Mont Pelvoux
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Mont Pelvoux

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON S. WALCHER, WIEN

Miti Bild ( 22 ) Die Tiefe eines Bergerlebnisses dürfte wesentlich davon bestimmt werden, welche Beziehungen geistig-seelischer Art zwischen dem Bergsteiger und dem Berg bis zum Tage der Erfüllung bestanden haben. Dass diese Beziehungen, wenn sie überhaupt vorhanden waren, sehr mannigfaltig sein können und in ihrer Art und Weise vorzüglich vom Wesen des bergsteigenden Menschen ihre grundsätzliche Prägung erhalten, wird nicht bestritten werden können; sie werden ausserdem deutlich durch die Form und den Inhalt der bergsteigerischen Fachliteratur bewiesen, die in all ihren Formen, Gestaltungen, Tiefen und Flachheiten ebenso verschieden ist, wie es eben die Menschen und damit auch die Bergsteiger selbst sind. Damit soll aber keinesfalls ein Werturteil ausgesprochen werden, sondern nur, dass auch die Bergsteiger das Recht haben sollen, nach ihrer Art und Weise zu leben, zu reden, zu schreiben und selig zu werden. Es wird darum auch jeder im alpinen Schrifttum das finden, was ihn anspricht; was ihm nicht zusagt, das möge er ruhig seinen andersgearteten Bergfreunden zur Erbauung oder Kritik überlassen; Duldsamkeit wird auch hier eine lobenswerte Tugend bleiben.

Meine Beziehungen zum Mont Pelvoux sind sehr alt, aber keinesfalls etwas Besonderes. Wie andere Bergsteiger habe auch ich in meinen jungen Jahren die Bücher der Bergsteigerpioniere mit grosser Andacht gelesen und ihre Abenteuer wachend und im Traume miterlebt. Merkwürdig aber mag es sein, dass dabei weniger der Mensch in der Welt meiner Vorstellungen Form und Gestalt annahm, dafür um so mehr der Berg selbst. Und so verzauberten die Worte Whympers und Tucketts - um nur zwei zu nennen - den Mont Pelvoux vor meinem geistigen Auge in einen schier unglaublich grossen und vor allem mächtigen Riesen, eine Vision, die sogar später das Lesen neuzeitlicher Führerwerke nicht völlig verändern konnte und, das mag vielleicht das schönste sein, auch nicht die Wirklichkeit selbst, in der ich ihn rund vierzig Jahre nach meiner ersten « geistigen » Bekanntschaft erleben konnte.

Wie für viele andere Bergsteiger, so war auch für mich die Dauphiné ein Land der Sehnsucht und in ihm - wie könnte es anders sein - das Dreigestirn Meije—Les Ecrins—Pelvoux das lockendste Ziel. Aber nicht nur im Leben, auch beim Bergsteigen gehen nicht alle Wünsche in Erfüllung: von den begehrten drei « Sternen » konnte ich nur zwei erreichen, während der erste, die Meije, trotz zweimaliger Annäherung wohl unerfüllte Sehnsucht bleiben wird. Um aber den hellsten dieser drei Sterne nicht zu kränken, will ich doch vor der Geschichte der Pelvoux-Ersteigung seiner besonders gedenken: eines Tages, an dem die Barre des Ecrins nicht nur in meinem Innenleben, sondern auch in der « rauhen Wirklichkeit » der strahlendste Stern der Dauphiné war und als solcher als köstlichstes Kleinod in den Schatz meiner Erinnerungen eingegangen ist. Bei herrlichstem Wetter, aber bei recht schlechten Verhältnissen, besonders auf dem Grat vom Dôme de Neige zum Pic Lory, habe ich mit G. Koch drei Tage vor der Pelvoux-Ersteigung ihren Gipfel betreten können und, nach den ersten glücklichen Minuten, noch in dem Gefühl der Erfüllung, schon hinübergeblickt zum dunkeln Koloss des Mont Pelvoux. So ist es: Kaum ist der Augenblick der Erfüllung vorbei, wandert die ruhelose Sehnsucht schon wieder neuen Zielen zu, bis sie dereinst vor dem « nächsten », rasch oder allmählich, schmerzlos oder leidvoll, für immer erlöschen wird.

