Mein Jahr
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Mein Jahr

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Alfred Graber.

Wissen Sie, liebe Freundin, dass mich Ihr letzter Brief sehr gefreut hat, weil Sie mir und meinem Leben eine so grosse Anteilnahme beweisen. Das ist wahrlich schon viel in dieser schnellebigen Zeit und wenn man bedenkt, dass wir uns ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen haben. Sie finden natürlich, ich hätte Sie durch mein weniges Schreiben stark vernachlässigt, aber Sie fragen mich wenigstens nicht, ob ich durch eine neue Bekanntschaft derart gefesselt sei. Sie fragen nicht, das ist sehr schön und taktvoll von Ihnen; trotzdem möchte ich offenlassen, ob Sie es nicht dachten. Da bin ich nun mitten im Plaudern, und Sie denken sich sicherlich, er ist noch immer der alte, etwas zynisch zwar an der Oberfläche, aber im verborgenen doch liebenswürdig und hie und da sogar sentimental. Es ist aber auch eine Zumutung, die Sie an mich stellen, dass ich Ihnen über mein letztes Jahr berichten soll. Es klingt fast so, wie wenn ich eine Generalbeichte ablegen müsste, um dann vielleicht die Absolution zu erhalten und das « Kehre zurück » zu hören. Ich weiss nun freilich noch nicht, ob ich in nächster Zeit nach Berlin kommen werde. Sie stellten mir ja mündlichen oder schriftlichen Bericht frei und liessen auch durchblicken, dass Sie mich gerne wieder einmal sehen würden. Seien Sie grossmütig, tun Sie diesen Schritt, Sie haben ja mehr Musse als ich. Kommen Sie mit mir Ski laufen, Sie werden die Baisse der deutschen Börse und noch viele andere unangenehme Dinge vergessen. Ich habe mich als Entdecker neuer Skigebiete in den letzten zwei Wintern betätigt; ich kann Ihnen mit erstklassigem « Neuland » aufwarten, wenn Sie es nur wollen.

Sie Kind! Ich musste lächeln über Ihren Brief. Dreimal verwunschen sei dieser Fanck mit seiner sensationellen « Hölle am Piz Palü ». Sie sind entsetzt? Ich glaube es Ihnen aufs Wort, dass Sie mich und überhaupt alle Bergsteiger für irrsinnige Selbstmörder halten mussten, als Sie diesen Film sahen. Wären wir wahrscheinlich auch, wenn es in den Bergen so schlimm zuginge. Sie schreiben, ich soll mich und meine Sache verteidigen ( es ist ja die Sache aller Bergsteiger !). Falls es mir nicht gelinge, dürfe ich keinen Schritt mehr über die Zweitausendergrenze hinaus. Wenn ich Sie auch nur etwas lieb hätte, setzen Sie hinzu.

Also dieser Film! Sehen Sie einmal mit klaren Sinnen hin, was Fanck mit den Bergen anstellt. Begreifen Sie denn nicht, dass er es den anderen Filmmenschen gleich tun will, dass er also Sensationen haben muss, weil er glaubt, dass seine Filme sonst nicht auf das Publikum wirkenSo wenig traut er seinem grossen Können zu !) Was für Erregungen bleiben ihm zu zeigen vorbehalten? Die stete Todesgefahr und die Bewegung in der Natur. Was sich die Berge antun müssen, um all diese verderbenspendenden Lawinen ins Tal zu stürzen! Dieser Piz Palü ist ja ein feuerspeiender Berg. Darf ich Ihnen verraten, dass ich in meinem ganzen Bergsteigerleben zu- sammengenommen kaum so viele Lawinen erlebt habe wie an diesem einen Abend im Kino! Bei Fanck ist das normale der Berg in Bewegung, die Ausnahme dagegen die Ruhe. Und da liegt der Fehler. In Wirklichkeit ist es nämlich umgekehrt. Dann sehen Sie nur zum Beispiel das folgende wunderliche Zusammentreffen von unmöglichen Vorkommnissen: 7. Oktober, Neuschnee ( ein schöner Pulverund Föhn. Da reimen Sie sich nun die Verhältnisse an diesem Berg zusammen. Und schauen Sie sich dann noch die Sensationen der durchaus unrichtigen Bergung in der Nacht mit dem malerischen Fackelschein an, dann müssen Sie ja Bescheid wissen, wenn Sie nur einigermassen berggewohnt sind. Für uns Bergsteiger liegen die Fehler dieses Films natürlich klar auf der Hand, aber für die Berliner? Da kann einer noch zwischen 8 und 10 Uhr abends im schön geheizten, prunkvollen Saal das Gruseln lernen. Dabei will ich eigentlich gar nichts gegen Fanck sagen, denn der kennt die Berge, das können Sie mir glauben. Wenn man die faszinierenden Bilder des Palü sieht in den verschiedenen Beleuchtungen, so erscheint der Berg wie ein lebender Mensch in seinen mannigfaltigsten Seelenregungen. Für diese unvergesslichen Visionen muss man dankbar sein. Und nun wage ich Ihnen auch noch zu sagen, dass ich schon einmal auf dem Piz Palü war vor beiläufig zehn Jahren, dass es gar nicht so schlimm war wie bei Herrn Fanck und dass es Ihnen nun freisteht, mich für einen grossen Helden oder für einen armen Irrsinnigen zu halten. Wahrscheinlich wird die Wahrheit, wie so oft schon, ungefähr in der Mitte liegen.

Dass Sie selbst noch nie grosse Bergfahrten ausübten, um zu sehen, wie es ist — schon aus rein fraulicher Neugierde! Mit dem Skilaufen allein ist es nämlich nicht getan.

Den Bergen bin ich wieder um vieles näher gekommen, trotzdem ich die Sturm- und Drangperiode hinter mir habe. Ich werde Ihnen also aus diesem vergangenen Wanderjahr einiges vorplaudern, weil Sie es sich so lieb ausbaten, und ich will mir Mühe geben, Sie nicht zu langweilen.

An der letzten Jahreswende war ich in Obersaxen. O nein, das liegt nicht dort, wo der Bliemchenkaffee wächst, sondern im Kanton Graubünden, so zweiundeinhalb Stunden oberhalb von Ilanz. Eine Entdeckung natürlich, und keine geringe dazu. Freilich mussten wir auf den von Ihnen so sehr geliebten Komfort verzichten, es gab auch keine Tanztees, Abendroben und schöne Frauen. Aber das suchten wir ja auch nicht. Sie dürfen nicht glauben, dass ich die Bequemlichkeiten im Leben nicht schätze, aber ich messe ihnen keinen unersetzlichen Wert bei. Also, dieses Obersaxen besitzt ein Skigelände, das es fast mit der Lenzerheide aufnehmen kann. Sie wissen ja, was das heisst! Mancher Kurort mit einem wohlklingenden Namen könnte darauf neidisch werden. Drei schöne Skiberge besitzt der Ort: den Piz Mundaun, den Sez Ner und den Piz Titschal.

