Patagonien - zum Gipfel zurück
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Patagonien - zum Gipfel zurück

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Kaspar Ochsner, Meiringen

Die Gipfel des extrem wetterexponierten Fitz-Roy-Massivs verstecken sich praktisch immer unter einem Wolkenhut.

Reise in eine andere Welt Im äussersten Süden Lateinamerikas erheben sich die formschönen Granitnadeln der Cerro-Torre- und Fitz-Roy-Gruppe. Die extrem wetterexponierte Lage, gewaltige Granitwände und eine ebenso wilde wie urtümliche Umgebung verleihen diesen von Sturmwolken umhüllten Gipfeln einen Mythos der Unantastbarkeit. Das aber gibt ihnen auch ihre besondere Anziehungskraft und lässt sie zu einer der immer noch grössten bergsteigerischen Herausforderungen werden.

Als mein Freund Michal Pitelka und ich die letzte Autobusetappe auf unserem Weg durch die immense Weite der argentinischen Pampa hinter uns bringen, können wir den Anblick der patagonischen Berge kaum erwarten. Voll Übermut wegen des schönen Wetters stellen wir schon Spekulationen über eine Blitz-Besteigung des Cerro Torre an. Denn noch haben wir nicht die Erfahrung gemacht, dass sich die Verhältnisse der ebenen Pampa von jenen in den Bergen unterscheiden wie Tag und Nacht. So scherzen wir weiter und malen uns aus, wie die in einem Monat nachfolgenden Freunde einen solchen Erfolg nur noch werden bestaunen können.

In El Chalten, einem Zwanzig-Häuser-Dorf, ist die Strasse zu Ende. Hier sieht die Realität bereits ganz anders aus, und unser Übermut scheint wie weggeblasen vom unablässig dahinfegenden Wind. Leise beginnen wir zu ahnen, was auf uns zukommt. Ein bisschen Frechheit gehört gewiss dazu, als Pata-gonien-Neulinge gleich ein derart grosses Ziel wie die Erstbegehung des 1300 Meter hohen Fitz-Roy-Ostpfeilers in Angriff nehmen zu wollen. Immerhin sind an dieser ästhetisch einmalig schönen Kletterlinie vor uns schon um die zehn Expeditionen gescheitert. Doch da wir an der Schwelle der Midlife-Crisis stehen, sollten wir eigentlich über die besten Patagonien-Voraussetzun-gen verfügen: Alpine und taktische Erfahrungen, erworben bei grossen Erstbegehungen im Fels und Eis, verbunden mit den notwendigen Überresten jugendlichen Kraftüber-schusses; wobei diese Komponenten sozusagen das Gegengewicht bilden zum bereits vorhandenen Hang nach kontemplativerem Lebensgenuss.

Trotz seriösester Vorbereitung bis ins kleinste Detail sind immer wieder neue Überraschungen angesagt. Schon der Zugang ins Basislager unterscheidet sich von einem Hüttenanstieg in den Alpen. Es gibt keine harten Wadenmuskeln, da es gar nicht bergauf geht. Vielmehr führt der Weg in Form eines gemütlichen Spazierganges durch ein flaches Tal am Fuss der Fitz-Roy-Gruppe zum windgeschützten Basislager Rio Bianco.

