Nächtliches Abenteuer in der Sciora-Wand
VON RUDOLF MEIER, BOUDRY-STÄFA
Mit I Bild ( 59 ) Glücklich drücken wir uns die Hände auf dem spitzen Gipfel der Ago di Sciora, mein Kamerad Walti und ich. Aber in die Gipfelfreude mischt sich sogleich ein Gefühl der Besorgnis: es ist schon vier Uhr nachmittags, und der Rückweg in die Sciorahütte ist nicht einfach. Das wenigstens können wir aus den vagen Angaben des alten Clubführers vermuten.
Wie konnte es nur so spät werden? Da wir heute eigentlich lediglich eine kleine Einführungstour machen wollten, sind wir nicht früh aufgebrochen. Doch finden wir am ursprünglichen Ziel, auf dem breiten Blockgipfel der Sciora Dadent, dass wir noch nicht genug geleistet haben an diesem schönen Tag. Also packen wir die Traversierung zur Bocchetta del Ago an, die uns dann bedeutend mehr Zeit kostet, als wir erwartet hatten. In der Bocchetta wäre noch Zeit gewesen, unverzüglich abzusteigen; doch die Verlockung der herrlichen Ago, an deren Fuss wir endlich stehen, war zu gross!
Wir halten Rat über die einzuschlagende Route. Beim Normalweg macht uns die komplizierte Routenführung Sorgen, wie auch die nachmittägliche Beschaffenheit des in der Westwand zu traversierenden steilen Schneefeldes. Wenn wir die Ago di Sciora östlich umgehen könnten und dem Scioracouloir folgend absteigen, wäre dies wohl einfacher.
Nachdem wir uns im Gipfelbuch eingetragen haben, treten wir den Abstieg an, wissend, dass wir keine Minute mehr verlieren dürfen. Meistens abseilend, sind wir in einer guten Stunde wieder in der Bocchetta del Ago und beginnen anschliessend die Umgehung der Ago, indem wir einem ansteigenden Band in die Ostflanke hinaus folgen. Doch schon nach wenigen Metern stehen wir vor einer schluchtartigen Rinne, deren Durchquerung grossen Höhenverlust und zeitraubenden Wiederaufstieg bedingen würde. Kurz entschlossen kehren wir um in der Hoffnung, auf der Normalroute durch die Westwand rascher abwärts zu kommen.
Auch dafür müssen wir zuerst einen Gratturm auf der Albigna-Seite umgehen, auf einem Band, das wir vom Anstieg her kennen. In der folgenden Scharte verlassen wir den Grat über eine glatte Platte in die Westwand. Noch bevor Waltis Seillänge ausgeklettert ist, kommt er einige Meter zurück: « Ein Überhang mit schlechtem Fels. Wir müssen abseilen. » Gesagt - getan, doch zuvor müssen wir eine Seilverankerung finden. Wir haben Glück, wir entdecken einen faustgrossen Zapfen, wie gemacht zum Einhängen des Seiles. Unter dem Überhang geht 's weiter durch zerklüfteten Fels, der wegen losen Steinen grosse Vorsicht verlangt. Nach einigem Suchen finden wir einen Abstieg auf den hoch oben in der Wand angeklebten Schneefleck. Unter der Rinne, durch die wir aussteigen, ist der Schnee vereist und vom Steinschlag gezeichnet. Mit einigen gehackten Stufen gewinnen wir aufgeweichten Schnee. Aber am unteren Rand tritt wieder heimtückisches Eis zu Tage, so dass der Pickel nochmals in Aktion treten muss.
Nun gilt es, das Kamin zu finden, das den Abstieg auf das tieferliegende Band ermöglichen soll. In den dreissig Jahren seit dem Erscheinen des Führers ist das Schneefeld erheblich zusammengeschrumpft. Deshalb müssen wir ziemlich weit nach rechts absteigen, einer abschüssigen, schmalen Terrasse folgend, bis wir eine Durchstiegsmöglichkeit entdecken. Diese Rinne gleicht zwar eher einem Bach, aber wir hängen das Reserveseil als Geländer ein, so dass sie gut passierbar wird. Im unteren Teil ist sie von einem mächtigen Schneepfropfen verstopft, der durch eine tiefe Spalte vom Fels getrennt ist. Wie den Schnee erreichen? Walti lässt sich kurzerhand in die feuchte Kluft hinab, um im vom Bach ausgehöhlten Raum einen Durchschlupf zu suchen. Und wirklich! Ich bin erstaunt, wie rasch das Seil durch meine Hände läuft. In kurzer Zeit sind die vierzig Meter ausgegeben. Ich kann nachfolgen. Erst jetzt merke ich, warum Walti so pressiert war und auch jetzt ungeduldig am Seil zieht: der ganze Hohlraum ist vom Wasser des Baches durchspritzt! Wahrlich eine Passage von eigenartigem Reiz, diese Kletterei unter dem Schnee! Einige Meter, und der düstere Tunnel entlässt uns tüchtig durchnässt, aber zu unserer grossen Freude direkt auf das Band, das den Schlüssel für diesen Abstieg darstellt.
