Neue Abstiege am Höhlenstock
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Neue Abstiege am Höhlenstock

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Felix Tharin.

Erlaubt ist, was gelingt. Guido Lammer.

1. Der Westgrat.

Der Höhlenstock oder das Maderaner Weissstöckli, 2908 m, erhebt seinen kühnen Gipfel in der Windgällenkette zwischen dem Stäfelstock und dem Gwasmet. Er ist bis jetzt nur auf einem Wege mit verschiedenen Varianten bestiegen worden. Der Abbruch im Westgrat ist so mächtig, dass er entweder nie angegangen worden ist oder jeden Versuch glatt abgeschlagen hat. Es war deshalb nicht gerade unfair, wenn man ihn von der schwachen Seite, d.h. von oben, zu begehen versuchte.

Am 19. August 1934 verlassen Freund Künzel und ich bei Tagesanbruch die Windgällenhütte mit 80 m Seil und dem üblichen Werkzeug, und um 6 Uhr sind wir bei der Kellerhöhle, wo wir die Nagelschuhe ausziehen. Leider müssen wir sie über den Grat mitnehmen, denn der Ausstieg ist eine gute halbe Stunde von hier entfernt. Ferner müssen wir mit dem kurz vorher gefallenen Neuschnee rechnen, der in ziemlich grossen Flecken in der Nordwand klebt, und wir wissen nicht, ob wir den aperen Grat immer verfolgen können.

Zufälligerweise schlagen wir die Variante ein, die auf den Westgipfel führt. Es war ein Glück, denn der Übergang vom Ost- zum Westgipfel ist von einer 5 m hohen Stufe abgesperrt, die nicht umgangen werden kann. Wir finden oben einen verrosteten, losesitzenden Mauerhaken, seilen in die Scharte ab, lassen das Seil hängen und gelangen zum Hauptgipfel, 2908 m.

Mit Hilfe des schief hängenden Seiles können wir so verhältnismässig leicht zum Westgipfel zurück und machen uns sofort an die Arbeit. Es ist 8 Uhr, das Wetter sehr schön, die Luft recht bissig, denn der Wind bläst von Norden. Schon eilen die ersten Bergsteiger der Grossen Windgälle zu, deren Neuschneekleid in der Sonne glänzt. Links von uns, 300 m tiefer, ruht der harmlose Stäfelgletscher. Rechts sind die grossartigen Abstürze der Nordwand mit den glatten, steilen Platten, dis bisher jeden Besteigungsversuch siegreich abgewiesen haben. Von hier aus gesehen vergeht einem die Lust, seine Kräfte daran zu probieren.

Künzel geht voran. Als Zweiter muss ich öfters abseilen, wo er, am Seil gesichert, nur hinunterklettern kann. Schon am Gipfelkopf muss ich ein kurzes Stück abseilen, da der Grat sehr plattig und abschüssig ist. Von Griffen keine Rede! Dann folgt wieder eine kleine Erhebung und eine Senkung, die ein Abseilen von 15 m erfordert. Einige Türme und Scharten werden überklettert; das Gestein ist nicht gerade schlecht, nur müssen wir den jungfräulichen, sehr luftigen Grat fortwährend von der obersten losen Schicht freilegen, ehe wir ihn betreten dürfen.

Eine senkrechte, 15 m hohe Stelle, die im Aufstieg zur Not tief südlich umgangen werden könnte, erledigen wir durch Abseilen. Der Grat wird noch luftiger, schmal und bröckelig. Nach einem Rücken von etwa 10 m folgen wir dem kurzen waagrechten Grat bis zu einem markanten Gendarmen. Diesen umgehen wir nördlich über Platten. Nur ein kurzes Gratstück trennt uns noch vom letzten mächtigen Abbruch. Die ersten 20 m sind nicht sehr steil, und die Gratkante kann man im Schenkelsitz bis zu einer kleinen Schulter noch einhalten. Da müssen wir einsehen, dass unsere vereinigten Seile nicht bis zur nächsten Stufe reichen würden. In der Nordwand aber zieht sich steil hinunter ein kaminartiger Riss, der scheinbar in die offene Wand ausläuft. Also gehen wir von unserm Sattel aus auf ein breites, abschüssiges Band, das leider mit Schnee bedeckt ist, ca. 6 m nach Osten in die Nordwand, wo der Riss beginnt. Auch da muss ich von Anfang an wegen Schnees abseilen. Zwei Absätze weiter unten bereitet Künzel den Platz für eine Seilschlinge — heute die erste.Von dieser Schlinge aus 12 m einem Spalt entlang hinab. Bei schlechtem Stand schlagen wir links den ersten und einzigen Mauerhaken mit grösster Mühe ein und können wiederum 40 m anhängen.