Am Fuss unserer Traumberge Die Landschaft ist von ursprünglicher Schönheit. Sturmzerzauste, urchige Wälder, wo jeder Baum eine eigene Geschichte zu erzählen scheint, wechseln ab mit zahlreichen kleinen Seen und Sümpfen. Diese wenige Kilometer breite Hügelzone wird begrenzt von der trockenen Pampa und der Gletscherwelt der Berge, zwei gegensätzlichen Landschaften von ähnlicher Lebensfeindlichkeit. Während manchmal tagelang die berüchtigten Stürme Patagoniens die bizarren Granitgipfel peitschen, fällt in der nahen Pampa kein Tropfen Regen. Als einzige Zufluchtsstätte, um diesen rauhen Wind- und Wetterverhältnissen etwas entrinnen zu können, dienen die aus Baumstämmen, Ästen und Plastikbahnen zusammenge-bastelten Hütten des Basislagers. Dieser Ort bildet dann auch das Zentrum einer losen Bergsteigergemeinschaft. Die zusammen verbrachten Stunden am wärmenden Hüttenfeuer und um den dampfenden Kochtopf vermitteln in diesem Klima das Gefühl einer Insel sicherer Geborgenheit. Michal äussert sich zu diesem Leben einmal sehr treffend: . Trotzdem wird gerade das Ziel Berge zu einem wichtigen Halt. Denn nur wer sich eine solche Aufgabe vorgenommen hat, verfügt über die innere Kraft, der langsam sich ein-schleichenden Trägheit und Apathie die Stirn zu bieten. Mit diesem grossen Gegensatz zwischen langanhaltender Passivität und unvermittelt geforderter Leistungsexplosion umzugehen ist bloss wenigen gegeben.

Wir sind bereits seit drei Wochen in Patagonien, als sich die Berge zum ersten Mal unter strahlend blauem Himmel zeigen und in ihrer Vollkommenheit völlig unwirklich vor uns aufragen. Wir haben uns am Vortag nach El Chalten begeben und befinden uns Ruth Baidinger im Zwischenlager am Paso Superior. Nachdem die Eishöhle aufgeschmolzen war, mussten wir zum Schütze unseres kleinen Zeltes eine Steinmauer errichten.

bei Tagesanbruch auf dem Heimweg von einer fröhlichen Neujahrsnacht. Wieder sind wir in eines dieser legendären Patagonien-feste geraten. Solche Anlässe bieten für die weit verstreut lebenden Einheimischen die ideale Gelegenheit, sich zu treffen, um dem monotonen Leben zumindest für einen kurzen Augenblick entrinnen zu können. Noch immer entströmt unseren Kleidern ein feiner Duft von gebratenem Schaffleisch. Einzig der Gesang und die dazu begleitenden Gitarrenklänge sind unterdessen zusammen mit dem Wind verstummt. Obgleich sich das ersehnte Bett bereits in Griffnähe befindet, lockt uns der Magnet Berg derart, dass wir trotz Brummschädel die sieben Stunden bis zum Paso Superior aufsteigen. Eine schützende Eishöhle ist der klassische Ausgangspunkt für die Besteigung des Fitz Roy. In den vergangenen Wochen haben wir daraus einen regelrechten Eispalast gebaut und ein umfangreiches Materialdepot angelegt.

Planung und Wirklichkeit Am folgenden Morgen eilen alle los, sei es zum Fitz Roy oder zur Aguja Poincenot. Wir haben den kürzesten Zustieg, dafür erwartet uns aber die höchste Wand, und damit besteht für uns auch die geringste Chance, je- mals den Gipfel zu erreichen. Bereits auch nur einen Versuch an diesem scheinbar Unmöglichen zu wagen fasziniert uns jedoch weit mehr, als die Aussicht einen dieser Gipfel auf sicher zu haben. Allerdings verfügen auch wir über unsere Trümpfe. Anfangs wollen wir mit Fixseilen arbeiten, so dass bereits jeder gekletterte Meter als kleiner Erfolg zu werten ist. Bei den kurzen Schönwetterphasen kann dies einen wesentlichen Vorteil gegenüber dem Alpenstil bieten, bei dem jeder Rückzug die Gefahr in sich trägt, dass gleichzeitig auch die Motivation abbröckelt. Unsere Rechnung ist einfach: Jedesmal Material mit hoch nehmen, fortlaufend Seile fixieren und am Umkehrpunkt das gesamte Klettermaterial in einem Aufziehsack hängen lassen. Jedoch führt leider der beste taktische Plan nicht zum Erfolg, wenn sich keine Gelegenheit zu seiner Ausführung ergibt. Wird nach Wochen endlich das Wetter gut, hindern uns herabstürzende Eisplatten und Staublawinen, aktiv zu werden, so dass zunehmende Zweifel unseren Optimismus regelrecht aufzufressen beginnen. Was nützen da schon die wenigen nächtlichen Stunden, die ohne objektive Gefahr am Berg verbracht werden können?