Fast horizontal führt dieses Band, wie ein Trottoir, durch die sehr steile und glatte Wand auf eine Schulter, in der Westkante der Ago di Sciora. Linkerhand fällt der Blick unmittelbar auf den noch weit unten liegenden, wild zerrissenen Bondascagletscher, weit weg. Es ist sieben Uhr. Schon eine Weile ist die Sonne hinter Gewitterwolken am Piz Badile versunken. Vielleicht noch eine Stunde Tageslicht haben wir zur Verfügung. Und nachher? Unsere Lampen sind in der Hütte, wir wollten ja nur eine kleine Einlauftour machen! Biwakieren? Wir sind nass; Reservewäsche und Biwakausrüstung haben wir auch in der Hütte gelassen. Also los, hinein in das nicht gerade einladende Couloir!
Mit verkürztem Seilabstand steigen wir so rasch als möglich ab, beide gleichzeitig gehend. Doch bald wird das wegen der Steilheit und dem losen Schutt zu gefährlich. Abwechslungsweise steigt einer ab bis zu einem möglichst steinschlagsicheren Platz, um dann den andern nachkommen zu lassen.
Bei der Einmündung in die Hauptrinne wird uns die letzte Hoffnung genommen, die Schwierigkeiten vor Einbruch der Nacht hinter uns zu bringen. Tief unten erblicken wir in der Dämmerung noch den Felszahn an der rechten Begrenzung, der den Ausstieg aus dem unheimlich steilen Couloir markiert. Eine Partie blanken Eises erschwert uns den Eintritt in die Hauptrinne. In dieser heiklen Passage werden wir von der Dunkelheit überrascht. Und wenn wir auf eine helle Nacht gehofft haben, werden wir wiederum enttäuscht, denn leichte Nebel steigen durch das Couloir auf, jedes Sternenlicht verdeckend.
Wir tasten uns vorsichtig eine Seillänge weit durch die felsige Rinne hinunter. Doch furchtbar empfinden wir das Fehlen der Sicht, das wertvollste Hilfsmittel beim Klettern. Wohl können wir mit einiger Mühe Tritte und Griffe ertasten; aber was bringen die nächsten Meter? Geht es dort weiter? Ist es besser hier oder zwei Schritte weiter drüben? Walti steht vor einem Absatz. Von dessen Höhe hat er keine Ahnung, er findet einfach keinen Tritt mehr. Zwei Meter, zehn Meter, zwanzig Meter? Ich schliesse zu ihm auf. Das geht lange, denn alles, was Walti ertastet hat, muss ich von neuem ertasten. Er kann mir nicht helfen mit Hinweisen, denn er kann mich nicht sehen.
Auch ich finde bei diesem Absatz keine andere Möglichkeit als ein Abseilen. Doch wo das Seil verankern? Walti steigt einige Meter zurück, um mich sichern zu können. Ich suche einen Zacken für das Seil, aber ohne Erfolg. Auf dem Grunde der Schlucht liegen lose Blöcke, aber keiner ist solid genug verkeilt. Im Dunkeln packe ich mein Hakenbündel und den Hammer aus dem Rucksack, den ich mit den Knien festhalten muss. Dann beginne ich mit den Fingern den Fels nach Rissen abzutasten. Mehrmals meine ich, etwas gefunden zu haben, doch nirgends gelingt es mir, einen Haken einzutreiben. « Hast du etwas? » fragt Walti, während ich verzweifelt weitersuche. Und wieder: « Immer noch nichts? » Gläsern klirrt als Antwort der Haken unter meinen Schlägen, während er sich verkrümmt statt in den stumpfen Riss einzudringen. Vergebens warten wir auf das vertraute Singen, das uns versichern würde, dass der Haken sitzt.
