Nach zwanzig Jahren
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Nach zwanzig Jahren

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON MICHEL VAUCHER, GENF

BESTEIGUNG DES WALKERPFEILERS DER GRANDES JURASSES Mit 4 Bildern ( 29-32 ) Schon sind es zwanzig Jahre her, seit Cassin, Esposito und Tizzoni die Walkerspitze im Massiv der Grandes Jorasses über den Sporn zum erstenmal erstiegen haben. Obschon die Technik seitdem grosse Fortschritte gemacht hat, verlor diese Route nichts von ihrem Wert. Sie wird als höchste Belohnung angesehen. Alle diejenigen, die sie begangen haben, bezeichnen sie eindeutig als « die schönste Besteigung in den Alpen ».

Der Erfolg einer Tour ist von mehreren Faktoren abhängig. Im Hochgebirge ist einer der wichtigsten der Zustand der Ausaperung. Der Cassinsporn - so sollte eigentlich der Sporn der Walkerspitze heissen - ist nach Norden orientiert, wird also von der Sonne nur wenig beschienen. Manchmal ist er mehr als fünf Jahre lang vereist geblieben, jeden Besteigungsversuch abweisend. Die Tatsache, dass in zwanzig Jahren dieser Aufstieg nur 19 Seilschaften gelang, ist bezeichnend.

Zu seiner Länge, seiner Eleganz, seiner Umgebung müssen noch technische Eigenschaften hinzugefügt werden: Der Fels ist fast durchwegs ausgezeichnet und wird grösstenteils in freier Kletterei 1 bezwungen, die Strecke auf der luftigen Gratschneide vermittelt das Gefühl einer ausserordentlichen Exponiertheit. Kurz und gut, das Kapitel des Lobes ist beinahe unerschöpflich.

Mit den vorhergehenden verglichen, war der Sommer 1958 gut. Trotzdem wage ich mich nur mit einer gewissen Scheu und mit viel Ehrfurcht an diese Tour, die ich mir mit einem Freund aus Nizza, Jean Théroud, genannt « Cabri»«Zicklein » ), vorgenommen habe. Chamonix verlassen wir in aller Heimlichkeit, denn seit 1952 ist der Cassinsporn nicht mehr bestiegen worden, und wir möchten nicht wichtigtuerisch erscheinen. In Montenvers erfahren wir, dass vier Österreicher seit zwei Wochen den Sporn belagern. Das hat für uns die Wirkung eines Peitschenhiebes, und im Eilmarsch erreichen wir Leschaux. Aus den Trümmern der alten, zerstörten Hütte haben Alpinisten einen kleinen Unterschlupf gebaut. Dort finden wir vier Rucksäcke, in die wir einen Einblick nehmen. Sie enthalten Lebensmittel in Hülle und Fülle, besonders Kartoffeln.

« Nur Deutsche oder Österreicher können rohe Kartoffeln mitnehmen », sagt Cabri.

« Sie sind nicht hier. Sollten sie schon am Walkerpfeiler sein? » Mein Freund, der für einige Minuten hinausgegangen ist, bemerkt plötzlich ein kleines Licht im obersten Drittel der Wand und brüllt laut auf vor lauter Freude.

Wie wir später erfahren sollten, sind es Brandler, Raditschnig, Diemberger und Stephan, die sich im gleichen Sommer schon an der Eigernordwand und an der Cima Grande ausgezeichnet haben. Sie sind in ihrem zweiten Biwak, am Fusse der roten Kamine.

Ich unterstütze meinen Freund in seinen Rufen, aber angesichts der Distanz, die uns von den Grandes Jorasses trennt, ist das wohl nutzlos.

Wir kehren in unsre kleine Hütte zurück, mit heftigen Gesten die Heldentat dieser unbekannten Freunde kommentierend, deren Anwesenheit dort oben uns mit Freude und Zuversicht erfüllt. Jetzt sind wir ganz sicher, dass die Besteigung möglich ist. Wir stellen uns vor, wie sie nach zwei Tagen grosser Anstrengungen an der Wand angebunden biwakieren, während wir die Behaglichkeit dieser Unterkunft geniessen. Nützen wir sie noch aus, morgen abend... wird es wahrscheinlich anders sein.

Cabri schlägt mir vor, ich solle schlafen gehen. Er selber werde bis 2 Uhr wachen, um den grossen Moment des Aufbruches nicht zu versäumen. Der Form wegen protestiere ich. Aber nicht allzusehr... Schon ist die Tagwacht da! Eine Tasse Tee, und wir sind auf dem Anmarsch zum Fuss des finsteren Sporns, dem Ziel all unsres Strebens. Der Himmel ist klar, es ist kalt. Am Fuss der ersten Felsen warten wir auf die Morgendämmerung.