Dann beginnt eine Kletterei, an die wir uns unser Leben lang erinnern werden. Wenn es bisher relativ gut und rasch gegangen ist, so scheint sich der Grat so nahe am Ziele nicht kampflos ergeben zu wollen. Wir sind ca. 15 m von ihm abgekommen und müssen jetzt waagrecht hinüberqueren. Brüchiges Gestein, ohne Griffe und Tritte, die Wand sozusagen senkrecht. Das liebe Seil zieht uns von links her höllisch in die Wand, und wir dürfen doch um keinen Preis aus dem Schenkelsitz heraus. Dazu ist es absolut unmöglich, den kleinsten Riss zu finden, wo man einen Haken eintreiben könnte, und der Rucksack versäumt auch nicht, seine unangenehme Anwesenheit zu betonen.

Künzel hat den Grat erreicht. Auf sehr zweifelhaftem Stand hält er das Seilende fest, so dass es mir etwas leichter fällt, diese unheimliche Querung zu unternehmen. Er steht aber so schlecht, dass er noch 4 m hinunter sollte, um mir Platz zu machen. Das Seil ist aber aus und die Kletterei schrecklich exponiert. Es gelingt ihm doch, und ich kann seinen früheren Stand einnehmen. Zwischen uns ist ein kleiner Vorsprung, der zum Abseilen dienen könnte. Auf mich fällt die unangenehme Pflicht, diese Maurerarbeit zu übernehmen. Das Seil hängt immer noch am Haken in der Nordwand. Am Ende des Kamins macht es einen rechten Winkel und kommt waagrecht bis anderthalb Meter ob meinem Kopfe. Dort biegt es um eine ganz kleine Warze, so dass ich mich am senkrechten Seilende halten kann. Aber das Ding da oben ist klein, so klein, dass ich kaum loslassen kann, denn die geringste Bewegung nach oben könnte die ganze Geschichte lösen und... hinaus in die Nordwand.

Mit dem ausgestreckten linken Arm halte ich mich am Seil; meine rechte Hand kann gerade noch den Vorsprung unten erreichen und mit dem Hammer zurechthauen. Diese Arbeit dauert wohl eine Viertelstunde. Dann muss ich noch das Reserveseil aus dem Rucksack nehmen und um das Köpflein legen. Jetzt kann Künzel in die Höhlenlücke abseilen. Mir bleibt aber noch die Aufgabe, das erste Seil einzuziehen. Trotz dem scharfen Bogen beim Kamin kommt es zu unserer grossen Freude verhältnismässig leicht herunter, wir hatten schon mit seinem Verlust gerechnet. Dann muss ich ohne Sicherung das kurze, aber äusserst exponierte Stück bis zur Abseilstelle durchklettern, und bald stehe auch ich in der Höhlenlücke 1 ).

Im Abstieg war der Westgrat überwunden worden; ich glaube aber behaupten zu dürfen, dass der grosse Abbruch im Aufstieg nicht erklettert werden kann. Der Quergang ist unmöglich, und einen anderen Zugang gibt es nicht. Der Grat selbst ist so überhängend und die Südwand so glatt, dass sie beide ausser Frage stehen. Das Kamin kann von unten her nirgends erreicht werden.