Auf diesem Piz Mundaun erlebte ich allerhand Schönes — allerdings nur innerliche Dinge: an seinem Grat hinschreiten zu dürfen in der warmen Luft, immer höher in den Himmel hinein, der tiefblau leuchtete, und alles zu vergessen, nur Wandermensch zu sein und verschmolzen mit dem un- geheuerlichen All. Ist es Ihnen noch nie vorgekommen, dass Sie schwindelig wurden, wenn Sie über sich in den hohen Himmel starrten? Ganz urmenschlich wurde mir zumute, fast so, als ob ich eine Naturgottheit anbeten sollte. Etwas, das seine Voraussetzungen weit jenseits des Gegenwärtigen hat, bleibt ja immer an einem hängen, man mag noch so hoch kultiviert sein; ein Überrest aus dem kollektiven Unterbewusstsein der vorangegangenen Jahrtausende, würde C. G. Jung sagen. Glauben Sie mir, mancher, der den vertracktesten Klettergrat furchtlos meistert, ist schon in einer verlassenen Hütte am Berggrat zusammengezuckt, wenn draussen im Dunkel ein Geräusch aufflackerte, dessen Ursprung er sich nicht deuten konnte. Oder wie erstarrt doch jedes Gespräch in der Hütte, wenn man das Klirren von Pickeln hört und den Gang schwerer Tritte, bis die Ungewissheit gelöst wird und jemand durch die Türe tritt. Nun sind Sie sicher neugierig, ob ich in den Bergen schon etwas Übernatürliches erlebt habe? Ich möchte Ihnen beileibe nicht das Gruseln beibringen, aber einmal begegnete mir doch etwas, das ich mir bis heute nicht erklären kann. Sehen Sie, ich bin ganz für eine eindeutige, klare Welt, und ich danke Gott, dass ich von dem sogenannten zweiten Gesicht verschont bin, aber diesen einen absonderlichen Fall, der mir begegnete, möchte ich Ihnen doch schnell berichten, da er eigentlich nichts gespenstiges an sich hatte. Es war vor fünf Jahren im Herbst. Ich fuhr damals mit meinem Wagen ins Heiligtum der Schweiz hinein, in den Nationalpark. Ausgerechnet also auf einer Autofahrt, im flinken « Stahlgrauen », ereignete sich das Unerklärliche. Freilich habe ich das Gefühl, dass bei diesem Erlebnis die Distanz vom Undeutbaren zum Lächerlichen nur eine Fingersbreite war.

Mein Freund M. und ich brausten an diesem heissen, wolkenlosen Nachmittag von Zernez mit dem Wagen den Ofenpass hinauf. Schon ein langer Weg lag hinter uns, aber der Zauber dieser menschenverlassenen Landschaft mit ihren Wäldern und leuchtenden Gipfeln belebte uns von neuem. Hinten aus der Val Cluozza erglänzte die reine, weisse Pyramide des Piz Quatervals, den ich vor manchem Jahr bestiegen hatte. Aber die Kurven der Strasse erheischten bald peinlichste Vorsicht. So ist es klar, dass ich auf alles achtete, was auf dieser Strasse vor sich ging. Als ich deshalb an einer Ecke in etwa zweihundert Metern Entfernung einen Leiterwagen mit Pferd und einem nebenhergehenden Fuhrmann in blauer Bluse sah, gab ich lautes Warnsignal. Der Wagen fuhr in gleicher Richtung wie wir. Noch jetzt sehe ich jedes Detail ganz genau vor mir. Durch Windungen des Weges blieb mir das Gefährt einige Sekunden verdeckt — und nachher blieb es verschwunden. Sie können sich mein Erstaunen vorstellen! Links oberhalb der Strasse steile Hänge, rechts eine Mauer, ein Abgrund und dichter Forst. Es war doch ganz ausgeschlossen, dass der Mann mit Ross und Wagen von der Strasse hätte abweichen können. Ich blickte Freund M. betroffen an. « Also hast du ihn auch gesehen? » fragte er etwas erleichtert, « um so unerklärlicher aber bleibt es! » Ich hielt den Wagen an, stellte den Motor ab. Kein Laut. Nur das Schweigen eines reifeschweren Herbstnachmittags. Was war vor sich gegangen? Waren die überreizten Sinne von einer Fata Morgana genarrt worden? Die Sache liess sich eigentlich gar nicht zu Ende denken. Wir fuhren weiter. Immer herrlicher und verlassener wurde die Landschaft des Nationalparkes. Bald hielten wir in Il Fuorn, mitten in den Bergen und mitten in der Einsamkeit. Es wurde Abend. Die Gipfel glühten stumm und feierlich. Der ewige Wind strich über die Bergerde.Vor dieser grösseren Vision aber vergassen wir die kleinere des Nachmittags. Denn sind die Berge und ihre Schönheit nicht noch viel unerklärlicher als alles andere? « Und ihr Berge, warum seid ihr so schön? » sagt Lord Byron.

Damit, liebe Freundin, sind wir wieder auf einem sicheren Boden angelangt. Und diese Exkursion hernieder ins Land der Fragwürdigkeiten vom weissen Gipfelplateau des Piz Mundaun ist vorbei.

Der zweite Berg von Obersaxen war der Piz Sez Ner. Wir erklommen ihn im Sturm I Über den weiten Feldern des Gratrückens stieg eine finstere Schneewand auf. Es gab ein Rennen zum Gipfel, eine unangenehme Angelegenheit mit klammen Fingern und eine Abfahrt in ein graues Etwas, das keine Bodenwellungen mehr unterscheiden Hess. In einer Alphütte konnten wir endlich unterkriechen. Und das merkwürdigste war dann eigentlich, dass der Sturm auf sich warten Hess: ein paar Schneeflocken fielen, ein paar Windstösse zerzausten uns, und dann war es aus. Auf den Piz Titschal gelangten wir, sei es aus angeborener Faulheit oder aus Unbill der Witterung, leider nicht mehr. Dagegen verlebten wir behagliche Abende in Männergesellschaft beim Kartenspiel oder bei irgendeiner spannenden Lektüre. Das also war Obersaxen.

