Pioniere
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Pioniere

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Hier finden wir eine Konservenbüchse mit den Namen der bisherigen Südgratbegeher. Keine lange Liste! Einzig die Erstbesteiger A. und O.Am-stad und G. Masetto sind vermerkt. Aber vielleicht ist es nachfolgenden Partien ergangen wie uns, dass sie nämlich keinen Bleistift hatten. Ist ja schliesslich auch nicht so wichtig!

Über die folgenden zwei Graterhebungen ( Türme 5 und 6 ) kann ich nicht viel Gutes berichten. Sie bestehen aus lauter losen Griffen; was man anrührt, bricht weg. Aber die Steilheit des Grates ist hier nicht mehr gross. Der folgende Seewenstockgipfel zeigt dafür wieder bessere Gesteins-verhältnisse. In kurzer, schöner Kletterei erreichen wir ihn um 12 Uhr. Ein blassblauer, « wolkenloser Himmel lädt uns zu ausgiebiger Gipfelrast. Das Pfeifen einiger Dohlen, die uns elegant umschweben, ist das einzige Geräusch in der Mittagsstille. Kein Wissen um einen schweren Abstieg kann einem hier die Freude an der herrlichen Gipfelstunde trüben, denn die unschwierige Route ist fast auf der ganzen Länge zu überblicken.

Die gegenüberliegenden Nordhänge des Fleckistockes bieten mit dem vielen Neuschnee einen winterlichen Anblick, und ein Ahnen um kommende Skifahrerfreuden überkommt uns. Es ist doch etwas Herrliches, dieser Wechsel der Jahreszeiten; ohne ihn wäre das Bergsteigen nur halb so schön!

Über den unschweren Nordgrat steigen wir zum Seewenfirn ab, dann geht 's über die glatten Platten und das schlechte Weglein zur Seewenalp und zurück ins Tal.

Von Pau. K.einer ( Champex ) In unseren Bergen gibt es allerhand Kämpfer: der Bauer, der dem Steilhang ein Äckerchen abringt oder an jähen Planggen sein Wildheu holt; der Wald, der dort oben an der Baumgrenze den Stürmen trotzt, im Kampfe siegt, oft aber auch unterliegt; der Bergsteiger, der die höchsten Gipfel unter seine Füsse zwingt, der von jeder Wand und von jedem Grat Besitz ergreifen will, der die Gefahr sucht, um sie zu meistern; und schliesslich, nicht aber zuletzt, auch unsere Alpenblumen, die sich trotz allen Hindernissen, die ihnen i PIONIERE da oben die Natur stellt, in die steilsten Wände, auf sturmumtobte Gräte und die höchsten Gipfel wagen.

Eben von diesen kleinen Pflanzen möchte ich ein wenig erzählen; denn für mich sind diese Frontkämpfer der Hochgebirgsvegetation nicht nur wissenschaftliches Versuchs- und Studienmaterial. Sie sind mir mehr als das: sie sind mir ein Beispiel und Vorbild eines Kampfes um hohe Ideale. Sie lehren mich hart sein gegen mich selber, Kampf und Widerwärtigkeiten des Lebens aufzunehmen und zu ertragen, nicht in passiver Ergebenheit, sondern in zuversichtlichem Ringen. Ich kann diese Pioniere nicht nur achten, ich liebe sie. Ich kann sie nicht nur beobachten, ich fühle, lebe mit ihnen. Sie gehören für mich zu den Bergen wie Granit und Eis. Im Sommer gehören sie zu meinem Leben; im Winter lebe ich von der Erinnerung an sie.

Viele Bergsteiger stellen sich vor, über der Schneegrenze nur noch einige wenige Arten zu finden und diese nur in ganz vereinzelten Exemplaren. Dem ist aber nicht so. In seinem « Pflanzenleben der Alpen » zählt Schröter nicht weniger als 263 Arten auf, die die Grenze des ewigen Schnees übersteigen. Eine ganz respektable Zahl! Ich will nicht behaupten, alle diese Arten schon in betreffender Höhe gefunden zu haben. Auch interessiert es mich nicht besonders, neue Zahlenrekorde festzustellen. Ich halte einfach meine Augen offen und freue mich an dem, was ich sehe. Und der, der dieses hochalpine Pflanzenleben liebt, der wird seine Lieblinge auch überall wieder antreffen.