Wohl waren wir in der Höhlenlücke, aber noch nicht auf dem Stäfelgletscher. Der gegebene Ausgang sollte über die Route 70 vom Stäfelstock führen. Der Grataufschwung, der noch zu überwinden wäre, sieht keineswegs einladend aus 2 ). Weil wir über 80 m Seil verfügen, wollen wir den Abstieg direkt zum Gletscher über die Platten versuchen. Von der Lücke zieht nach Westen eine schlechte Schuttrinne hinunter. Diese benutzend, gelangen wir auf ein schmales Band und verfolgen es bis an eine Ecke. Wieder wird ein Kopf notdürftig zurechtgehauen, und bald hängen unsere sämtlichen Seile daran. Weil wir das Seilende nicht sehen können und nicht wissen, ob es bis zum Firn langt, gehe ich mit Hammer und Haken voran, um nötigenfalls auf einer weniger steilen Platte in der Mitte eine neue Abseilmöglichkeit zu schaffen. Dies wird aber überflüssig, wir können in einem Zug hinunter. Die Höhe beträgt 35 m.

Die fünfstündige Überkletterung war prächtig gelungen und dem Höhlenstock ein interessanter Abstieg erschlossen. Das schönste Wetter hatte unser Unternehmen begünstigt, und der wenige Schnee in der Nordwand war uns kein Hindernis geworden. Eine Besteigung des Höhlenstockes mit Abstieg auf dem gewöhnlichen Wege füllt den Tag eines leidenschaftlichen Kletterers niemals aus. Möge der Abstieg über den Westgrat diese Lücke ausfüllen und den anspruchsvollsten Kletterer befriedigen! Diese Fahrt ist abwechslungsreich, recht luftig und wegen der Seilmanöver sehr interessant. Achtzig Meter Seil sind aber zu knapp. Für den Quergang sollten es wenigstens 45 m sein; von dort in die Lücke nochmals 40 m, die zu gleicher Zeit in Anwendung kommen.

2. Überschreitung der Höhlenlücke.

Beim Abstieg über den Westgrat hatten wir also die Lücke erreicht, die zwischen dem Stäfelstock und dem Höhlenstock eine tiefe Einsenkung bildet. Sie erhebt sich ca. hundert Meter über dem Stäfelgletscher, währenddem die Nordseite in einer furchtbaren Flucht von glatten Wänden ca. sechshundert Meter tief zum Firrenband abbricht. Der Blick hinunter auf diese Platten ist wohl das Grossartigste, was diese Kette bietet. Eine Besteigung von der Nordseite kann als eine Unmöglichkeit angeschaut werden, um so mehr wenn man weiss, dass zwischen dem oberen Brunnifurkeli und dem Einstieg zur Gwasmetnordwand eine ununterbrochene senkrechte ca. hundert Meter hohe Wandstufe jeden Zugang versperrt.

Was aber im Aufstieg unmöglich ist, kann immer im Abstieg versucht werden. Der Furggengrat am Matterhorn, die Nordwand der Drus und neben anderen auch unser Westgrat am Höhlenstock liessen sich vorerst nicht anders bezwingen, und dieser Gedanke gab mir den Anlass, diese unbegangene Wand hinabzuklettern.

Um diese Nordabstürze zu studieren, opferten Freund Künzel und ich einen Sonntag für die Besteigung des einzigartig gelegenen Brunnitaler Weissstöckli. Dabei wurde mir klar, dass die unterste senkrechte Stufe nicht « soooo » hoch war. Ich schätzte sie auf nur achtzig Meter. Der mittlere Teil sollte leichter sein bis zur Stelle, wo die grossen Platten beginnen. Dort befinden sich aber mehrere Verschneidungen, die sich infolge der Schichtung in der Wand des Stäfelstockes verlieren. Solche Formationen bedeuten für uns gute Abseilmöglichkeiten und sichere Stellen zum Stehen. Ganz oben allerdings wird die Geschichte ordentlich glatt, und bei der Höhlenlücke sind keine solche Verschneidungen mehr vorhanden. Diese Feststellung allein sollte mich nicht davon abhalten, einen Versuch zu unternehmen, der, wenn er misslingen sollte, noch rechtzeitig abgebrochen werden konnte. Für mich war es beschlossene Sache. Weil aber Künzel für dieses Unternehmen leider keine Begeisterung aufbringen konnte, hielt ich nach einem anderen Begleiter Umschau. Mein junger Freund H. Trachsel, der im schlechten Kalk der Waadtländer Alpen gute Erfahrungen gesammelt hatte und sich als ausgezeichneter Kletterer erwies, erklärte sich gerne bereit, mitzumachen. Das Gebiet war ihm unbekannt, aber im Anblick der vielen Seile und Eisen strahlte er von einer Freude, dass ich wusste, den richtigen Begleiter gefunden zu haben.