Sie fragen mich in Ihrem liebenswürdigen Briefe etwas schnippisch, wie oft ich letzten Winter auf « meiner » Lenzerheide gewesen sei. Seien Sie nur ganz ehrlich, Sie gäben viel darum, diese Heide läge irgendwo in der Nähe Berlins. Zweimal war ich oben: im Januar auf Piz Scalottas und Piz Danis, an Ostern auf dem Stätzerhorn und der Crap la Pala. Da betrete ich doch recht bekannten Boden mit Ihnen I Am meisten freute mich, dass ich nun den schönsten Aufstieg zum Piz Danis herausfand. Man steigt in den Sattel zwischen diesem Gipfel und dem Stätzerhorn und klimmt dann direkt über den Grat. Dieser Grat ist einfach göttlich. Zuoberst muss man die Ski wegnehmen und ein wenig turnen ( aber mit den Brettern auf dem Rücken » denn die braucht man später wieder ). Man kann so schön über die dünnen, schmalen Gwächten gucken, und man muss die Füsse fest in den Boden stampfen. Es kommt ja nur auf das Gleichgewicht an. Natürlich, ich weiss schon, was Sie sagen wollen! Für Sie höre der Skilauf an solchen Orten auf. Übrigens nicht nur für Sie, sondern für manche anderen auch. Darf ich Ihnen etwas melden, was Sie vielleicht noch nicht wissen? Die Engländer haben jetzt einen sogenannten « Down Hill Club » gegründet, dessen oberste These lautet: Möglichst nur abfahren und nicht bergansteigen mit den Ski. ( Ich denke mir, dass dieses Prinzip auch manchem Skimädel einleuchten möchte !) Wie man das könne, höre ich Ihre erstaunte Frage? Nichts ist einfacher! Es gibt ja bald so viele Drahtseil-, Schwebe- und Zahnradbahnen, dass dies eine Leichtigkeit ist. Denken Sie sich, Davos möchte sein einzig- artiges Parsenngebiet mit einer Schwebebahn auf die Wasserscheide « bereichern ». Was kann man dagegen tun? Leider nichts — als vielleicht auch einmal hinaufschweben. Welch eine ungeahnte Möglichkeit aber für die « Down Hill Clubmenschen »: ein Aktionsradius mit Abfahrten nach Langwies und ins ganze Prätigau. Im übrigen habe ich mir für einen neuen Winter eine Traversierung der Bündner Alpen auf Ski ausstudiert, die herrlich sein muss und für die ich keine einzige Schwebebahn benötige.

Aber auch die Lenzerheide ist ja Gott sei Dank noch nichts für « Down Hill Clubisten » — ein Kurort ohne eine einzige Bergbahn und doch gut besucht! Übrigens sind wir mittlerweile auf der Spitze des Piz Danis angelangt. Die Ski haben wir freilich nicht vergebens heraufgeschleppt, denn nun gibt 's zur Belohnung eine spannende Abfahrt zur Alp Raschii. Wir klimmen dann wieder zum Sattel empor und erreichen über die so herrlichen Hänge bald die Fünf-Uhr-Teetöpfe.

Henry Hoek, der Wintervater der Lenzerheide, ist immer noch oben und schreibt neue Wanderbriefe an hübsche Frauen wie Sie. Aber Spass beiseite, ich finde, dass Hoek jetzt den wilden Kanton des « Grauen Bundes » so gut kennt, dass man von ihm erwarten könnte, er möchte sich einmal hinsetzen und das Buch schreiben: « Graubünden, was nicht im Baedeker steht! » Er wäre der Mann dazu.

An Ostern fuhren wir, acht Personen, mit allem Zubehör in zwei Automobilen zur Heide. Die Strasse war schneefrei bis oben, aber gerade daneben begann der Schnee. Konnte man es sich besser wünschen? Wir waren sport-tüchtige Leute, die es in den paar wenigen Tagen zu respektablen Leistungen brachten.

Von Zürich aus erprobte ich auch ein paar kurze Sonntagsskifahrten, die mich mir unbekannte Gebiete sehen liessen. So fuhren wir einmal bei —20 Grad über den Ricken ins Toggenburg nach Ebnat-Kappel. Ein böh-misches Dorf für Sie und doch der Ausgangspunkt für den unvergleichlich schönen « Tanzboden », der den einzigen Fehler hat, dass Sonntags allzu viele Leute ( die es nicht immer können ) mit ihren Ski auf seinem gar nicht ebenen Boden tanzen und ihn mit ihren Wappenzeichen schmücken. Es gibt aber auch eine andere und ebenso reizvolle Abfahrt. Dass über neunzig Prozent der Sportbegeisterten den gleichen Weg herunterglitten, den sie emporgestapft, war mir wieder ein Beweis mehr für die Wirkungskraft des Herdentriebes. Wir nämlich fanden einen unzerstörten Pulverschnee, der etwas einzigartiges, einmaliges an sich hatte.

Auch Amden über dem Wallensee war viel schöner, als ich glaubte. Im Blick gegen den mächtigen Mürtschenstock lag das Unvergleichliche eines Abends, den ich dort oben erlebte. Weil man keine Geräusche vernahm, die nicht mit zu dieser Urwelt gehörten, hatte ich plötzlich das Erlebnis der Erde ohne Menschen. Und ich musste einsehen, dass alle die ewigen Vorgänge sich so gänzlich unabhängig vom Menschen abspielen und sich genau so zutragen würden, wenn es keine Menschen gäbe. Die Welt hat für ihren Rhythmus, für ihr Wohl und Wehe uns eigentlich gar nicht nötig. Es war dies nicht demütigend für mich zu denken, sondern befreiend. Leben und Tod wiegen leichter in einer solchen Erkenntnis.

Der Winter war sehr hart bei uns. In der Stadt mass man —24 Grad, im schweizerischen Mittelland sogar bis —37 Grad. In manchen Wintersportplätzen soll es damals sehr still geworden sein auf den Skifeldern. Eines Nachmittags fuhr ich aber trotz der Kälte mit einer lieben Bekannten nach Rapperswil. Von dort wanderten wir über den See zur kleinen Insel Lützelau und dann zur verlassen träumenden Ufenau, ein Name, der unerlässlich verquickt ist mit dem grossen Revolutionär des ausgehenden Mittelalters, Ulrich von Hutten. Diese so ruhige Insel war die letzte irdische Raststätte des Nimmermüden gewesen. Wie wir in diesen Abend hinauswanderten über den verschneiten See hin, da hoben sich die Inseln wie Baumgruppen aus einer endlosen sibirischen Steppe. Die Illusion war vollkommen. Im Dunste hinter uns sahen wir blass wie ein Schatten das kleine Rapperswil mit seinen Türmen und Mauern. ( Sie dienten bis vor kurzem den Nationalheiligtümern Polens als sichere Zufluchtsstätte. ) Die Sonne stand rot im Westen über den hauchdünnen Nebelschleiern, die bereit waren, den See zu überfallen, sobald sich die Nacht über ihn senkte. Können Sie sich das ausmalen: dieser Gang, fremden, halbzerfallenen Spuren nach auf einer riesigen Fläche im nebligen Dunste beim Einnachten? Es war unerhört eindrucksvoll. Kurz vor der völligen Dunkelheit liefen wir schliesslich wieder im sicheren Port ein.