Am 2. September 1953 haben wir, Giovanna Koch und ich, das gute Gasthaus in Alefroide 1 um 8.30 Uhr verlassen und sind langsam das Nière-Tal hineingewandert. Die Luft war frisch, der Himmel klar; kerzengerade stieg der Rauch aus den Kaminen der wenigen Häuser empor, und süss duftete das Heu auf den Wiesen; es war ein herrlicher Tag. Trotz der schweren Rucksäcke folgten wir leicht und behende dem guten Pfad talein, bis uns eine rote Aufschrift auf einem Felsblock neben dem Weg den Beginn des Pfades zum Refuge Lemercier anzeigte. Aber auch hier war das Steigen nicht mühsam, und selbst als ich mir bei einer gefällten Zirbe ein grosses Bündel breiter Späne auf meinen Sack schnallte, die das Gewicht erheblich erhöhten, blieb uns der Frohsinn treu. Kein Wunder, im ständigen Anblick mächtiger Berge, blumiger Matten und bei der Vorfreude, die uns beide beseelte! Schon nach vier Stunden - sie waren wie im Fluge vergangen - standen wir vor der kleinen, aus Holz gebauten Hütte, in der wir vorläufig die einzigen Gäste waren. Was machte uns dieses kleine Holzhaus für Freude! Ein Küchenraum mit allem nötigen Geschirr, sogar eine Blechbütte voll frischen Wassers war vorhanden, ein Schlafraum mit Matratzen und Decken erfüllte alle unsere Wünsche. Hinter der Hütte aber > tand der Berg, stiegen seine roten Felsen hinauf zum blauen Himmel, und in einer finsteren, schmalen Schlucht zwängte sich der schattenblaue Arm des Clot-de-1'Homme-Gletschers weit herab.

Der Nachmittag verging rasch; wir hatten genug zu schauen, genug zu beraten, genug zu erzählen und lagen schon lange unter den Decken, als uns eine ankommende Dreierpartie, ein junger Führer mit zwei Damen, aus dem ersten Schlaf scheuchte; bald aber war wieder Ruhe im Schlafraum eingekehrt, und ich konnte ohne weitere Unterbrechung bis zur Tagwache träumen.

Morgens um 5.30 Uhr verliessen wir als zweite Partie die Hütte; der Führer war kurz vor uns mit seinen beiden Damen aufgebrochen, von welchen uns aber die ältere begegnete, als sie auf dem steilen Moränenrücken abstieg, der zum Clot-de-1'Homme-Gletscher hinaufzieht; sie fühlte sich nicht wohl und wollte bei der Hütte die Rückkehr des Führers und ihrer jüngeren Gefährtin abwarten.