Wie oft bin ich schon in den Aiguilles Dorées gewesen? Jedesmal habe ich meine Helden gefunden. Im frühesten Frühjahr freilich waren sie nicht zahlreich. Nur im Riss einer nach Süden geneigten Platte, die jahrein, jahraus schneefrei bleibt, fand ich eine ganze Kolonie des geschindelten Mannsschildes ( Androsace Vandellii ). Ich bin sicher, sie auch zu finden, wenn ich einmal im Januar oder März dort hinauf komme.

Welch ein Leben aber führen sie dort oben, und welch einen Kampf! 30° Kälte und vielleicht noch mehr ertragen sie im Winter ohne schützende und wärmende Schneedecke. Wenn ein Schneesturm mit 40 Sekunden-metern Geschwindigkeit tobt, dass alles, was nicht niet- und nagelfest ist, fortgefegt wird, dann haben sie auch manche schwere Stunde zu erleben. Der Sturm zerrt nicht nur an ihnen, er martert und quält sie noch mit den fegenden Schneekristallen, die er ihnen wie Schrot entgegenschiesst.

Um solchen Angriffen trotzen zu können, ist die Pflanze aber auch ganz besonders geschützt und bewaffnet. Eine einzige, kräftige Pfahlwurzel verankert sie tief in der millimeterbreiten Spalte des Granites. Weder Sturm noch von Versuchung und Gelüsten geleitete Menschenhand bringen diese Wurzel aus dem Felsen heraus; sie ist mit ihm verwachsen. Man kann höchstens das Polster abreissen und zerstören. Aber nicht nur die Wurzel ist der Umwelt angepasst. Die Zweige sind eng aneinander gepresst, ebenso die Blättchen, die an den Zweigspitzen kleine Rosetten bilden. Die alten, abgestorbenen Blätter faulen nicht und fallen nicht ab. Sie bleiben an ihren Stämmchen, so dass die Pflanze steinharte, volle und kugelförmige Polster bildet, die sich dem Felsen überall anpressen. So können sie der Wind und die tötenden, feilen-den Schneekristalle nicht von unten angreifen. Dazu sind sie noch mehr oder weniger stromlinienförmig gebaut, so dass sie dem Sturm sehr geringe Angriffsmöglichkeiten bieten. Das Laub aber, das im Winter Kälte, Sturm und Schneetreiben und im Sommer sehr hohen Temperaturen und stärksten Temperaturschwankungen ausgesetzt ist, ist gegen alle diese Kräfte durch einen feinen, silbrigweissen Filz geschützt.

Im Sommer aber, im August, sind die Dorées nicht nur ein ausgezeichnetes Kletterparadies, sondern noch ein wunderbarer Blumengarten. Wer würde sich das in diesen fast senkrechten Granitwänden vorstellen?

Und doch ist es so! Vor zwei Jahren habe ich auf 3400 m Höhe auf kleiner Fläche, zwischen der Javelle und dem Trident, 14 verschiedene Arten gezählt. Jetzt hatte der geschindelte Mannsschild seine weissen Blütenaugen geöffnet, ebenso sein rosablühender Bruder, der Gletschermannsschild ( Androsace alpina ). In etwas feuchten und geschützten Ecken leuchteten die roten Blüten der behaarten Primel ( Primula hirsuta ), darunter der grüne Rasen der Gletscher-weide ( Salix herbacea ). Auch die kleinen blauen Köpfe der halbkugeligen Rapunzel ( Phyteuma hemisphaericum ) zierten auf ihren ganz kurzen Stielen manche Spalte. Am weitesten aber leuchteten aus allen Enden grosse Stöcke des weissgrauen Kreuzkrautes ( Senecio incanus ) mit ihren goldleuchtenden Blütensternen.

Wie können auch so viel Pflanzen in diesen Wänden leben? Die Südwand ist zwar sehr steil, aber dennoch gibt es überall kleine Absätze, auf denen Verwitterungsmaterial liegen bleibt und Samen keimen können. Aber auch der Schnee bleibt hier liegen und schützt diesen Garten vor den Verheerungen des Hochgebirgswinters. Im Sommer ist es der Sonne ein kleines Stück Arbeit, den Rest Schnee wegzuräumen und den Pflanzen während zwei oder drei kurzen Monaten das nötige Licht und die Wärme zu ihrer Entwicklung zu spenden. Die Pflanzen eilen sich, die kurze Dauer dieser intensiven Sonnenstrahlung auszunützen, neue Blätter zu treiben, zu blühen und Samen zu reifen. Aber auch den vorspringenden Rippen des Trident und der Tête Biselx hat der Garten viel zu danken; sie bremsen den Westwind ab, der alle Wärme, die die Sonne spendet, wegzutreiben sucht.