« Wollen wir nicht doch biwakieren? » Der Berg selber ist es, der uns die unmissverständliche Antwort gibt, indem just einige Steine in die Tiefe poltern. In gefährlicher Nähe sehen wir Funken spritzen. Noch lange hören wir die Steine, bis sie auf dem Gletscher in der Tiefe zur Ruhe kommen. Unheimlich widerhallen die Aufschläge zwischen den Wänden. « Mach weiter, mich friert! » Ich suche nochmals die Blöcke ab, finde aber wiederum keine Möglichkeit. Von neuem taste ich mit schmerzenden Fingern nach Rissen im kalten, rauhen Granit Sinnlos schlage ich mit dem Hammer auf den harten Fels ein, dass Funken stieben. Doch endlich gelingt es mir, ganz tief einen Haken zu setzen. Wie lange haben wir gesucht? Wir haben jedes Zeitmass verloren, und die Uhrzeit können wir nicht ablesen.
Jetzt bleibt noch, eine Schlinge ohne Sicht zu knüpfen, das Seil durchzuziehen und in die undurchdringliche Dunkelheit auszuwerfen. Ob es sich irgendwo verhängt hat, und wie weit es reicht, sehen wir nicht. Ich lasse mich im Dülfersitz gesichert hinunter, und siehe, nach kaum drei Meter senkrechter Platte lande ich auf gut kletterbarem Gelände! Ich seile dennoch weiter ab, so weit das Seil reicht, denn so bin ich weitaus am sichersten.
Nachdem auch Walti unten angelangt ist, ziehe ich das Seil ein und nehme es in zwei Puppen auf, damit es gleich wieder bereit ist. Da ich trotz des zweifarbigen Seiles die Mitte nicht erkennen kann, versuche ich die beiden Puppen möglichst gleich dick zu machen. Dann geht die unheimliche Kletterei weiter. Meter für Meter tasten wir uns abwärts, immer abwechselnd kletternd. Bald wieder müssen wir vorsichtshalber abseilen. Diesmal haben wir mehr Glück, nach kurzem Suchen können wir das Seil an einem Block befestigen. Doch führt diese Abseilstelle direkt durch einen kleinen Wasserfall, nicht angenehm aber wenigstens keine Gefahr in sich bergend. Und wieder muss das triefend nasse Seil, glücklicherweise ein Nylonseil, aufgerollt werden. Ich hänge es mir um den Hals und sichere es mit einem Karabiner, damit es sofort griffbereit ist, da wir es wohl noch oft in dieser Nacht benötigen werden...
Nach einem kurzen gangbareren Stück scheint sich der Abgrund vor unseren Füssen erneut ins Bodenlose vzu verlieren. Vorsichtig lässt sich Walti zentimeterweise hinunter, während ich mich auf meinem schlechten Stand an den Fels presse, um ihn sichern zu können. « Halte gut, ich finde keine Tritte mehr! » Mit angehaltenem Atem gebe ich das Seil aus; ich halte es sehr straff, denn ein plötzlicher Ruck müsste mich aus dem Stand werfen. « Warte, sobald du gut stehen kannst, ich muss eine bessere Sicherungsmöglichkeit suchen! » In einem senkrechten Riss kann ich einen Haken eintreiben. Er sitzt sehr gut, ist aber auf Zug belastet. Nachdem ich mich daran eingeklinkt habe, lasse ich Walti weiter klettern.
Und schon wieder sein Warnruf: « Gut halten! » Gefasst warte ich auf einen Ruck, doch er bleibt aus. Langsam und unregelmässig gleitet das Seil durch meine Hände. Da spüre ich, dass nur noch wenige Seilschlingen vorhanden sind: « Hast du noch keinen Standplatz? » Aus der Tiefe ertönt ein schwaches « Nein », fast übertönt vom Rauschen des Baches. Hastig löse ich meine Seil-reserve. « So, du hast nochmals zehn Meter! » Wie auch diese langsam zu Ende gehen, schreie ich aus Leibeskräften: « fertig! » Doch der Zug am Seil lässt nicht nach, also gebe ich noch den letzten Rest aus. « Fertig! » Ich warte, schreie, warte. Keine Antwort, nichts geschieht, nur das gleichförmige Rauschen des Wassers tönt. « Walti, gib doch Antwort! » Fast ein Flehen ist mein Schrei, denn eine böse Ahnung steigt in mir auf. Nichts. Ich ziehe am Seil, der einzigen Verbindung zu meinem Kameraden. Es gibt nicht nach, straff zieht es nach unten, unbeweglich, wie wenn ein lebloser Körper daran hinge...