Zweifel und Entschluss Bereits sechs Wochen sind verstrichen, als wir zum zweitenmal bei schönstem Wetter unter unserem Riesengemäuer stehen. Aber- Kaspar Ochsner bei einem der häufigen Schlechtwettereinbrüche am Fitz-Roy-Ost-pfeiler mais scheinen uns die drohenden Press-schneehöcker in der Wand zum Nichtstun zu verurteilen. Dieser Umstand zerschlägt den Rest aller meiner Hoffnungen. Der Fitz Roy hat mich sogar bei Sonnenschein ausgebootet, ohne dass ich jemals Gelegenheit erhielt, ihn richtig anzupacken. Hinzu kommt noch, dass seit einer Woche meine Freundin Ruth mit drei Kollegen eingetroffen ist. Obwohl sie mit Markus ihr eigenes Vorhaben, die Besteigung des Fitz Roy über die Argentinierroute, verfolgt, werde ich zusehends in einen Zwiespalt gestürzt. An der benachbarten Aguja Poincenot haben wir nämlich ein vielversprechendes Ausweichziel entdeckt. Dieses viel kürzere Projekt könnten wir zu viert angehen, damit auch am Berg zusam-menbleiben und unsere Erlebnisse teilen. Auf dieser einzigen trockenen Aufstiegslinie kämen wir zudem unverzüglich zum schon so lange herbeigesehnten Klettergenuss. Nachdem ich meine Befürchtungen endlich losgeworden bin und mich zum Bekenntnis durchgerungen habe, der Spatz in der Hand sei doch der unerreichbaren Taube vorzuziehen, fühle ich mich deutlich erleichtert. Die Karten liegen offen auf dem Tisch, und Michal wird jetzt entscheiden, wie das Spiel weitergeht. Wie oft habe ich selber in kritischen Augenblicken einen Seilpartner mit allen Tricks motiviert und mit süssesten Tönen wieder aufzubauen versucht. Diesmal jedoch bin ich in der Rolle des Demoralisierten. Michal, meine letzte Hoffnungsstütze, antwortet jedoch trocken: . Also keine lockend-süssen Worte der Verführung, denn für ihn ist wie immer in seinem Leben alles klar: der Pfeiler, sonst nichts. Ohne weitere grosse Worte steht er vor mir, entschlossen und nicht umzuwerfen, wie der Berg, der hinter ihm in den Himmel ragt. Ich könnte mir die letzten Haare ausreissen, über seine trockenen Worte weinen und lachen zugleich. Jedoch ich weiss jetzt was zu tun ist: einsteigen!

Endlich im Fels Als es kurz vor Mitternacht dämmert, stehen wir 450 Meter über dem Bergschrund, drei Seillängen höher als das kleine Eisfeld, das uns objektiv am meisten gefährdete und zugleich den höchsten von allen vorangegangenen Expeditionen erreichten Punkt markiert. Wie schmal doch die Grenze zu unserem Glück heute war. Doch jetzt, am langersehnten Pfeiler, ist mein Herz von lodernder und unzähmbarer Begeisterung erfüllt. Über uns erhebt sich eine rotgelbe Felsbastion, Inbegriff höchster Felsqualität, eine prächtige Kletterlinie! Einladende Risse und Verschneidungen führen zum mächtigen Pfeilerkopf in der Wandmitte. Danach folgt eine in makellosem Schwung aufstrebende 150-Meter-Verschneidung, deren Anblick das Auge allein schon aufgrund ihrer vollkommenen Form entzückt. Die Krönung bietet jedoch der abschliessende leicht überhängende Doppelriss, der in seiner Einzigar- tigkeit selbst einen weitgereisten Rissfan zum Träumen bringt. Spätestens hier bereuen wir es, keine Zeit zu langen Freikletter-versuchen zu haben, um so mehr als dieser Riss sich ausnahmsweise sogar noch eisfrei präsentiert. An diesem Tag, an dem wir die Doppelrisse durchsteigen, sind wir ganz allein am Fitz Roy unterwegs - und das bei schönstem Wetter! Unser ständiges Abwarten am Paso Superior hat sich somit gelohnt. Während die anderen Expeditionsteams sich noch auf dem Weg zum Einstieg befinden, klettern wir bis auf die Höhe eines markanten herzförmigen Felsausbruchs. In meiner Begeisterung möchte ich die ganze Nacht weitermachen, um eine kompakte Wandstelle in technischer ( und damit zeitraubender ) Kletterei zu bezwingen. Die übermüdeten Muskeln signalisieren jedoch schon bald, dass es an der Zeit ist abzuseilen. Zudem hat uns ein weiter Pendelschwung in die Mitte des Herzens zu einem verborgenen Riss geführt, der die logische Fortsetzung für den nächsten Versuch verspricht.