Dass ich auch einmal mit dem Automobil über die gebrechliche Eisfläche hätte fahren sollen ( es gab ein paar, die es getan haben ), dies erwähne ich nur nebenbei. Und dass eine Frau den Antrieb zu dieser vergeblichen Aufforderung, meinen Mut zu beweisen, war, brauche ich das noch zu betonen? Ich lehnte ab, das können Sie sich ja denken, denn sonst hätten Sie mich wirklich einreihen dürfen zu den Bergsteigern in der « Hölle am Piz Palü ». Nein, wissen Sie, in einem geschlossenen Wagen riskieren zu müssen, wehrlos zu ersaufen, das stelle ich mir zu albern vor. Lieber noch von einem eleganten Mercedes « Typ Nürburg » überrannt werden! Wenn es schon sein niüsste.

Eine betrübliche Tatsache möchte ich nunmehr feststellen, liebe Freundin. Wissen Sie, dass ich immer in dem Wahn lebte, anständig skilaufen zu können? Ja, manchmal verlieh ich mir sogar das Prädikat « gut ». Bis... nun, die Geschichte ist nicht lang, bis ich ausgerechnet auf der Rigi entdeckte, dass dem nicht so ist. Ich fuhr mit ein paar Bekannten der bewährtesten Bergsteigergilde die gemütliche Zahnradbahn von Arth-Goldau hinauf bis zum Wölfertschenfirst. Von dort bummelten wir zur Rigi-Scheidegg. Wundervoll ist oder wäre von hier die Abfahrt nach Lowerz, nun — wenn nicht gerade der Föhn und ein prächtiger Bruchharsch Trumpf gewesen wären. Aber meine Leute liessen laufen, als ob der schönste Pulver liege, ich hatte das Nachsehen im eigentlichen Sinne des Wortes und kämpfte einen zähen, verbissenen, aber aussichtslosen Kampf gegen die Bodenverhältnisse. Kurz, ich kam kleinlaut und eher verspätet unten an. Ich war auch der einzige gewesen, der sich zu dieser Unternehmung einen Rucksack verschrieben hatte; bessere Bergsteiger fahren dort mit den Händen in den Hosentaschen!

Nun etwas anderes: Seit über zehn Jahren war ich nicht mehr auf der Rigi gewesen, und ich hätte nicht gedacht, dass man so wundervoll auf den ewigen Vierwaldstättersee zu seinen Füssen blicken könne und dass die Berge ringsum eine so harmonische Landschaft ergeben.

Sie denken sich wohl, dass mit der Osterfahrt auf die Lenzerheide mein Skiprogramm zu Ende gewesen sei? Weit gefehlt. Am Sonntag darauf beschaute ich mir das bevorzugte Skigebiet der Zürcher, den Stoos bei Brunnen. Der Hauserstock mit seinen knapp neunzehnhundert Metern war wirklich hübsch, und am Abend lag eine so eigenartige Stimmung über der Waldlandschaft — mit fast einem Meter Neuschnee. Man sah kein Licht, kein Anzeichen einer menschlichen Nähe — nur eine Spur, und man hörte nichts als das Niederrauschen des schweren Schnees von den Bäumen.

Parsenn! Das A und O jeden Winters. Ja, ich war oben. Jedes Jahr einmal gehe ich hin, diesmal Ende April! Sie können sich gar nicht denken, wie schön es dann noch ist. Der Lärm des Winters ist verrauscht, die Felder und Gipfel beglückend verlassen, und der Odem Gottes hat wieder Zeit und Musse, sich über diesem glücklichen Eiland des Skiläufers auszubreiten. Wir fanden einen wundervollen Schnee zu einer Zeit, da sogar bei Ihnen in Berlin all das blüht, was sich dort überhaupt zum Blühen vorfindet. Verzeihen Sie! Aber ich kann mir einfach nicht denken, dass in dieser Stadt der Frühling noch irgendeine ursprüngliche Bedeutung haben könne.

Drei Tage blieben wir oben. Es war süss, wieder einmal auf einem Gipfel dieser Erde stundenlang verweilen zu können, ohne von einer winterlichen Kälte vertrieben zu werden. Erinnern Sie sich, als wir damals zusammen oben standen, war es doch unheimlich kalt. Ich konnte diesmal, wie man so schön sagt, den Spuren der Erinnerung nachgehen. Ich las pietätvoll Ihren Eintrag im Hüttenbuch, ich nahm den weiteren Weg ins Prätigau am Durannapass vorbei und am Seehorn. Ich rastete auf dieser so einzigen Alp Duranna und fluchte dann wieder ein wenig über den Conterser Wald. Jetzt habe ich etwas bei Ihnen angetippt, etwas Gewesenes geweckt, auf das Sie stolz sind. Und während Sie die Tenniskämpfe um den Davispokal betrachten und sehen, wie Prenn und Froitzheim Ihr Land verteidigen, während Sie sich unbändig freuen über Kraft und Geschicklichkeit und über die harte Fahrt dieser kleinen, weissen Bälle, da wird vor Ihrem Herzen plötzlich eine schneeweisse Firnkuppe aufsteigen, und Sie werden in einer beglückenden Vision sich selbst sehen, wie Sie durch das weisse All pfeilen. Sie werden sich erinnern, wie befreit Sie von allem waren, was Sie in Berlin als etwas wichtiges quälte vom Dawesplan bis zur Abendrobe. Was aber vor Ihrem Innern so ungestüm auftaucht, das ist Parsenn, ein Traum von Sonne und Schnee und eine ewige Sehnsucht des Herzens.

Pfingsten nahte heran. Am Freitagabend um 11 Uhr entschied ich mich, die Skitur ins Berner Oberland mitzumachen, die der alte Skiklub Zürich unternahm — statt mit dem Wagen nach München zu fahren! Nun, ich hatte es nicht zu bereuen. Es war Ende Mai. Ende Mai, denken Sie bei sich, und immer noch hat dieser Skilauf kein Ende. Aber vergessen Sie doch nicht, dass man eigentlich das ganze Jahr skilaufen kann, vor allen Dingen auf dem Jungfraujoch, dem wir diesmal zustrebten.

Der Auftakt war zweifelhaft. In Interlaken regnete es beharrlich, auch der verbissenste Optimist hätte nicht an einen oder zwei Tage schönen Wetters gedacht, die wir zum Gelingen unserer Fahrt unbedingt nötig hatten. Von der Wengernalp an wandelte sich der Landregen in einen wundervollen Schneefall, und bei der Scheidegg standen wir schon inmitten einer hochwinterlichen Landschaft. Auf dem Eigergletscher, wo wir gute Unterkunft fanden, war es ebenso. Wir übten ein halbes Stündchen im allerschönsten Pulverschnee, dann sassen wir gemütlich beisammen, mitten unter uns Victor de Beauclair, der Gründer des Klubs, und der Direktor der Jungfraubahn. Weil sich ausserdem noch eine Tanzmöglichkeit bot, so dehnte sich der Abend ziemlich lange aus, aber da wir im festen Glauben lebten, am nächsten Tag sei doch nichts Besseres zu tun als eine bescheidene Tur im Nebel zum Lauberhorn, so gaben wir uns dem Trubel willig hin. Es schneite immer weiter.

