einzelnen noch viel deutlicher hervortreten. Gleich stolzen Burgen ragen sie in mannigfachen Formen aus den dunklen Tälern zum Licht auf. Nur wenige Meter trennen uns noch von dem Gipfel des Pic Central, und bald stehen wir oben und schütteln einander lachend die Hände. Es ist nicht viel Platz auf dem spitzen Gipfel, dessen Ausgesetztheit uns erst jetzt voll und ganz zu Bewusstsein kommt. Unheimlich bricht die überhängende Südwand ins schier Unermessliche ab. Zusammengekauert sitzen wir auf unseren Rucksäcken und warten, an einem Stück Dörrobst kauend, auf unsere Kameraden. Die vorauskletternde Seilschaft hat bereits mit dem Abstieg begonnen. Wir sehen gerade Gerwin, wie er über das letzte steile Eisfeld hinunter zur Randkluft abseilt. Hier droben bläst ein bitterkalter Wind um den Gipfel, und wir können das Eintreffen von Franzis Seilschaft schon nicht mehr erwarten. Endlich sind sie da. Sofort beginnen auch wir mit dem Abstieg über die vereisten Felsen. Zuerst kommen wir durch gestuftes Gelände noch verhältnismässig gut weiter. Doch bald wird unserem Vordringen durch eine glatte Zone vereister Platten ein Ende bereitet. Traudì klettert als erste gesichert hinunter, und wir kommen zu dem Entschluss, hier am besten abzuseilen, da die Kletterei für den Abstieg viel zu schwierig und zeitraubend ist. Ein Haken fährt in den Fels und eine zusätzliche Reepschnur, um einen massiven Felszacken gelegt, gibt eine vollkommen sichere Abseilstelle.Vor mir liegt ein Knäuel eines 40-m-Seiles, dessen Anblick mich Schlimmes erwarten lässt. Tatsächlich ist es ein endloser « Seilsalat », der sich erst nach langen Bemühungen bezwingen lässt. An der nun eingerichteten Abseilstelle herrscht Hochbetrieb. Sechs frierende Bergsteiger warten, um an den fixen Seilen bis in die kleine Scharte fahren zu können. Von hier müssen wir zur nächsten Abseilstelle hinüberqueren. Franzi beginnt schon, diese einzurichten, während ich die Seile von der alten mitnehmen muss. Wir binden wieder zwei 40-m-Seile zusammen und an das Ende des einen noch ein Verlängerungsseil. Mit diesem reichen wir bis über die Randkluft hinunter. Es dauert geraume Zeit, bis ich als Vorletzter unter der Randkluft angelangt bin. Unten im Tal ist es schon stockdunkel geworden, und auch die Eisflanke vor uns liegt schon in der Dämmerung. Franzi fährt gerade als letzter an dem fixen Seil herunter. Er kann nur 40 m abseilen, dann muss er das Seil aus dem Haken herausziehen und über das unterste Stück des Eishanges absteigen. Doch bald steht auch er bei uns auf dem Gletscher. Eiligst verstauen wir die Ausrüstung in unseren Rucksäcken und laufen zur nahen Aiglehütte hinüber. Die Kameraden, die vor längerer Zeit in der Hütte angekommen sind, empfangen uns freudigst mit heissem Tee. Wieder spendet eine kleine Kerze ihr spärliches Licht, genau so wie am Morgen, als wir in der Dunkelheit von der Promontoirehütte auf brachen. Dazwischen liegt ein langer Tag voll Anstrengungen und Entbehrungen. Doch es sind Stunden, die wir nicht missen möchten, die uns zur bleibenden Erinnerung an ein grosses Erlebnis geworden sind.

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