Trotz geringer Wetterchancen nehmen wir am 1. Februar 1992 den anstrengenden und inzwischen bereits mehrere Stunden dauernden Fixseilaufstieg in Angriff. Am freihängenden Seil, im Bereich der Doppelrisse, schaukeln uns die aufkommenden Windböen beängstigend hin und her. Ein Rückzug liegt in der Luft, doch keiner von uns äussert sich in diesem Sinne und möchte die Anstrengung des heutigen Tages umsonst gemacht haben. Für meinen Pendelschwung ins Herz sind die Sturmböen sogar noch recht hilfreich. Als sich Michal den folgenden Riss hochkämpft, steigert sich der Sturm aber zu infernalischer Stärke. Tosend, wie niedergehende Steinlawinen, kracht es, wenn sich die stärksten Windböen an den Felskanten brechen. Die lose hängenden Seile werden senkrecht in die Luft geschleudert, und wir beide klammern uns an die Sicherung, als wäre dies der letzte Strohhalm, der uns hienieden noch festhalten könnte. Trotz meiner Daunenbekleidung friere ich erbärmlich, bis endlich der schwache Ton von Michals Trillerpfeife als Nachstiegssignal an mein Ohr dringt. Im betäubenden Lärmen des Orkans ist dies unsere einzige Verständigungsmöglichkeit. Ich folge nach. Dabei habe ich mir am Stand geschworen, aus diesem Inferno nach unten zu entfliehen, sobald wir wieder in die Fallirne unserer Fixseile zurückqueren können. Unser Kampf gegen die entfesselten Elemente hat das erfassbare Mass schon lange gesprengt. Es ist verrückt weiterzuklettern, doch wir sind bereits beherrscht vom Gefühl der eigenen Unzerstörbarkeit und unbändiger Kraft. Es scheint keine Barriere mehr zu geben. Aber schliesslich ist alles so hoffnungslos von Rauhreif überzogen, dass kein Friend mehr richtig klemmt.

Erst in den Morgenstunden erreichen wir ausgelaugt, aber höchst zufrieden das Basislager. An den folgenden Tagen schneit es bis ins Tal und die patagonischen Berge demonstrieren wieder einmal ihre Unnahbarkeit.