Beim Mondschein verlassen wir am 18. August 1935 um 23/4 Uhr die überfüllte Windgällenhütte. Wir tragen 150 m Seil in Stücken von 30, 40 und 80 m, dazu 12 Mauerhaken und ein kleines Spitzeisen, um Abseilköpfe zurecht-zuhauen. Endlich zwei Packetlein Biskuits und trotz recht zweifelhaftem Wetter das grösste Zutrauen in unsere Unternehmung.

Um 430 Uhr steigen wir in die Felsen des Stäfelstockes ein und über das seichte Band, das nach rechts zieht, erreichen wir bei Tagesanbruch den Ostgrat. Gleich wird 20 m abgeseilt. Um einen unangenehmen Felskopf zu umgehen, weitere 15 m in ein Kamin der Südseite. Es ist dasselbe Kamin, das ich mit Künzel seinerzeit benützt habe zum Abstieg von der Lücke. Nach rechts ansteigend erreichen wir die Lücke bei einer Höhle, die meine Aufmerksamkeit erregt: sie ist nämlich durchgehend, und der Blick verliert sich in die Plattenwand der Nordseite. Sie erscheint uns auch viel angenehmer als die abscheulichen, mit Neuschnee bedeckten Platten gerade unterhalb der tiefsten Einsattelung, so dass wir gleich durch den Berg hindurch die Abseilerei beginnen. Zwanzig Meter senkrecht und unten ein schönes Plätzchen zum Stehen! Das Seil ziehen wir ein; noch ist es Zeit, und der Rückgang ist noch nicht abgeschnitten; wohl aber beim zweiten Stück, wo wiederum 20 m auf scheusslich vereisten Platten gewonnen werden. Bevor wir das Seil einziehen, überlegen wir uns ernsthaft, ob wir uns den Rückzug abschneiden wollen. Wir sind aber fest entschlossen, heute den Abstieg zu riskieren, und wir ziehen feierlich das Seil ein. Keine Technik kann uns mehr helfen, die Lücke wieder zu gewinnen. Von jetzt an können wir nur noch abwärts.

Das Vierzigerseil wird eingepackt und das nagelneue Achtziger durch den Abseilhaken gezogen. Für uns beide ist es das erste Mal, dass wir mit so viel Seil arbeiten, und es löst in uns sonderbare Gefühle aus. Ein so langes, dünnes ( 9 mm ) Seil dehnt sich ziemlich viel aus, und beim Loslassen geht es bei vierzig Meter etwa um anderthalb zurück. Die Sache wird aber bald zur Gewohnheit, und wir achten dessen kaum mehr. Viel unangenehmer ist jedesmal das Zurückziehen, und unsere vereinigten Kräfte reichen oft kaum aus, ganz besonders, wenn der Stand miserabel ist, glatt oder schmal. In den oberen Teilen kommen wir ohne Mauerhaken nicht aus, denn es gibt buchstäblich keine Möglichkeit, eine Seilschlinge an einem Block anzubringen. Mein Vorrat an Eisen ist aber nicht unerschöpflich, und sobald es nur geht, höre ich mit Hämmern auf.

Wir haben uns schon vier Seillängen abgeseilt. In der fünften sind wir durch ein kleines Kamin nach rechts, dann nach links, weiter über bauchige überhängende Platten, dann wiederum nach links durch eine Verschneidung auf schlechten Stand geraten. Trotz Trachsels grösster Sorgfalt, der als Letzter immer auf Verdrehung und Verknüpfung der Seile zu achten hat, ist es nicht loszubringen. Ziehen mit allen Kräften, süsse und saure, deutsche und französische Verschwörungen, Rütteln und Standwechsel, es hilft einfach nichts. Gegen meinen Willen — ich hätte das Seil lieber geopfert — zieht Trachsel seine Kletterschuhe an. ( Wir waren auf aperem, aber nicht trockenem Fels. ) Mit Hammer, Eisen und dem Vierzigerseil klettert er ohne Sicherung auf schwierigen Umwegen die vierzig Meter wieder hinauf. Es vergehen anderthalb Stunden, bis er wieder erscheint. Die Unmöglichkeit, ihm behilflich zu sein ( ich sehe ihn nicht einmal ), die Untätigkeit, die schlechten Wetteraussichten, meine eigene unsichere Lage und der unerbittliche Steinschlag stellen meine Nerven auf harte Probe. Und mein Freund kämpft dort oben mit Stein und Eisen und mit den Verwickelungen eines neuen, achtzig Meter langen Seiles.