Die Aiguille du Tour hat ihre Vor- und Nachteile. Die Nachteile bestehen hauptsächlich in der zu leichten Ersteigbarkeit des Berges, den man mit den Händen im Hosensack machen kann. Deshalb das viele Volk, das ihn besucht. Je einsamer ein Gipfel ist, um so mehr geniesst man ihn. Im Sommer freue ich mich am Gletschermannsschild, der die Aiguille du Tour bewohnt.

Er ist zwar kein seltenes Pflänzchen. Von 2500 m an findet man ihn auf Urgestein auf jeder Moräne, auf Feinschutt und in höheren Gegenden auch Spalten bewohnend.

Aber die Kolonie am Gipfel der Aiguille du Tour ist etwas Besonderes. Man muss in der zweiten Junihälfte dorthin pilgern. Dann blüht es überall, wo sich ein wenig Feinschutt angesammelt hat, und in den Felsspalten. Zu Hunderten, zu Tausenden, nichts als Gletschermannsschild! Hier sind seine PIONIERE Blüten reinweiss, an der Pflanze nebenan leuchtend rosa. Dazu gesellen sich noch Dutzende, manchmal Hunderte von Schmetterlingen, oft alle einer Art. Schmetterlinge, die man in 3500 m Höhe noch in grossen Scharen trifft, mit wunderbaren braunen Flügeln mit roten und violetten Zeichnungen. Besteht hier nicht eine Lebensgemeinschaft? Leben die Schmetterlinge von den Blüten des Mannschildes, um diese zu befruchten?

Der Gletschermannsschild gehört in die vorderste Reihe der Hochgebirgspioniere. Er zählt zu den wenigen Arten, die die 4000er-Grenze überschreiten. Der Mensch war also nicht der erste in diesem Wettkampf um die höchsten Gipfel l Es ist erst Mitte Mai, und doch habe ich solche Lust, wieder einmal eine rechte Bergtour zu machen, dass ich den Sack packe und mit meinem Freund über La Fouly zur Dufourhütte aufsteige. Es ist schon längstens Nacht, wie wir die Hütte erreichen, und in vier Stunden ist Tagwache!

Bei sternklarem Himmel ziehen wir am frühen Morgen los, über den Glacier de la Neuvaz. Es gilt dem Tour Noir, am 15. Mai. Dazu sind die Schneeverhältnisse nicht besonders günstig: Bruchharsch. Erst als die Steigung beginnt, wird es ein wenig besser. Auf den hartgefrorenen Schollen einer Lawinenbahn kommen wir rasch auf den Grat hinauf. Aber von dort bis zum Col d' Argentières versinken wir wieder im Schnee. Wir sind schon sechs Stunden unterwegs, und immer ist es noch ein ordentliches Stück bis zum Gipfel. Um der vielen Schneestampferei ein wenig auszuweichen, verlassen wir die normale Route und steigen den Grat bis unter die senkrechte Gipfelwand hinan. Dann queren wir schräg die Wand hinauf in die Lücke zwischen den beiden Gipfeln. Schon sind acht Stunden verflossen seit wir die Hütte verlassen haben. Acht Stunden nichts als Schnee, nichts als Pulver oder Bruchharsch. Da ist ein wenig Kletterei nicht nur eine Abwechslung, sondern eine wahre Wohltat. Es hat zwar fast überall noch Schnee auf den grösseren Tritten, aber das macht nichts, Hauptsache ist, Fels in den Händen zu haben und unter den Füssen. Mein Höhenmesser zeigt schon 3720 m.

Da, welch Wunder, welche Überraschung: ein grosses Polster des gegen-blättrigen Steinbrechs ( Saxifraga oppositifolia ). Und dazu noch in voller Blüte! Alles erwartete ich, nur das nicht! 2000 m tiefer unten trafen wir gestern nacht das letzte pflanzliche Leben, und nun das, nach dieser Schinderei! Die leuchtend roten Blüten bedecken die ganze Pflanze, dass man kaum einige Blättchen sehen kann dazwischen.

Mein Seilgefährte beobachtet meine Aufregung, kennt aber den Grund dazu erst, als er neben mir klebt auf dem schmalen Band und dieses Wunder bestaunt. Er ist zwar weder Gärtner noch Botaniker, aber er staunt doch. Unsere Augen leuchten, und wir sind bereit, noch zehn Stunden zu arbeiten und im Schnee zu wühlen 1 Denn diese Begegnung gibt uns neuen Mut und neue Kraft.

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