1 Namen und Höhen nach der französischen Karte 1:50000, Blatt La Grave und St-Christophe.

Knapp vor der Mündung der schmalen Schlucht, aus der das Eis des Gletschers fahl heraus-leuchtete, mussten wir den Gletscherbach überschreiten. Jetzt, am frühen Morgen, war der Übergang einfach und ungefährlich. Wie aber, dachte ich mir, würde es bei der Rückkehr sein, wenn die Schmelzwasser die Felsblöcke hoch überfluten? Mit ungutem Gefühl dachte ich an das ungebärdige Toben und Rauschen des Baches vom vergangenen Nachmittag; wir hatten es von der Hütte aus gehört. Vorläufig aber bannte die Sorge um den richtigen Anstieg alle grausen Gedanken. Längs des Fusses der Rochers Rouges stiegen wir auf Geröll, Platten, in Rinnen, auf Bändern und über Felsstufen, oft von glitzernden Wasseradern umgeben, hinauf zum Sialouze-Sattel, nördlich des Punktes 3225 der französischen Karte 1:50000, Blatt St-Christophe. Die Gipfel der Alefroide, die Felsen des Pic Sans-Nom und ihre blendendweissen Gletscher leuchteten im frühen Sonnenlicht wie das gelobte Land. Steil, aber reich gegliedert, erhoben sich nördlich von uns die roten Felsen unseres Berges, durch die wir uns nun den Weg zu suchen hatten. Der junge Führer, der ja den Weg gut kannte, und seine junge Begleiterin waren unseren Blicken längst entschwunden, als ich gemächlich das Seil entrollte, wir uns anseilten und lusterfüllt in die Felsen einstiegen. Es war eine genussvolle Kletterei, nirgends zu schwierig und nirgends zu einfach, so dass weder Angst aufkommen konnte, noch Unvorsichtigkeit am Platz war. Wenn irgendwo, so war hier die Bezeichnung « genussvoll » ganz am Platz, genussvoll nicht nur, was die körperlichen Bewegungen anbelangt, sondern genussvoll auch durch die Freude, die der Fels, das Licht, der Himmel, die Sonne ohne Unterbrechung in uns erweckten. Knapp vor dem Beginn des Pelvoux-Gletschers, aus dem sich die beiden Gipfel des Berges erheben, trafen wir mit der Führerpartie zusammen, die eben rastete und auch uns zu einer Rast veranlasste. « Gehen Sie den Weg wieder zurück? » fragte bei dieser Gelegenheit der Führer, sich an mich wendend. Ich bejahte, worauf er mir den Rat gab, entweder rechtzeitig vor den Mittagsnebeln oder erst am Nachmittag, wenn die Nebelschleier wieder geschwunden seien, abzusteigen, weil es sehr schwierig sei, ohne gute Sicht den Abstieg zu finden; es hätten auch schon erfahrene Führer in dem unübersichtlichen Gelände die Richtung verloren, wenn das zaubervolle Licht der durch den Nebel dringenden Sonnenstrahlen das rote, felsige Gelände in einen Irrgarten verwandelte. Ich dankte für seinen guten Rat, und gemeinsam stiegen wir dann auf dem steilen Schneehang hinauf zur Pointe Puiseux, 3946 Meter. Nun war also der lange Weg, vom ersten Bewusstwerden, dass es überhaupt einen Mont Pelvoux gibt, über viele Ereignisse, Wanderungen und Wandlungen bis zur Minute der Erfüllung, beendet. Am wolkenlosen, tiefblauen Himmel hing die strahlende Sonne, ein Meer von dunkel schimmernden, wilden Berggestalten umgab uns; wenig war vom Grün der Täler zu sehen, aber um so mehr von den Herrlichkeiten der Dauphiné. Namen sind nur Worte, die nicht viel verkünden; aber « Barre des Ecrins » und « Meije » vermögen sogar den Worten einen geheimnisvollen Glanz höchster Freude zu verleihen und leidenschaftliches Verlangen zu entlocken. Dort drüben stand sie, die heissbegehrte Ecrins, jetzt, drei Tage später, schon nicht mehr Sehnsucht, nur mehr Erinnerung. Dort aber, weiter im Norden, stand noch ein loderndes Feuer. « Jetzt wären für die Meije die besten Verhältnisse », hörte ich die Stimme des jungen Führers. Hatte er meine Gedanken erraten, weil ich unverwandt hinüberblickte zu dem fernen Berg? Sollte ich, sollten wir seinen Worten folgen? In wenigen Augenblicken entschied es sich: Meije oder Mont AiguilleDer Mont Aiguille war uns beschieden, die Meije versagt - bis heute, und sie wird es wahrscheinlich für immer bleiben.

Mit freundlichem Gruss verabschiedete sich die Führerpartie, überquerte den Pelvoux-Gletscher und entschwand meinen Augen am Beginn des Coolidge-Coulöirs. Als wir die Pointe Puiseux betraten, war es 9.30 Uhr, und eine Stunde später brachen wir wieder auf. Ich dachte an die Mittagsnebel; da aber weitherum von ihnen nichts zu sehen war, erstiegen wir in einer halben Stunde noch 26 Ausschnitt aus dem Strukturbodenfeld auf der Fallerfurka. Gut sichtbar sind die wallför-migen Steinstreifen, die, dem stärksten Gefälle folgend, schräg von rechts nach links ziehen. Rechts aussen der Schnee/Firn-flecken. Der Gegenhang besteht aus massigen Grüngesteinen, welche hierauf der Fallerfurka keine Strukturbodenformen tragen Ausschnitt aus dem Steinringfeld vom Bergalgapass. Der Durchmesser der Steinringe beträgt über 2 m, die Rahmenbreite schwankt zwischen 0,5 m und 1 m. Auf dem Bilde sind die runden Steinringe elliptisch verzerrt. Beim Material handelt es sich um Bündnerschiefer 28 Miniatursteinstreifen in Grüngestein. Fundort: Uf den Flüen. Die Hangneigung beträgt 10 '. Die Breite der Steinstreifen und der Zwischenstreifen ist praktisch immer gleich gross ( 10 cm ). Sehr schön sichtbar ist, wie sich benachbarte Steinstreifen unter spitzem Winkel vereinigen

