Memento Vivere
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Memento Vivere

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON HERMANN KORNACHER, MÜNCHEN

Erst am anderen Morgen haben sie ihn gefunden, viele hundert Meter unter dem Grat, auf dem er seine letzte Fahrt getan. Fast wie ein Schlafender lag er im Gras. Vom Frühtau benetzt glitzerten schlanke Grasrispen im Schein der schrägeinfallenden Morgensonne. Unweit standen ein paar grauweisse Edelweisssterne, längst schon verblüht - und doch so stolz. Weiter droben am Hang fand man dann auch den Freund, das Seil, das ihn in den Tod gerissen, um die Brust gebunden. Wenn sie auch der schreckliche Sturz nicht sehr entstellt hatte, so mussten sie beide doch sofort tot gewesen sein.

Letzte Rast nach schwerer Fahrt im Fels! Gibt es einen schöneren Tod als diesen? So ohne Schmerz und qualvolles Leiden mitten aus dem schönsten Tun gerissen werden, mit einem allerletzten Blick die ragenden Berge in der Runde umfassen und dann fallen?

Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Ewigkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält. ( Rainer Maria Rilke ) Den schweren Weg, den die zwei Freunde gehen mussten, sind sie nun zu Ende gegangen. Für immer. Ob es der richtige Weg war, wir wollen heute nicht mit Worten darüber streiten. Sind wir denn nicht alle noch unterwegs, sind wir nicht alle Wanderer nach einer Heimat? Und: Wissen denn wir, ob wir auch immer auf dem richtigen Wege sind? Wer weiss das so genau? Eins aber bleibt: Der Freunde Tod! Und dieser plötzliche, von allen nicht vorhergesehene Tod ist uns Überlebenden eine bitterernste Mahnung: Memento mori! Denke daran, dass auch du einmal deinen Weg zu Ende gehst. Vielleicht heute noch oder morgen? Wir wissen es nicht. Es muss ja alles vergehen, auch die grossen Berge. Ja gerade auch sie, die uns für alle Ewigkeit errichtet zu sein scheinen. Auch sie, die Berge, sind vom Verhängnis des Untergangs bedroht, der letzten Endes das Schicksal aller irdischen Dinge ist.

Doch der oft so niederdrückende Gedanke der Vergänglichkeit ist nicht zu Ende gedacht, solange er nicht den Aufblick zu neuer Kraft und zu neuer Lebensfülle bringt. Und die Erinnerung, auch sie ist nicht wahrhaft durchlebt, solange sie nicht mündet in das unverbrüchliche Wissen um die Kraft, die zuletzt auch den schmerzlichsten Verlust überwindet. Sie denkt wohl an das Leben, das verschwand, scheinbar unwiederbringlich. Aber mit ihren Herzgedanken gedenkt sie doch auch all der Auferstehungen und vielhundertfältigen Wiedergeburten, Erneuerungen und Rettungen, die sich im Leben des einzelnen Menschen wie im Leben der Gemeinschaften immer wieder begeben haben. Und gerade darum ist nicht das « Memento mori! » die eigentlichste Botschaft der toten Freunde, ja aller Toten überhaupt, sondern ihre Botschaft an uns ist das frohe und alle Lebenden tief verpflichtende « Memento vivere! » Gedenke zu leben!

Freilich ist damit nicht das zügellose Sichausleben gemeint, das fieberhafte Jagen nach Genuss und vermeintlichem Glück. Im Gegenteil: Das Leben ist unsere schwerste und doch auch wieder unsere schönste Aufgabe. Und den Tod fürchten in Wirklichkeit nur die, die mit dem Leben nicht fertig geworden sind. Leben heisst anfangen, immer wieder von vorne anfangenLeider hat es heute manchmal den Anschein - und nicht nur den Anschein! -, als stünde ein Menschenleben nicht mehr allzu hoch im Kurs. Heute, da jede Stunde uns hundertfachen Tod bringen kann und wohl jeder von uns dem Tod schon ins Auge geschaut hat.

Was ist uns heute noch das Leben wert? Ist es denn nicht im Grunde sinnlos, in diesem tobenden Chaos um uns noch länger dahinzukümmern? Der Tod ist ja so leicht zu haben. Und dann? Ja, dann ist es halt aus! Und wenn es schon sein soll, wäre dann nicht unter allen der Bergtod der allerschönste?