Indessen habe ich wohl Zeit, die Gegend zu betrachten. Rechts von mir erhebt sich senkrecht die Ostkante der Stäfelstocknordwand. Aus dieser fallen in regelmässigen Abständen etliche Rinnen, die allmählich in unsere Wand verlaufen und uns guten Stand und Abseilmöglichkeiten bieten werden. Von Verschneidungen kaum unterbrochen verliert sich links die Plattenflucht in die grosse Mulde unter dem Gwasmetpass. Hoch über uns ragt die heute dunkelgraue Masse des Höhlenstockes, Nebel verschleiert die mit Neuschnee überdeckten Felsen, und hie und da sieht man aus dem Westgrat einige Türme stossen. Immer freundlich grüsst der Pucher in seinem weissen Mantel, und der Ruchfensterstock zeigt zwei trotzige Türme und seine unnahbarste Seite, die plattige Nordwand. Aus der Ruchenwand ertönen trotz dem Nebel freudige Rufe; ja dort ist es nicht so steil, so sauber gefegt, so steinschlägig! Tief unten, noch sehr weit für uns, winkt die Brunnialp. Oh! es wäre jetzt so schön, so friedlich auf der Br... Beng — Beng. Ein grosser Stein hat den Rucksack sehr schön getroffen, ein zweiter neben meiner halb erstarrten Hand aufgeschlagen; andere, eine ganze Menge, folgen und brummen wie Flugzeugmotoren in allen Tonarten eine unheimliche und doch schöne Musik. Dann wird es wieder still. Auch Trachsel kommt am Seil herunter. Das Einziehen geht diesmal leicht und ohne Säumen.

Etwa 350 m haben wir so abgeseilt, teils über sehr steile, teils senkrechte und auch überhängende Felsen, und sind in einem für unsere Begriffe wunderschönen Kamin gelandet. Es geht jetzt leicht über Schuttabsätze, Wasserrillen, mehr oder weniger mit Schutt bedeckte Bänder ohne Seilhilfe hinunter, sogar in den Nagelschuhen ohne Schwierigkeiten. Ich schätze dieses Stück 150 m hoch. Dann ziehen wir stark nach linksunter dem Stäfelstock — über gute Bänder, die schräg aufwärts führen und die wir dreimal mit Abseilen verlassen. An dieser Stelle, vermute ich, ist das Firrenband am höchsten.

Wegen des Überhangs sehen wir nicht hinunter. Ein letztes Stück wird abgeseilt, gerade 20 m, und wir stehen auf einer kleinen Kanzel, direkt am Abgrund...

Es ist schwierig zu erklären, was ich bei diesem Anblick verspürte. Furcht, Hilflosigkeit oder blossen Ärger über mich selbst, der allein schuld ist an unserer Situation. Trachsels Gesicht verrät nichts, aber gar nichts. Er scheint die Ruhe selbst. Er spricht kein Wort und sucht nach einer Standmöglichkeit in dieser senkrechten Wand. Gedanken aller Gattungen schlagen sich in meinem Kopfe herum. Keine Schlingen mehr und jedenfalls kein überflüssiges Seil, nur noch drei Mauerhaken, zwei Karabiner ( einer ist uns vorausgegangen ) und diese Wand, die furchtbarste aller Wände, die ich je als einzigen Ausgang erblicken konnte! Oben versperrt, links versperrt, rechts hoffnungslos, nur die Wand senkrecht unter uns, die uns sogar den Blick in die Randkluft vergönnt.

Und doch muss es sein. Ich habe es so gewollt, und meine Verantwortung meinem jungen Freund gegenüber erscheint mir grosser als je. Ich habe seinerzeit die Höhe gewiss unterschätzt, nur hilft uns das heute nicht aus der Tinte. Zum Glück hält sich das Wetter noch, und es wird mir hier auch bewusst, wie ich meinem Begleiter dankbar sein darf, dass er sich dort oben die gefährliche Mühe gegeben hat, das Seil zu holen.