Es schneite auch am folgenden Morgen früh um 6 Uhr, als Tagwacht geblasen wurde. Also doch zum Joch. Mürrisch packten wir die schweren Säcke, nahmen die Ski auf und verstauten beides in den ersten Dienstzug der Jungfraubahn. Unsere Karawane bestand aus sieben Klubisten, Victor de Beauclair und zwei jungen Zwillingsschwestern, Freunde unseres Gründers.

Dann begann die Fahrt durch den langen Tunnel. Auf Eismeer gab es ein paar Lichtblitze, auf dem Joch schneite es wiederum. Wir lagen etwa zwei Stunden still, um uns an diese Höhe von 3400 Metern, in die wir so unvermittelt gebracht worden waren, zu gewöhnen. Nachher verliessen wir trotz des Nebels die Station durch den fünfhundert Meter langen « Sphinxstollen », der einem Bergwerksgange gleich mitten auf den Jungfraufirn hinausführt.

Nach dem Druck im Stollen tat die freie Luft besonders wohl. Wir stiegen langsam — ohne irgendwelche Packung — zum Oberen Mönchjoch. Zu sehen war nichts, aber die Abfahrt stand im Zeichen des Hochwinters: ein untadeliger Pulverschnee, der uns natürlich dazu verleitete, noch tiefer als das Joch abzufahren. So mussten wir einen recht mühsamen Wiederanstieg in Kauf nehmen. Da sich das Wetter nicht besserte, vergingen die nächsten Stunden im Abwarten. Wir hatten also Musse, das flott eingerichtete Berghaus zu besichtigen, und schnell betraten wir auch den Scheitel des Joches. Mittlerweile war auch etwas Publikum eingetroffen — darunter eine Pariserin, deren « Fifi » ( Sie wissen natürlich, dass dies ein Hund ist !) sich auf dem Joche kläglich genug benahm. Das mondäne Publikum fühlt sich hier nicht so ganz zu Hause, wenn es mitten in Schnee und Eis Bergsteiger sieht, die bereit sind zu allerlei Taten, und andernteils fühlen sich die Bergsteiger auch nicht ganz behaglich wegen der all zu vielen anderen.

Übrigens muss ich Ihnen nun doch noch sagen, was wir von hier aus eigentlich unternehmen wollten: Abfahrt zum Konkordiaplatz, Aufstieg zur Lötschenlücke, Besteigung der Ebnefluh und Niedergleiten ins einzigartige Lötschental. Ich habe auf dieser Fahrt wieder einmal den Genuss ausgekostet, passiv sein zu können. Da waren andere, die die Entschlüsse für uns fassten ( um 3 Uhr nachmittags wusste man noch nicht, was gespielt werden sollte ), und wir hatten nur mitzutun. Gegen halb 4 schien die Sonne etwas, und nun wurde der Aufbruch beschlossen. Einer nach dem andern schossen wir aus dem schwarzen Loch auf den Jungfraufirn. War das eine herrliche, einfache Abfahrt im weitausladenden Gelände! Nur zu bald war der Konkordiaplatz erreicht. Sicherlich kennen Sie den « Place de 1a Concorde » in Paris. Nun, der ist von Stecknadelgrösse gegenüber diesem Gletscherzirkus.

Wir wandten uns gegen rechts zum Grossen Aletschfirn. Zu sehen war bald nichts mehr. Der Nebel fiel über uns her, und ein hartnäckiges Schneetreiben brachte uns nur zu gut wieder zum Bewusstsein, dass im Hochgebirge eigentlich ein ewiger Winter herrscht. So marschierten wir in langer Kolonne einen eintönigen Marsch. Voran ging Victor de Beauclair. Der schwere Sack begann zu drücken, das Gehirn war müde von den vielen Ereignissen des heutigen Tages. Schliesslich wurde eine Rast eingeschoben und dabei Mutmassungen ausgetauscht über die Zweckmässigkeit der eingeschlagenen Richtung. Kann man schliesslich ein paar albernen Gedanken den Eingang verwehren, wenn man seit Stunden in einem weissen Brei herumtappt? Ob man wirklich wieder einmal aus diesem Schlamassel herauskommt? Ob ein Schneesturm einem gelinde hinüberbefördern wird?

Da plötzlich teilte sich der Nebel. Es war wie ein Vorhangziehen, und die Viertausender standen vor uns, als ob sie schon Stunden im hellsten Sonnenlicht gegleisst hätten. Es wurde ein wirkliches Wunder, eine Offenbarung, die noch schöner war, als wenn man die Berge vorher langsam näherkommen und anwachsen sieht. Fern am Grat ein Punkt: die Egon von Steigerhütte, hinter uns die Zickzacklinien unseres bisherigen Weges; auch mit dem Kompass beschreibt man noch recht merkwürdige Irrwege. Ich muss Ihnen sagen, dass mir die Berge zu dieser Stunde wiederum zu einem erschütternden Erlebnis wurden, sie wuchsen weit hinaus über alle bergsteigerischen Wertungen zu grösseren Erscheinungen, deren inneres Erfassen nicht durch ein blosses Ersteigen erzwungen werden konnte. Die Berge besitzen eine Da-seinsform, die für uns schlechterdings nicht zu ermessen, nur zu bewundern ist.

Es war dann noch recht weit bis zur Steigerhütte ob der Lötschenlücke. Dieses Hüttchen ist klein, feucht und eng, aber der Blick durch das verschattete Tal hinaus auf Bietschhorn und Mont Blanc versöhnt mit diesen Unzulänglichkeiten.

Um halb 5 Uhr schon war Tagwacht. Der Himmel wolkenlos. Es galt der Ebnefluh. Ein wirklich herrlicher Skianstieg und als schönste Beigabe der Blick auf das dämonische Aletschhorn. Bis fast zum Gipfel konnten wir mit den Ski, nur ein letztes, mässig steiles Gratstück legten wir zu Fuss zurück. Sie stellen sich unter einer « Ebnen Fluh » wahrscheinlich nicht einen Berg vor mit 3964 Metern Höhe, von dem man direkt auf die schluchten-tiefen Rottalabstürze der Jungfrau blicken kann. Ringsum nur Berge — und sehr hohe Berge mit klingenden Namen. Ich werde Sie nicht damit belästigen — nur das Finsteraarhorn lässt Sie grüssen. Erinnern Sie sich, dass Sie diesen Berg wegen seines Namens einmal sehen wollten? Kommen Sie mit mir hierher. Sie werden dann dem König der Berner Alpen so huldigen wie ich.

