Nächtliches im Lager 4
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Nächtliches im Lager 4

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Marc Eichelberg

Wo, zum Teufel, befindet sich die verdammte Taschenlaterne? Ich muss hinaus. Zu Hause, wenn man muss, geht man. Ganz einfach. Nächste Türe links. Hier, wenn man geht, muss man wirklich. Man handelt dann im Sinne eines wohlabgewogenen und lange verzögerten Entschlusses. Ist doch zu bedenken, dass morgen - vielleicht - die Sonne wieder scheint.

Daunen, wo immer ich auch hintasten mag. Daunenschlafsäcke, auf denen der feuchte Atem kleine Gletscher bildet, Daunenjacken, Daunenhosen, Daunenhandschuhe und Daunenfinken.

Draussen donnert ein Sérac in die Tiefe. Der 22-Uhr-50-Express. Ohne Halt bis Lager 1. Man bekommt mitunter das Gefühl, die Zelte unmittelbar neben dem Bahnhof Olten aufgeschlagen zu haben. Wenn ich an die mächtigen, blaugrünen Eisklötze denke, scheint es unfasslich, dass solch gewaltige Gebilde zusammenstürzen können. Wie ich als kleiner Junge nie geglaubt hätte, dass die Dachtraufe, an der ich auf und ab turnte, einmal brechen würde.

Pullover, Windanzug, Schreibpapier; je aufgeregter ich umherwühle, desto grösser das Durcheinander. Die nassen, kalten Zeltwände umgrenzen einen Raum von knapp zwei Kubikmetern. Man würde es kaum für möglich halten, dass sich in diesem engen Keil eine derartige Unordnung breit machen kann.

Peitschend knattern die Zeltblachen im Winde. Oben, am Gipfelgrat, treiben wohl wieder jene gewaltigen Schneefahnen, die wie langfingrige Nebelfetzen steil in den Himmel ragen und deren Ausmasse ich nicht zu schätzen wage, weil die ungewohnten Dimensionen im Himalaya unseren Schätzungen immer wieder unrecht geben.

Ärmlich scheint mir der Mensch zu sein, der sich nie gegen den Sturm stemmen durfte, wenn scharfe Eisnadeln ins Gesicht schlagen und wenn man lacht. Lacht, weil das heisse Blut durch den Körper jagt, weil man das Leben unmittelbar spürt und weil der Kampf ehrlich, hart und rücksichtslos ist.

Solcherart wird dort oben der Kampf sein, und wir werden ihn bedächtig, ruhig - und begeistert - kämpfen. Doch zuvor müssen in der nahezu 2000 m hohen Steilflanke über uns noch mindestens zwei Lager errichtet werden. Immer wieder haben wir hinaufgespäht und noch nirgends einen Vorsprung, keine noch so kleine Nische entdeckt, wo wir ein Zelt aufstellen oder ein Schneeloch ausheben könnten. Und doch, es wird, es muss gehen! Haben wir im Verlaufe unserer Expedition nicht schon mehrfach dem « Unmöglich » ein « Trotzdem » entgegenzustellen vermocht?

Pfui, wie kommt denn die halbleere Marmeladebüchse hierher? Und wie kommen die zerquetschten Zigaretten in die Marmelade? Ach, meine Brieftasche! Wie kam ich nur auf den Gedanken, ausgerechnet eine Brieftasche ins Lager 4 zu schleppen? Als hätte ich die kleine Photographie nicht anders verpacken können.

Natürlich, in den Filzschuhen! Habe sie ja noch absichtlich hineingesteckt, um im Notfalle nicht lange suchen zu müssen. Na ja - jedenfalls habe ich jetzt Licht.

Vorsicht mit dem Reissverschluss! Nicht würgen, auch wenn er vereist ist. Ich habe da meine Erfahrungen mit Reissverschlussreparaturen in 6000 m Höhe. Mit klammen Fingern Zäckchen für Zäckchen einzuhaken - dann die letzten drei Zäckchen - stundenlang -brrr!

Endlich! Aufatmend krieche ich in die sternenklare Nacht. Es ist frisch, unerhört frisch sogar, geradezu blödsinnig frisch!

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