Cabri setzt an; ich folge ihm mit einigen Metern Abstand und bin verblüfft, dass die Kletterei nicht schwieriger ist. Sehr rasch erreichen wir das untere Ende des Plattenschusses, wo Cabri mit Schwung weiterklettert.

Und da ist auch schon die 30 m lange Verschneidung. Wir hatten abgemacht, dass ich im Fels und Cabri, als Hochgebirgsführer, im Eis die Führung übernehmen sollte. Ich setze mich mit allen Kräften ein: Der Sack ist schwer; es gibt einen heiklen Schritt, und der Schluss ist ein Kraftstück. Nach dieser Etappe gönnen wir uns eine kleine Pause.

« VI. Grad », meint Cabri.

Die Sonne ist warm, wir klettern im Pullover. Die Verhältnisse sind ausgezeichnet.

« Wenn es so bis zum Gipfel geht! » Nur vorwärts! Schauen wir, wie die nachfolgende Traverse der Eisbänder aussieht.

« Cabri, die Reihe ist an dir! » Aus dem Eis herausragende Felsen gestatten, die Traverse ohne Steigeisen durchzuführen. Sobald sich das Seil zwischen Cabri und mir spannt, folge ich nach, ohne ihm etwas zu sagen, wäh- rend er weitergeht. So erreichen wir den Fuss der 75-Meter-Verschneidung. Cabri hatte in der Routenbeschreibung von einem Quergang von drei Seillängen gelesen und dreht sich etwas erstaunt um:

« Was, du marschierst gleichzeitig mit mir auf dem Eis? Dann mache ich die Verschneidung als erster! » Und schon ist er unterwegs.

Der Fels ist mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die das Klettern zu einer heiklen Übung macht. Aber schliesslich sind wir an der Walkerspitze, mitten in einem tollen Abenteuer, und, ob vereist oder nicht, wir fühlen uns stark genug, alles zu überwinden. Beim Vorbeigehen schiebe ich Cabri beiseite und gehe auf die Suche nach dem Seilpendel, welches sich 50 Meter weiter oben befindet. Und diesmal ist es Cabri, der mir nachklettert.

Für den Fall eines Rückzuges haben die Österreicher ein fixes Seil zurückgelassen. Unten ist es festgeklemmt, so dass mein Freund mit blosser Armkraft hinunterhangeln muss.

Jetzt bin ich an der Reihe für diese kraftraubende Gymnastik.

Der danach folgende kleine, schwarze Überhang ist vereist; auch er wird mit Schwung überwunden.

Und schon haben wir den Fuss des grauen Turms erreicht: Gönnen wir uns einige Nougats. Es ist noch sehr früh, und schon sind wir in der Mitte des Aufstieges.

« Wenn es so weitergeht, werden wir um 2 Uhr nachmittags auf dem Gipfel sein! », sage ich zu Cabri.

Was weiter kommt, wird mich schnell dazu veranlassen, meine Meinung zu ändern. Wie schwer wird es von jetzt an! Immer muss man mit List die spärlichen Möglichkeiten auf die beste Weise auszunützen wissen, die dieser abstossende Felsen bietet. Ich denke an Cassin, der diese Route als erster begangen hat, und fühle mich ganz klein.

« Wir haben nichts Neues erfunden », sagt Cabri an der Sicherungsstelle.

Ich bin mit ihm wohl einverstanden und bemühe mich, die Lage zu meistern, so gut es geht. Die Überwindung der Platten verlangt von uns ebensoviel Zeit, als nötig war, um an ihren Fuss zu gelangen.

Weiter oben sieht es wieder besser aus, und wir kommen rascher vorwärts. Bloss V. Grad! Schöne Stemmrisse führen uns zur Spornkante. Die Schwierigkeiten werden geringer, wieder klettern wir zusammen.

Aber dieses kleine Spiel bringt uns ausser Atem, und der Blick auf eine schmale Terrasse lässt mich anhalten.

« Was meinst du zu einer Gamelle Tee? » Cabri nimmt den Vorschlag mit Begeisterung an. Ich packe Kocher, Tee und Zucker aus dem Sack.... die Gamelle aber ist nirgends zu finden. In der Überstürzung des Aufbruchs habe ich sie vergessen. Wirklich scheusslich.

Eine Zigarette trägt nur dazu bei, unsren Durst zu verstärken... Resigniert gehen wir weiter.

Eine andere Sorge nimmt unsre Aufmerksamkeit in Anspruch: Das Wetter verschlechtert sich zusehends. Eis überzieht die Felsen. Ich muss Haken schlagen. Gemeinsames Klettern kommt nicht mehr in Frage. Meter um Meter gewinnen wir an Höhe...

Das dreieckige Firnfeld!... Wir sind auf 4000 Meter und befinden uns mitten in den Wolken, die von der italienischen Seite herüberkommen.

« Wir werden ein einzigartiges Biwak erleben », sagt Cabri.