Nein, und abermals nein! Wir wollen das Leben trotz alledem lieben, dieses wunderbare, reiche und gütige Leben. Wir Bergsteiger wissen, dass wir es gerade da am stärksten leben, wo es am unmittelbarsten von der Gefahr bedroht ist. Es sind die Grenzsituationen, die uns das Leben erst bewusst machen. Und darum gehen wir in die Berge und wagen in ihnen mitunter das Schwerste, nicht etwa, weil uns dieses Leben nichts mehr wert zu sein scheint, sondern gerade, weil wir es so heiss und inbrünstig heben.

Allerdings dürfen wir bei all unserem Tun doch das eine nicht vergessen, dass wir im Leben eine Aufgabe haben, die sich nicht in unserem Tun am Berge erschöpft. Unser Leben muss über diesem Tun stehen, unser Menschsein umfasst weit mehr, als sich von einem ragenden Gipfel aus ermessen lässt. Hingebung, Treue, Pflichterfüllung - grosse, oft missbrauchte Worte freilich, tausendfach missachtet und hohnlachend in den Staub getreten. Aber warum sollten wir nicht damit in unserem eigenen Leben wieder einen aufrichtig gemeinten Anfang machen? Könnten wir nicht das Leben wieder mit Sinn erfüllen, indem wir zuerst einmal unser eigenes Dasein sinnvoll gestalten, unser eigenes Leben wertvoll machen, so dass zuletzt auch der Tod sinnvoll wird, der es beendet?

So gesehen bekommt auch unser Bergsteigen und ganz besonders das Klettern in schwerem und schwerstem Fels einen neuen, ganz anderen Sinn. Das Glück der Höhen, wir erleben es auf einmal tiefer und voller als sonst. Dazu freilich, so wissen wir nur allzu gut, gibt es nur einen Weg, und das ist der Pfad der Stärke und der Vorsicht. Der Vorsicht jedenfalls, die nicht der zagenden Angst entspringt, sondern der sicheren Vorsicht, die das Leben meint. Denn das ist gewiss: Am Berg droben noch mehr als im Tal drunten müssen wir unser Tun in jedem Augenblick verantworten können, und zwar jeden Schritt, jeden Griff! Wir haben ihn zu verantworten in einer unerbittlichen Ehrlichkeit vor uns selbst und bestimmt nicht zuletzt vor dem Schöpfer, der uns das Leben gegeben hat. Wir müssen uns aber auch verantworten können unseren Eltern gegenüber, vor der Familie, vor Frau und Kindern, vor allem aber vor dem, der mit uns während der Bergfahrt durch das Seil verbunden ist, unlöslich verbunden, auf Leben und Tod. Jedes Tun hat seine Folgen, die unwiderruflich sind. Und oft sind es nicht bloss Kummer und Tränen, sondern auch noch bitterste Vorwürfe, die ein Leben lang lasten können und die einem keiner wegnimmt.

Was haben wir denn von unsinnigen Kraftproben, in denen um eines schier krankhaft anmutenden Ehrgeizes oder auch nur um des sogenannten « bergsteigerischen Ansehens » willen Menschenleben aufs Spiel gesetzt werden? Man muss nicht nur den starken Mut zum Schwersten haben, sondern auch einmal den Mut zur Umkehr. Und der wiegt oft viel mehr!

Ob der Weg, den wir eingeschlagen haben, der richtige ist? Wer weiss es? Vielleicht ist Altmeister Julius Kugy, der vor nunmehr hundert Jahren geboren wurde, den richtigen Weg gegangen, wenn er einmal sagt: « Früh bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass der Bergsteiger in den Bergen leben und nicht sterben müsse und dass der Tod in den Bergen nicht immer einen Heldentod, sondern oft eine grosse Dummheit bedeutet. » Vielleicht kann er uns Vorbild sein. Vorbild durch ein Leben, das nach seinen eigenen Worten erfüllt war von « Arbeit, Musik, Bergen », sein Leben, durch das er mit all den ungezählten Toten am Berg uns, den Lebenden, zuruft: Mementote vivere! Gedenket zu leben!

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