Zwischenakt in El Chalten Allmählich kehrt wieder Ruhe in Rio Bianco ein, eine Expedition nach der anderen reist ab. Auch wir glauben allmählich nicht mehr daran, unseren Materialsack mit allem Klettermaterial und Reserveschlafsäcken jemals wieder zu sehen. In diesen Wochen der Hoffnungslosigkeit sind wir froh, einheimische Freunde zu haben. Um die einseitig ge- wordene Perspektive ein bisschen aufzulockern, verweilen wir hauptsächlich in El Chalten. Bei Miguel, der ein kleines Restaurant betreibt und auch Lebensmittel verkauft, finden wir Unterschlupf. Spontan hat er innert drei Tagen Farbe besorgt, damit Ruth und ich eine Wand seines Restaurants mit einem wettersicheren Gemälde des Fitz-Roy-Mas-sivs bereichern. Überall im Raum dokumentieren Kleinigkeiten den grosszügigen und nur von den wesentlichsten Dingen geprägten Lebensstil dieser Gegend. Man findet weder Speise- noch Getränkekarte. Aufge-tischt wird stets das, was sich gerade hatte besorgen lassen. Einzig das Schnaps-, Wein-und Mate-Tee-Lager ist so angelegt, dass keine Engpässe auftreten. Wer essen will, wenn Miguel Lust zum Scherzen hat, steht besser gleich selber hinter die Theke, um den Hunger zunächst mit einem Sandwich zu stillen. Für uns als Reisende ist diese ungezwungene Freiheit und selbstbestimmende Art faszinierend und verkörpert einen Teil dessen, was mir in den Bergen so gefällt. Der in Argentinien zum Symbol von Freiheit gewordene Gaucho ist hingegen grösstenteils nur noch Klischee. Diese einst so unabhängigen Reiter sind durch die Einzäunung der Ländereien zu angestellten Viehhirten geworden. Solange Männer jedoch dem scheinbar unbegrenzten Horizont der Pampa entgegenreiten, wird dieser Mythos aber wohl nie untergehen. Uns hingegen hält ein anderer Mythos gefangen: der Pfeiler. Genährt wird unsere Hoffnung auf Erfolg durch einen 10 Tage vor unserer Abfahrt eintretenden Mondwechsel, der eine Wetterbesserung einleiten könnte.

Allein am Berg Tatsächlich, zwei Tage davor wird es gespenstisch windstill, und durch ein Wolkenloch glaube ich sogar sonnenbeschienenen Fels zu erspähen. Auch wenn niemand daran glaubt, nur schon zum Paso Superior durchzukommen, verlasse ich allein das Basiscamp. Durchströmt von einer unheimlichen Zuversicht erreiche ich Stunden später den Wandfuss. Über die teilweise vereisten Fixseile gewinne ich nur langsam an Höhe, bis sie vollends unter dem Eis verschwinden. Während ich sorgfältig Meter um Meter das Seil freilege, denke ich an meinen Freund Michal. Als ich vor fünf Wochen Ruth in Ga-lefate abgeholt habe, ist er im Alleingang über diesen Überhang hochgeklettert. Nur mit einem T-Shirt bekleidet, musste er nicht bloss die Felsschwierigkeiten beherrschen, sondern auch noch gegen den hier herunterkommenden kleinen Wasserfall ankämpfen. Ich weiss, dass ich keinen idealeren Patago-nien-Partner hätte finden können; er, der neben überragendem Können noch jene scharfsinnige Selbsteinschätzung besitzt, die es ihm erlaubt, selbst Grenzsituationen alleine zu meistern.

Das Gefühl, diesmal auch mein persönliches Mosaiksteinchen zum Gelingen beisteuern zu können, lässt mich trotz leichtem Schneefall immer höher steigen. Erst in den Morgenstunden finde ich einen kleinen Biwakplatz und schlüpfe in meinen Schlafsack. Meine ausgesetzte Warte befindet sich über einem Nebelmeer, und für eine Stunde funkeln sogar die Sterne. Ein friedliches Glücksgefühl durchströmt mich. Ich geniesse diesen intensiven Augenblick, denn ich weiss, Bei einem Erstbegehungsversuch an der Aguja Poincenot dass mir selbst das Erreichen des Gipfels -ausser der Erfolgsbestätigung - nicht ein tieferes Erlebnis bieten wird.