« Walti! » Kein Lebenszeichen, so angestrengt ich in das Dunkel hinaus horche, ich höre nur einen fallenden Stein, der in die schwarze Tiefe poltert. Die Nacht ist nicht kalt, doch ob der Nässe beginne ich an allen Gliedern zu schlottern. Die Nebelschleier sind gewichen, einen schmalen Spalt Sternenlosen Himmels ahne ich über mir. Der Berg scheint mich in diesem tief eingefurchten Couloir erdrücken zu wollen. Doch gewahre ich in meinem engen Gesichtswinkel ein fernes Licht in der Tiefe. Das muss Soglio sein. Sind wir nicht vor wenigen Tagen von dort hinauf gewandert, um die herrliche Scioragruppe mit Segantinis berühmtem Gemälde zu vergleichen? Damals hat das Scioracouloir als helle Ader in der fahlen Sonne geleuchtet. Jetzt ist alles tintenschwarz, der Fels, das Eis, die unheimliche Tiefe, der Himmel. Nur ab und zu lässt ein zuckendes Wetterleuchten glatte Felswände und abschreckendes Eis erkennen.
Mein Kamerad ist nur knappe vierzig Meter von mir entfernt, und doch habe ich keine Ahnung, was mit ihm los ist. So muss ich eben sehen, dass ich zu ihm hinab komme Aber wie? Ungesichert, klettern scheint mir zu riskiert, nachdem sogar Walti mehrmals verlangt hat, ihn gut zu halten. Abseilen geht nicht, da das Reserveseil nur bis in die Mitte reichen würde, zudem ist der Haken nicht zuverlässig genug. Mit dem Partieseil zusammengeknüpft darf ich nicht abseilen, da es zwei Seile von ganz unterschiedlicher Elastizität sind. Es bleibt mir nur eines: frei zu klettern, die zusammengeknüpften Seile zur Selbstsicherung benützend.
Nochmals rufe ich Walti an, bitte ihn, etwas Seil freizugeben, doch vergebens. Dann nehme ich das Reserveseil in einem Stück auf und werfe es ganz aus. Das Ende hänge ich mit einer Achter-schlinge in den Karabiner, damit es mir nicht entwischen kann. Dann muss ich mich losseilen, um die beiden Seile zu verknüpfen. Das ist gar nicht so einfach mit den kältestarren Fingern, besonders da ich mich noch festhalten muss. Doch mit Zuhilfenahme der Zähne bringe ich schliesslich einen zuverlässigen Knoten zustande. Es bleibt noch das Seil in den Karabiner zu legen und die beiden Sicherungsknoten zu lösen, und dann kann ich den Abstieg antreten. Das Doppelseil schlinge ich um die linke Hand und mit der Rechten suche ich Griffe im Fels. So steige ich langsam, tastend ab. Dazwischen muss ich einmal das Reserveseil, das sich irgendwo verhängt hat, einholen und neu auswerfen.
Da plötzlich, wie ich um eine vorspringende Kante biege, werde ich vom Rufe empfangen: « So, kommst du endlich! » Aber wo steckt er nur? Da verschwindet das Seil im Spalt zwischen Fels und Eis. Und richtig, da unten in diesem tropfenden Hohlraum kauert er! Und jeder ist froh, dass sorgenvolle Wartezeit vorüber ist und wir wieder nahe beisammen sind.
Rasch ordnen wir die Seile neu und setzen den Abstieg fort. Ich folge weiter dieser eisigen Gruft, doch bald wird sie zu eng. Mit Mühe gelingt es mir, mich an die Oberfläche hinaufzustemmen Wie aber weiter? Rechts die glatte Wand, links nichts als ebenso glatter, harter Firn. In tiefer Kauerstellung, fast auf den Schuhen hockend, stütze ich mich mit der linken Hand und der Spitzhaue des Pickels und suche mit der rechten Hand Reibung am Fels. Es geht noch ganz leidlich, wenn man sich von oben gesichert weiss, aber wie kommt Walti herunter? So bald als möglich lasse ich mich wieder in den Spalt hinab, wo ich mich so verstemmen kann, dass ich einen Sturz Waltis auffangen könnte.