Die Abfahrt zur Hütte war traumhaft gelöst. Man konnte mit diesem Schnee beginnen, was man wollte, so gut war er. Nach einer kurzen Pause ging es bei Mittagshitze lötschentalwärts. Erst drohten die Abstürze und Couloirs des Sattelhorns in unseren Weg herein, später war eine ansehnliche Zahl von Spalten kunstvoll zu umfahren. Einmal klatschten zwei kopfgrosse Steine zwischen mir und dem Vordermann durch. In einer Stunde hatten wir eine Strecke durchmessen, für die man im Aufstieg über fünf Stunden benötigt.

Wie tat diese Fafleralp uns wohl! Wie schritten wir unbeholfen auf dem weichen Gras dahin, wie staunten unsere Augen ins gedämpfte Grün der Landschaft. Können Sie begreifen, dass die Hälfte unserer zehnköpfigen Gesellschaft an diesem so unbeschreiblichen Erdenfleck hängen blieb? Ich natürlich damit! Wir setzten uns zu einem letzten Trunke mit den Abschiednehmenden zusammen, der alte de Beauclair war bester Laune und seine zwei jungen Kameradinnen, die sich so tapfer gehalten hatten, auch. Wie wenig doch der Mensch seine Geschicke kennt! Es war das letzte Mal, dass wir de Beauclair sehen sollten. Mitte August stürzte er mit einem dieser Zwillinge am Matterhorn zu Tode. Sehen Sie, es ist Bergsteigerschicksal — vielleicht wird es auch einmal unser Geschick sein, und es ist eigentlich nicht einmal das schlimmste. Wir wissen ja nie und nirgends, wann einmal jene letzte Drohung auf uns lauert. Und trotzdem hat es keinen Wert, seine Wege mit Vorsicht auszuwählen.

Wenn ich jetzt aber sage, dass ich und die sie gekannt haben, diesem Manne und diesem Mädchen ein gutes Andenken bewahren werden, so ist dies keine Phrase, wie man sie so oft lesen kann, sondern es ist wirklich wahr. Wir wollen nicht vergessen in unserer schnellebigen Epoche, wir müssen die Zeit finden zu einem trauervollen Innehalten und zu jener höchsten Besinnung, wie sie uns der Tod eines Menschen eingeben soll. Wir Bergsteiger halten uns eine treue Erinnerung, das dürfen Sie mir glauben. Wenn man miteinander durch Schnee und Eis und Fels gegangen, ist dies nicht anders möglich. Liebe zu den Bergen und gemeinsames Kämpfen in der Gefahr ist unter Männern die schönste Bindung. Ich könnte Ihnen ein hohes Lied singen auf die Kameradschaft der Berge.

Die Schweiz war Victor de Beauclair, einem ursprünglichen Brasilianer, eine zweite Heimat. Er war ein anerkannter Pionier des Skilaufs, ein bewährter Ballonführer, dem mit dem Ballon « Cognac » vor über zwanzig Jahren die erste Überfliegung der Berner Alpen gelang, eine unerhörte Tat damals. Man sieht auch hier wieder, wie leicht vergesslich die Zeit ist — kannten Sie etwa dieses Ereignis, von dem damals ganz Europa sprach?

Amüsant war, wie ich de Beauclair vorgestellt wurde. Sie erinnern sich wohl auch, dass unser lieber Präsident B. etwas überschwänglich werden kann, er holte zu meinem Lobe in irgendwelchen walhallischen Höhen aus ( Sie wissen auch, dass dies mir peinlich ist, weil ich — in dieser Hinsicht wenigstens — eher bescheiden bin ). De Beauclair antwortete hierauf trocken, wie er nun einmal war: « Es freut mich, Sie kennen zu lernen, aber im übrigen: von der alpinen Literatur halte ich nicht viel — ich lese sie kaum. » ( Unter uns gesagt: ich auch nicht. ) Dieses männliche Wort machte mir den Mann sympathisch, und wir unterhielten uns ein paarmal kurz und gut. Von alpiner Literatur war wohltuenderweise nie die Rede.

Jetzt deckt den grossen Stürmer von einst der kleine Grabhügel, und der Mensch der Tat ist stille geworden. Er ist uns vorangegangen, wenn man auch nicht sagen könnte wohin. Liebe Freundin, haben Sie nicht auch schon die Beobachtung gemacht, dass uns das Leben leichter und immer weniger wichtig wird, wenn so viele Menschen, die wir gekannt, geschätzt oder geliebt haben, weggehenEin köstlicher Ruhetag war uns auf der Fafleralp noch beschieden. Von einem kleinen Seelein aus blickten wir auf die Eisflanken von Breithorn und Bietschhorn, Eisflanken, die im scheidenden Lichte jenen überirdischen Glanz annehmen, der einst den Sänger dieser Berge, den unvergesslichen Hans Morgenthaler, dazu antrieb, sie zu besingen: Es waren seine Eisflanken, die er in der « Letzten Fahrt » unsterblich schön erschaffen hat.

Man hat dem Lötschental oft das Prädikat des allerschönsten Alpentales zuerkannt. Ich möchte es unterschreiben von Fafleralp bis Blatten; Diesen Friedhof in Blatten kann ich nicht mehr vergessen. Ich stand still beim Kreuz der zwei im Jahre 1895 verschollenen Engländer, die an dieser Stelle zum letztenmal gesehen wurden. Wo mögen Sie liegen? Niemand hat sie gefunden, niemand weiss es. Sie zogen aus und kehrten nicht mehr zurück. Ihr Grab muss einer jener so makellos leuchtenden Berge sein, die gewaltig trotzend im Kreise umherstehen. Wie ich die inhaltschweren Worte « Lost in the mountains » las, da schien mir, als ob sich das Licht dieses jubelnden Frühlingstages plötzlich verdunkle. Irgendwo stand der lauernde Dämon der Berge Wache, irgendwo verborgen war ihr zweites, grausames Gesicht.

Skiende am 16. Juni mit dem Griesstock. Von dieser Tur sollte ich eigentlich nicht viel Worte machen. Sie liegt gar zu verlockend vor den Toren Zürichs — und einem jeden, der über ein Benzinross verfügt, leicht erreichbar, sobald der Klausenpass geöffnet ist. Diesmal war Freund B. mit seiner Braut dabei, die Sonne glühte auf den 2666 Meter hohen Gipfel hernieder, und die Grossen im Umkreis vom Klaridenstock zum Scheerhorn und zur Grossen Windgälle hatten ihren Feiertag. Übrigens, haben Sie schon etwas von den sogenannten Nordanstiegen in der Windgällengruppe gehört, bei denen die Zürcher Akademiker bahnbrechend wirkten? Fahrten in den Nordwänden von Gross Ruchen, Pucher, Höllenstock usw. stehen jedem Bergsteiger wohl an. Die Abfahrt von unserem Griesstock war wegen des weichen Schnees recht sanft, der Ausklang fand zwischen Alpenrosensträuchern statt, in denen der Schnee sich langsam verlor.