Schwierige Entscheidung In der kommenden Nacht finden wir uns, Ruth, Michal und ich, wieder in unserem kleinen Zelt am Paso Superior vereint. Es ist immer noch windstill, doch drückt die Last des andauernd fallenden Neuschnees schwer auf unsere kleine Behausung. Um so überraschender der Anblick am nächsten Morgen, als unsere Augen auf die glitzernde Pracht einer im schönsten Sonnenlicht sich präsentierenden Winterlandschaft fallen. Ich schlafe fast den ganzen Tag. Die Spannung ist gross, denn gegen Abend wollen wir erneut zum kleinen Biwakplatz aufsteigen, um bei Tagesanbruch unseren letzten Versuch an der Gipfelwand zu starten. Die Angst vor den heimtückisch vereisten Seilen und einem erneuten Wettersturz veranlassen mich, Ruth, die nach der Abreise ihres Seilpartners mit uns kommen möchte, zum Verzicht zu bewegen. Es ist ein beklemmendes Gefühl, sich in einer solchen Situation der Angst und Ungewissheit trennen zu müssen. So fasziniert und fest entschlossen ich in den beiden vorangehenden Tagen gewesen bin, so könnte ich in diesem Moment doch alles hin-schmeissen. Das gemeinsame zwangslose Klettern der letzten Jahre hat sich hier plötzlich zu den eisernen Fesseln eines Poker-spiels um den Fitz Roy entwickelt. Denn bereits hat man schon so viel investiert, dass nur die endgültige Gewissheit von Sieg oder Niederlage das Spiel beenden kann. Erst der anstrengende Aufstieg befreit mich von meinen traurigen Gedanken, und ich fühle mich leichter mit jedem Meter, den ich zurücklege.

In der Nacht auf unserem Biwakplatz schliesse ich kein Auge. Alle meine Sinne sind hellwach und konzentrieren sich auf den kommenden Tag. Er wird alles entscheiden und vielleicht zu einem Grenzgang werden. Neben der Bereitschaft, im Notfall auch das Letzte zu geben, verfalle ich aber immer wieder ins Träumen. Bilder steigen auf, in denen wir im schönsten Sonnenschein die letzten Meter zum Gipfel emporsteigen. Es ist wohl der Wunsch eines jeden Bergsteigers nach derart langem Ausharren, einen solchen Höhepunkt in totaler Harmonie erleben zu dürfen.

Zurück zum Gipfel Mein Optimismus ist erneut angeknackst, als am Morgen der Himmel von einer dicken Wolkenschicht überzogen ist. Trotzdem steigen wir gipfelwärts, denn heute winkt uns unsere einzige und letzte Chance. Die unberechenbaren Wetterwechsel wirken sich für einmal jedoch zu unseren Gunsten aus. Wie schnell doch das Leben ganz anders aussieht, wenn plötzlich die Sonne scheint! Michal vibriert förmlich am ganzen Körper, fast als entlade sich jetzt seine ganze aufgestaute Energie der letzten Wochen, und er ist kaum noch zu bremsen. Unsere Euphorie ist grenzenlos, und zügig klettern wir zwischen den wie Kronleuchter unter den Überhängen klebenden Eisgebilden empor. Dann endlich erreichen wir einfacheres Gelände. Die letzte Seillänge steigen wir gemeinsam nebeneinander hinauf. Den Höhepunkt der letzten Schritte wollen wir uns teilen! Hier, ganz oben, sehen wir zum ersten Mal das gesamte riesige Inlandeis bis hin zur chilenischen Küste. Wir können unser Glück kaum fassen, geniessen einfach diese Stunde, in der unser Patagonien-Traum zur Wirklichkeit wird. Dann seilen wir wieder ab. Dabei wollen wir den ganzen Pfeiler von unseren Seilen befreien, um ihn im ursprünglichen Zustand zu hinterlassen. Einzig mein Glücksbringer von Ruth, Michals Lieblingsschlinge und der Stein des jungen Argentiniers Theo bleiben auf dem Gipfel zurück. Den Stein hat er uns vor fünf Wochen anlässlich der ersten Besteigung der Saison von hier oben heruntergebracht mit der Bitte, ihn an seinen Ursprungsort zurückzubringen. Der Kreis ist damit wieder geschlossen und die aussergewöhnliche Reise des steinernen Gipfel-bewohners zu Ende gegangen.

Feedback