Tatsächlich sieht es ziemlich schlecht aus. Es fängt an, leicht zu schneien. Kein warmes Getränk. Welch ein Gegensatz zur Gemütlichkeit unserer kleinen Hütte dort unten.

Schluss mit den Überlegungen! Jetzt heisst es, einen passenden Platz für die Nacht zu finden. Die vereisten Platten, auf welchen wir sind, bieten keine besondere Bequemlichkeit. Schauen wir weiter oben: schlimmer kann es in keinem Fall sein.

Ohne die Steigeisen anzuschnallen, steigt Cabri über den Dreieckfirn an, geschickt kleine Stufen schlagend, stösst an den letzten Felsvorsprung, wo ich bald zu ihm aufschliesse. Ich weiss, dass sich 20 Meter höher oben der zweite Biwakplatz der Österreicher befindet.

Trotz des Schnees und der einbrechenden Dunkelheit mache ich mich auf die Suche. Die Nacht überrascht mich einige Meter unter der kleinen Terrasse. Der Weiterweg ist unmöglich. Ich seile ab und bin wieder neben Cabri...

Unser BiwakplatzEin Eishang von 50 Grad Neigung! Wir binden uns an einige Haken an und sind buchstäblich aufgehängt. Während einer Aufhellung erblicken wir Montenvers und bemerken Lichtsignale, auf welche wir antworten. Der Gedanke, dass jemand an uns denkt, erwärmt unser Herz. Aber rasch verwischt sich das flüchtige Bild, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als mit Geduld auf den Tag zu warten. Der Schnee fällt, der Wind greift uns an. Aber unsre Biwakausrüstung hält der Kälte und der Feuchtigkeit sehr gut stand. Obschon die Lage sehr unbequem ist, gelingt es uns, einige Stunden zu schlafen.

... Welch ein seltsames Gefühl, an einem solchen Ort zu erwachen! Ich sperre die Augen auf, und plötzlich erinnere ich mich.

« Cabri! » « He? Was? » Aus seinem Schlaf aufgeschreckt, hat mein Freund dasselbe Gefühl wie vor einem Augenblick ich selbst. Ein blasser Tag bricht an. Die Umwelt ist unheimlich. Wir zünden eine Zigarette an und machen uns schnell bereit.

« Der Milchkaffee bleibt für das nächste Mal bereit », scherzt Cabri.

Ich arbeite mich mühsam am Seil empor, das ich auf meiner gestrigen Rekognoszierung hängen gelassen habe, und erreiche nach einer heiklen Traverse die roten Kamine. Zur Begrüssung werde ich von einer Pulverschneelawine überschüttet. Der Schnee dringt überall ein, in die Augen, in die Ohren, in die Ärmel. Innert einiger Sekunden bin ich ganz durchfroren.

Jetzt heisst es, diese Kamine in der Höhe von 80 Metern zu erklimmen. Auch bei guten Verhältnissen sind sie für ihre grosse Schwierigkeit bekannt, und heute fegen unaufhörlich Lawinen durch sie herunter. Sie machen meine mühsam und mit grosser Geduld verrichtete Räumungs-arbeit immer wieder zunichte. Unter diesen Umständen bedeutet vorwärtszukommen eine harte Arbeit. Nach einem fünfstündigen unaufhörlichen Kampf bin ich auf der Höhe des Querganges. Ich brülle hinunter zu Cabri:

« Fertig! Ich bin ausgestiegen! » Aus dieser Hölle entronnen, komme ich auf eine breite Terrasse. Ich fühle mich erschöpft und gereizt. Cabri bemerkt es und sagt mir in gebieterischem Ton:

« Ist in Ordnung. Ich löse dich ab. Du kannst dich derweil etwas ausruhen. » Die Freundlichkeit, mit der er spricht, seine lustige südfranzösische Aussprache bewirken, dass ich mich sofort besser fühle. Cabri bringt den Quergang rasch hinter sich, und sobald ich aufgeschlossen habe, greift er eine kleine Mauer an. Sie ist das letzte Hindernis, muss aber noch überwunden werden.

Cabri schlägt einige Haken und hisst sich energisch hinauf. Diese vereiste Stelle ist sehr schwierig, auch für den zweiten am Seil.

Weiter geht es leicht. Mit fünf Meter Seilabstand rücken wir gemeinsam vor, Zigarette auf Zigarette rauchend. Einige Meter unterhalb des Gipfels sehen wir den von Cassin und seinen Kameraden steckengelassenen Haken. Wir gedenken mit Bewunderung dieses Mannes, dem wir so sehr verpflichtet sind.

Bei keiner Tour haben wir ein so vollständiges Glück erlebt. Was wir auch noch für Bergfahrten ausführen werden, es wird für uns die Besteigung der Walkerspitze immer ein einzigartiges Erlebnis bleiben.Übers. N.P.A. )

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