In Arosa war ich dann ein paar Tage. Keine einzige Bergtur führte ich aus, ich schrieb und faulenzte, fuhr einmal den unverwüstlichen Sänger und Skiläufer Hans Roelli auf meinem « Stahlgrauen », der ihn sehr interessierte, spazieren. Roellis Lyrik liebe ich sehr. Ich kann es sonst nur noch von Rilke und Hermann Hesse sagen. Dies mag ihm ein schönes, aber verdientes Lob sein. Von Arosa unternahm ich einmal einen Abstecher nach Locamo über die allerherrlichsten Pässe, den San Rernardino und den Lukmanier. Weshalb ich dorthin fuhr, das muss ich Ihnen einmal mündlich berichten, jedenfalls nicht, um zu sehen, wo sich die Grossen der Weltgeschichte zu ihrem « Locamo » zusammensetzten.

An einem späten Abend steuerte ich dann von Arosa ebenenwärts, ich muss es sagen, mit schwerem Herzen. Zeit zu melancholischen Betrachtungen blieb mir zwar nicht viel. Wenn ich Ihnen verrate, dass die Strasse bis Chur hinunter annähernd dreihundert mehr oder weniger ausgeprägte Kurven besitzt, so werden Sie es vielleicht begreifen.

Als es einnachtete, war ich am Kerenzerberg in Obstalden über dem Wallensee. Den Ort sollten Sie einmal in einer solchen Stimmung sehen. Ich glaube, Sie müssten diese Landschaft lieben. Man sitzt im Garten des Gasthauses so nah mit jener Welt verbunden: dem Wildwasser, das jenseits des Sees von den Felsen tost und herüberdröhnt, den düsteren Felszacken ohne Schnee und dem apfelfarbenen Himmel, der sich darüberwölbt.

Nun sind wir doch so allmählich mitten im Sommer drin. Sie kennen meine Vorliebe für abgelegenere Berggebiete. Besonders bevorzugte ich in den letzten Jahren Splügen.

Von Thusis her stürzt sich die Passtrasse in die berühmte Viamala, eine Schlucht mit schwindelnden Tiefenmassen. Dann aber beginnen bald die einzig wunderbaren Wälder des Hinterrheintales. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie diese weit sich hindehnenden Waldwipfel auf mich wirkten, als ich aus der heissen Stadt kam. Aber das schönste am Wege nach Splügen ist, dass plötzlich an einer Wegbiegung — man weiss nie mehr an welcher, wenn man wiederkommt — über dem Tosen des Baches der Felsklotz der Splügener Kalkberge auftaucht.

Splügen. Einer der lieblichsten Orte Graubündens. Er besitzt einen Hauch von gottgewollter Verlassenheit, von Grossartigkeit der Bergnatur und von intimer Stille. Der mässige Autoverkehr kann hier nicht stören. In der Herberge des Bodenhauses ist man geschätzt und wohlgeborgen. Was aber seinen seltenen Reiz hat: man muss an einem Abend die letzten elf Kilometer dieses Tales weiterfahren, dann erblickt man über herrlichen Wäldern die Gletschereinsamkeiten des Rheinwaldhorngebietes, unvergesslich, wenn darauf die Abendschatten spielen und die drohenden Wände sich dem letzten Licht entziehen.

Am frühen Morgen zogen wir unseren Wagen aus dem Stall und fuhren zum Berghaus am Splügenpass. Leichte Wolken schwebten über uns, als wir uns über das steile Geröll zu einem kleinen Seelein bemühten, in dem sich alle Heiterkeit einer tiefen Klarheit spiegelte. Die Splügener Kalkberge und der schlanke Piz Tambo umstanden es schützend. Weiterhin war der Weg zum Surettahorn eine Zeitlang eintönig bis zur Grathöhe des Suretta-sattels, auf der wir dankbar Ausschau hielten auf eine neue Welt von Bergen.

Dann nahmen wir die Firnhänge links des Felsgrates in Arbeit. Ein paar Spalten umgingen wir, die Hände oft tief im Schnee vergraben. Ist es nicht ein herrliches Gefühl, mitten in einem heissen Sommer so erbärmlich frieren zu können? Der bald erreichte Grat war dann leicht, und auf dem Gipfel, 3033 m, wurde eine lange Rast gehalten. Eine Menge verstreut liegender Patronen wiesen darauf hin, dass sich unsere südlichen Nachbaren auch gern mit Maschinengewehrübungen auf den Grenzgipfeln beschäftigen. Zum Abstieg begingen wir den Grat in seiner ganzen Länge. Sie hätten dabei den blonden Artur an der Arbeit sehen sollen! Er ersetzte das mangelnde Können durch eine riesige Begeisterung und löste einen mächtigen Steinschlag, vor dessen Wirkung die andern durch ein wirklich gütiges Geschick bewahrt wurden. Die letzten dreissig Meter über dem Sattel ergaben eine flotte Kletterei, gewürzt durch das Intermezzo eines an seinem Rucksack beinahe aufgehängten Kletterers. Wer dies war, verrate ich Ihnen diesmal nicht.

Beim Berghaus wurden wir vom schweizerischen Grenzwächter begrüsst, der uns empfahl, falls wir wieder Fahrten in diesem Gebiet unternehmen würden, bis zur Passhöhe des Splügenpasses zu fahren und uns mit den Italienern in ein freundliches Einvernehmen zu setzen, denn diese hätten einmal vor nicht zu langer Zeit eine Partie am Surettahorn durch Warnungsschüsse gestellt, Ja, sehen Sie, solche Risiken läuft man in unseren Grenzgebieten. Sie werden es darum begreifen, dass Freund Artur erleichtert aufatmete. Er hatte das Gefühl, einer nicht unbedeutenden Gefahr mehr entronnen zu sein. Es war ihm schon genug, dass seine Beine Beulen trugen vom harten Fels. Als Zielscheibe aber zu dienen für blaue Bohnen, das hätte er in seinem Ärger vielleicht gar nicht überlebt.

Splügen ist übrigens auch ein ganz ausgezeichnetes Skigebiet, das von Freund B. und mir seinerzeit « entdeckt » wurde. Wir durchstreiften es nach allen Richtungen der Windrose. Wir haben manches Bleibende mit uns getragen. Wollen wir den nächsten Winter dort verbringen? Ich glaube, wir wären sehr gut aufgehoben im Bodenhaus.