Strukturböden auf der Fallerfurka

den zweiten Gipfel, die Pyramide Durand, 3932 Meter. Nach einer weiteren Stunde war von dem gefürchteten Nebel noch immer nichts zu bemerken; also entschloss ich mich zum Abstieg. Wie aber war ich erstaunt, als ich beim Steinmann, der den Einstieg in die Rochers Rouges kennzeichnet, die untere Hälfte der Wand bereits in feine, silbergraue Schleier gehüllt sah! Da hiess es eilen! Wer aber kann einen Wettlauf mit einem solchen Geisterspuk gewinnen? Nur wenige Seillängen waren wir abgestiegen, als uns auch schon von unten die lichten Geister umfingen. So angestrengt wir auch beobachteten, wir waren nicht mehr sicher, ob wir in der linken oder rechten Rinne heraufgestiegen waren. Ich spähte nach beiden Seiten, aber dieser Nebel machte selbst die nächste Umgebung wesenlos, und doch merkte ich bald, dass ich nicht in der richtigen Rinne steckte. Also: Halt, zurück und wieder hinauf! Es waren zwar nur 30 Meter, aber unangenehme. Oben merkte ich, dass es plötzlich wärmer und heller wurde, und siehe da, in wenigen Sekunden lösten sich die Nebel von der Wand, und ich hatte freie Sicht bis hinab zum Sialouze-Sattel. Eile mit Weile! Die Gefährtin kletterte auf einer steilgestellten Platte abwärts; plötzlich war sie weg, das Seil spannte sich, und ich wartete; es war glücklicherweise nichts geschehen; die « Fliegerin » war nur etwas abwärts geglitten, hatte aber auf einem kleinen Schuttplatz guten Stand gefunden. Als wir den Sialouze-Sattel erreichten und uns vom Seil lösten, waren die Nebel spurlos verschwunden, und über uns und all den wunderbaren Bergen in der Runde lachte wieder der blaue Himmel.

Fröhlich, fast ausgelassen, eilten wir scherzend und lachend hinab zum Gletscherbach, der nun, wie wir morgens schon vermutet hatten, zu einer braunen, schmutzigen Flut angeschwollen war, die über und zwischen den Blöcken schäumend und zischend an uns vorbeistürzte; das war wohl ein erwartetes, deswegen aber kein geringeres Hindernis. Was tun? Hinüber mussten wir. Nach langem Suchen glaubte ich endlich eine Möglichkeit gefunden zu haben; wir seilten uns an, und los ging 's, springend und watend, hinüber zum anderen Ufer, das wir « leicht » nass, aber heil erreichten.

Sei gegrüsst, liebe Lemercier-Hütte! Sie war von der Führerpartie in peinlichster Ordnung verlassen worden, schenkte uns noch eine Blechkanne voll frischen Wassers für einen Riesentopf Tee und zwei Stunden köstlicher Sonnenrast auf ihrer Schwelle. Heute besteht die alte, kleine, aber heimelige Hütte nicht mehr; sie wurde abgetragen und durch ein neues Haus ersetzt; doch in meiner Erinnerung lebt sie weiter wie ein alter, guter Freund.

Dem schönen Tag folgte ein schöner Abend. Als wir nach zweistündigem, gemütlichem Abstieg um 19.30 Uhr in Alefroide einzogen, mischte sich mit dem würzigen Duft des Heus der heimelige Geruch des Holzfeuers in Hütten und Häusern und zauberte für den Bruchteil einer Sekunde noch einmal die grosse Freude des Tages vor meine Augen: den Mont Pelvoux.

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