Wir beginnen immer mehr unter der Kälte zu leiden. Ich zittere derart, dass ich kaum mehr sprechen kann. Ein Wort spukt in meinem Kopf herum: Unterkühlung. Will denn dieses schreckliche Couloir kein Ende nehmen? Die vom Schneewasser aufgeweichten, zerschundenen Hände schmerzen. Wir klettern rücksichtslos mit dem ganzen Körper; Knie, Ellbogen, Schultern, alles ist uns recht, um Reibung zu erzeugen oder uns zu verklemmen Einen gefährlichen Gedanken, der sich wie ein Gift bei mir einschleichen will, muss ich gewaltsam verdrängen: « Wenn wir nur ausgleiten würden, dann wäre die ganze Qual in Sekunden vorbei. » - Doch dort drüben grüsst immer noch das kleine, tröstliche Licht von Soglio!
Wie spät es wohl ist? Wir haben keine Ahnung. Doch Mitternacht muss vorbei sein, wir stecken ja schon unendlich lange in diesem Couloir. Was denkt wohl die Hüttenwartin in der gastlichen Sciorahütte? Sicher nimmt sie an, dass wir auf die viel leichtere Albigna-Seite abgestiegen seien. Hoffentlich glaubt sie das, dann kann sie ruhig schlafen.
Schon glaube ich, dass wir den seitlichen Ausstieg aus dem Couloir verpasst haben und bald einmal auf dem Bondascagletscher landen werden, als wir ganz überrascht ein gutes Band unter den Füssen spüren. Ein Band, das für uns beide genügend ebene Standfläche bietet! Und richtig, vorn können wir auch einen Felszahn unterscheiden, den Zahn, der den Ausstieg markiert! Wie da unsere Stimmung in die Höhe schnellt! Sofort beginnen wir, mit Stampfen und Um-uns-Schlagen das Blut wieder richtig in Umlauf zu bringen. Und langsam erwarmen unsere Glieder wieder, doch um so unangenehmer empfinden wir die vor Nässe und Schmutz steifen Kleider.
Mit neuer Hoffnung nehmen wir unsern Weg wieder auf. Das Band führt uns ohne Schwierigkeiten auf die rechte Begrenzungsrippe hinaus. Endlich diesem schaurigen Schacht entronnen! Auch beginnt jetzt schwacher Mondschein durch die Wolken zu dringen. Wenn wir aber geglaubt haben, mit einigen Schritten beim Felszahn zu sein, so haben wir uns schwer getäuscht. Ganze vier Seillängen benötigen wir, bis wir bei dem zum ansehnlichen Turm angewachsenen Zahn stehen. Der Fels ist nicht schwierig, doch erfordert die Kletterei, bei dem von hinten einfallenden trügerischen Mondlicht, sehr viel Geduld.
Endlich sehen wir den kleinen Sciorafirn direkt zur Rechten unter uns. Indem wir aus Sicherheitsgründen nochmals das Seil als Geländer einhängen, erreichen wir über eine glatte Platte und mit einer kleinen Querung den steilen Firn. Dessen guter Zustand erlaubt uns einen raschen, sicheren Abstieg zur Moräne. Und nun entwickelt Walti einen feinen Spürsinn, um uns über die verschiedenen, sehr unrgelmässigen Moränenwälle auf den grossen Blockhang, direkt über der Hütte, zu bringen. Wie froh sind wir nun ob dem hell schimmernden Blechdach der Hütte, die sonst nachts, inmitten hausgrosser Blöcke gelegen, sehr schwer zu finden wäre.
Wenig oberhalb der Hütte bemerken wir, wie sich einige Lichter von ihr in südlicher Richtung entfernen. Aufbrechende Bergsteiger... Es ist vier Uhr, wie wir über die Schwelle der Sciorahütte treten, dieser Hütte, die uns während einer ganzen, langen Nacht als das begehrenswerteste Ziel der Erde erschienen ist. Noch immer brennt das kleine Licht von Soglio, das in dieser Nacht uns lieb-geworden ist, wie ein Gruss der Menschen an zwei um ihren Abstieg zu den Menschen ringende Bergsteiger.