Das Ereignis des Bergsommers war für mich der Piz Linard. Dass er mit seinen 3414 Metern Höhe eine der schönsten Bergpyramiden und das Wahrzeichen des Unterengadins ist, können Sie in jedem Reisehandbuch lesen. Damit allein war mir nicht geholfen, Gott sei Dank. Für mich war dieser Berg etwas ganz anderes: eine beglückende Fahrt, wie ich sie noch selten erlebt habe. Wir kamen über den Flüelapass daher nach Lavin, wo wir mit aller Mühe einen Unterschlupf für den « Stahlgrauen » fanden. An einem heissen Gewitternachmittag stiegen wir den steilen Weg zur Linardhütte hinauf. Eine Beschreibung des Hüttenlebens kann ich Ihnen wohl ersparen, es genügt zu erwähnen, dass am gleichen Abend noch eine Gruppe von dreizehn Buben und Mädels eintraf und einen Höllenlärm verführte. Es wurde gesungen bis 11 Uhr nachts, dass es eine Freude war, und von 3 Uhr morgens an wiederum. Und dabei konnte man den Mädels nicht einmal böse sein, denn um 4 Uhr stand die ganze Gesellschaft wohlgeordnet vor unserem Schlafabteil und brachte uns einen dampfenden Kakao.

Morgens um 5 Uhr bei wolkenloser Dämmerung brachen wir auf und wanderten über Geröll zur Glimslücke. Dann wurde der sogenannte Südpfeiler in Angriff genommen. Der wurde mit der Zeit recht steil und exponiert. Ach, liebe Freundin, entweder bin ich schon eingerostet und allem Alpinismus strengster Observanz entwöhnt, oder dann ist der liebe Kollege Walther Flaig — wohl einer der besten Kenner der Berggruppe — ein sehr grosser Optimist. Er schrieb nämlich einen Führer über dieses Gebiet. Ich hatte ihn in der Tasche und war bass erstaunt über Führer und Wirklichkeit. Ich kann mir die Sache nur so erklären. Wahrscheinlich haben wir überklettert auf diesem Grat, was wir hätten umgehen sollen, und umgangen, was wir über die Kammhöhe hätten erzwingen müssen. Der Grat war auch um einiges länger als bei Flaig — er war die berühmten sieben Grattürme lang, er wollte und wollte nicht enden. Ich musste mir schliesslich sagen, auch in den Bergen gibt 's noch ganz andere Kerle als du, die machen keine Faxen. Aber Spass beiseite. Dieser Aufstieg war für mich etwas vom schönsten, das ich in den Bergen kenne. Die Abgründe gegen links hätten Sie sehen sollen. Einmal stand ich an steiler Gratkante, nach Westen Plattenschüsse in eine unberechenbare Tiefe, als ein Flieger am nördlichen Horizont auftauchte. Dieses Flugzeug schien aus dem unvorstellbar weiten Luftraume direkt auf mich zuzuschwimmen. Ich musste mich abwenden von dieser Vision und die Hände am Fels verkrallen, nur um zu fühlen, dass nicht auch ich im Haltlosen schwebte. Was hätte ich in diesem Moment darum gegeben, in jenem Flugzeug zu sitzen, das so gewiss seine hohe Bahn durch die brausenden Winde weiterzog! Allmählich verstummte der Lärm und der kleine, schwarze Punkt löste sich am Horizont in der blauen Ferne auf.

Ein paar Quergänge — ein steiles Auf und Ab — nahmen wieder unsere ungeteilte Aufmerksamkeit in Anspruch. Wie schön und reich aber ist doch das Leben in seiner Bedrohung durch das Nichts. Wie wird es als wertvolles Geschenk empfunden, wenn man es aus freien Stücken in die Schanze schlägt und darum kämpfen muss.

Nach sechs und einer halben Stunde ( fünf Stunden waren wir im Fels ) kamen wir zum Gipfel. Es war eine mittägliche, versonnte Ruhe und ein grosses Schweigen. Wir hatten die Rast verdient. Der Blick öffnete sich unermesslich, im Südwesten glitzerte das Eisgeschmeide der Bernina.

Den Abstieg nahmen wir über den gewöhnlichen Weg. Bei der Hütte wurden wir mit Tee bewillkommt.

Gegen diese Fahrt war der Altmann durch den Schaffhauser Kamin eine angenehme Abwechslung und Unterhaltung. Vom Gipfel blickt man weit hinaus gegen den Bodensee. Es war der Tag, da der « Graf Zeppelin » von seiner Weltreise in Friedrichshafen landete. Aber wir waren leider zu spät oben, um diesem historischen Akt aus der Ferne beiwohnen zu können. Dafür schliefen und faulenzten wir gehörig auf diesem Gipfel und freuten uns animalisch am Leben.

Wenn ich Ihnen noch gestehe, dass ich im Herbst eine kurze achttägige, aber ergiebige Italienreise vollführte, so werden Sie mich einen Schlemmer nennen. Ich lasse darum nur ein paar kurze Bilder wie Filmstreifen aufblitzen: das hohe Stilfserjoch mit der Dreisprachenspitze, der ewig klare Karersee, die durch abendliche Nebel verschleierte Vision des Cimone della Pala vom Rollepass aus, der viel zu unbekannte Passo Broccone, das einzige Riva, die engen Kurven nach Madonna di Campiglio, der Passo Tonale mit der Düsternis der Adamelloberge. All dies aber überglänzte am letzten Tage das Leuchten eines schweigsamen Herbsttages am Fusse der ewigen Bernina.

Und schliesslich, als längst der Oktober ins Land gezogen war, fand man uns wieder auf dem Lukmanier. Wir zogen im steten Landregen zur hochgelegenen Cadlimohütte. Als es Abend wurde, begann es zu schneien, und nun setzte ein vierzigstündiges, ununterbrochenes Schneetreiben ein bei Sturmwind und empfindlicher Kälte. Man kann so schön nachsinnen über die verschiedensten Dinge des Lebens, wenn man tatenlos in einer solchen Hütte sitzt. Man kehrt mühelos zu den primitiven Dingen zurück: frieren, kochen, essen. Schliesslich mussten wir froh sein, durch den tückischen Nebel und Schnee hindurch das sichere Tal wieder zu finden. Ich habe viel an Sie gedacht in jenen Stunden.

Jetzt brausen die Winterstürme. Der Schnee grüsst schon nahe unter dem fahlen Grau des Himmels. Bald kann man wieder zu den Ski greifen. Sehen Sie, so drehen sich die Jahre fast unmerklich. So endet und beginnt alles ohne Unterlass. Ich will nicht fragen, was das neue Bergjahr mir bringt, aber ich freue mich darauf.

Nun bin ich am Ende. War ich unterhaltsam oder langweilig? Werden wir über alle Dinge, die in diesem Briefe ungesagt blieben, bald sprechen können? Ich hoffe, dass Sie auch diesen Winter ein paar Wochen in der Schweiz verbringen. Glauben Sie mir: Es würde mich sehr freuen, wieder einmal ein paar Tage gemeinsam mit Ihnen zu wandern.

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