Es heisst jetzt handeln. Ich erblicke 20 m unter uns einen winzigen Stand, schlage den drittletzten Mauerhaken ein, hänge das Vierziger daran und seile mich ein Stück weit ab. Ich muss bald erkennen, dass die kleine Wasserrille da unten nicht einmal für einen Mann Raum bietet. So geht es also nicht. Ich rufe Trachsel zu, er solle einen neuen Haken etwas mehr nach Osten einschlagen und die 110 m zusammen dranhängen. Es vergeht wieder eine Stunde, bis die Seile richtig hängen, und ich habe wiederum Zeit, meine Betrachtungen fortzusetzen. Nur ist meine Stimmung bedeutend gesunken. Ich stehe auf dem halben linken Fuss, das rechte Bein in einer Wasserrinne, die mir den Schuh bald zum Überlaufen bringt, und halte mich mit verkrampften Händen am dünnen Seil. Die Wand ist hier vollkommen senkrecht und meine Lage dementsprechend. Dabei fängt es an zu regnen und die Seile, von den vielen Wasserrinnen schon nicht mehr trocken, versprechen uns ein bedeutend erhöhtes Vergnügen. In 90 m Tiefe gähnt die 2 m breite Randkluft. Verzweifelt kämpft Trachsel mit dem heimtückischen, nassen und schweren Seil. Steine pfeifen fortwährend in der Luft und schlagen auf dem Firrenband oder sogar im unteren Geröllfeld wuchtig ein. Keiner trifft uns, das unheimliche Geheul unterbricht immerhin die Eintönigkeit der Lage.

Für meine Glieder ist es höchste Zeit, als mir Trachsel endlich zurufen kann: « Ça y est! » Und ich lasse mich nicht lange bitten, meineLage zu wechseln. Ich seile noch vier Meter ab und kann pendelnd das andere Seil erreichen. Ich weiss heute nicht mehr, wie ich an dieser senkrechten Mauer den Wechsel vollbracht habe. Währenddem ich mühsam und ruckweise die Wand hinunter-gleite, sammelt Trachsel das Vierziger und den zweitletzten Mauerhaken ein. Es regnet jetzt heftig, die Felsen fangen hier naturgemäss das Wasser der ganzen Wand ein, unsere Lage wird immer schöner. Wir stehen auf halber Höhe in der Wand. Dem Seil scheint es aber hier zu gefallen; dank dem Regen wunderbar verdreht, lässt es sich mit keinem Argument zurückziehen. Da haben wir die Bescherung! Hier ist wenigstens von Zurückklettern keine Rede. Wer von uns würde in diesem Regen an dieser Mauer nur ein paar Meter wagen!

Reicht unser Vierziger mit den Stücken, die wir noch abschneiden können? Wir probieren. Und es geht. Was wir vom langen Seil noch erwischen, schneiden wir ab, knüpfen alles zusammen und werfen die ganze Geschichte über Bord. Es reicht nicht in den Schrund, aber auf einen guten Absatz. Dort lässt sich ein Mauerhaken nirgends eintreiben, wir haben übrigens keinen mehr, aber das Spitzeisen kommt uns in letzter Stunde noch zu Hilfe und ein Stücklein Packschnur gibt eine Schlinge. Freudig und erleichtert landen wir bald im Schrund, gerade neben dem Karabiner, der vor drei Stunden von uns Abschied genommen hatte.

Es ist 16 Uhr. Der Regen lässt sofort nach und zieht sich, ohne uns besiegt zu haben, zornig gegen das Glarnerland zurück. Der Höhlenpass war überschritten worden.

In Anbetracht der Schwierigkeiten, die uns im Abstieg begegnet sind, könnte man leicht dazu verleitet werden, einen Aufstieg als ausgeschlossen zu erklären. Ein solches Urteil darf aber heutzutage nicht gesprochen werden. Mit Mauerhaken liesse sich gewiss etwas erreichen, aber nur in beschränktem Masse, denn es ist oft absolut unmöglich, den kleinsten Riss zu entdecken.

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