Rund um den Mont Blanc
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Rund um den Mont Blanc

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Hans Moser

( Zürich ) Ich glaube, es war das schönste Bild, das ich je gesehen habe. Ich schaute und schaute, und trotzdem mir kalt war, blieb ich draussen vor der Hütte. Schräg über den Clochers du Portalet stand der volle Mond, und sein Licht lag wie mit vollen Händen ausgestreut auf Gletschern und Wänden. Die niedere Cabane de Saleinaz versank aus meinem Sinn, und ich fand, ich stehe allein, ganz allein in einem ungeheuren Amphitheater, von dessen Pracht ich zuerst nicht recht wusste, war sie höllisch oder himmlisch. In makellosem Schwung warfen sich die « Aiguilles » in die Höhe, die « Dorées », die « Grande Fourche », die « Argentière », an welcher der Hängegletscher in vollkommenem Weiss leuchtete. Die Berge waren gut und still. Es musste ein Genuss sein, jetzt zu klettern. Nichts von dem dunkeln, drohenden Tier, das uns manchmal nachts Furcht einflösst.

Je länger ich dastand, um so mehr vergass ich meine Müdigkeit, ich fühlte die Kühle des Nachtwindes nicht mehr, und der grosse Kummer, der mich einige Tage zuvor zu Hause getroffen hatte, war klein und erträglich geworden. Körper und bewusste Gedanken zerflossen wie Nebel in der Frühsonne, das Herz war leicht und schien von kristallklarem Licht umhüllt — mich dünkte, ein Atemzug nur müsste mich weich und sanft in die Höhe tragen, dahin und dorthin, wie der Gedanke es wünschte. Schliesslich kam Louis in seinen Holzschuhen geklappert; wir rauchten noch eine Pfeife, sprachen hie und da ein leises Wort und krochen dann unter unsere Wolldecken.

Anderntags stiegen wir über den Col du Chardonnet auf den Glacier d' Argentières und ins Tal hinunter. Es war keine schwere Tour. Aber sie bot eine Fülle an neuen Ausblicken und Bildern. Vor allem wandten wir unsere Augen immer wieder zur Aiguille Verte, deren unvorstellbar steile und lange Couloirs direkt in den Himmel hinaufzuführen schienen, in einen Himmel, so blau, wie ihn nur Segantini zu malen verstand. Es war meine Schwester, die herausfand, dass Blau meine Lieblingsfarbe sei. Ich selbst hatte mir darüber nie Rechenschaft gegeben, sondern unbewusst immer blau gewählt, wenn es zu wählen gab: eine Blume, eine neue Krawatte oder eine Partnerin in der Tanzstunde.Vor allem liebe ich das helle, lichte Blau, wie es einem der Berg-herbst schenkt. Der Himmel ist dann voller Tiefe und sein etwas zu aufdringliches Sommerblau durch den Gedanken eines Nebels gemildert und ins Zarte gewandelt. Dieser Himmel in Verbindung mit dem Weiss der Firne und dem warmen Goldton der Granitwände schafft ein Bild von hinreissender Schönheit.

Spät in der Saison, waren wir die einzigen Touristen in der Weite des Jardin d' Argentières. Zarte Winde strichen über die Eismasse des Gletschers und wehten ab und zu das Geflüster eines Schmelzwassers heran. Sonst lag das Tal still und freundlich im Mittag, gesättigt vom Glück vieler Die Alpen - 1948 - Les Alpes13 Sommertage, und wir bedauerten es tief, weiter ins Tal hinunter steigen zu müssen, aus dem uns — eine Stunde später bereitsHitze. Staub und der Lärm der Autos entgegenstieg.

So kam es, dass wir nur zögernd, mit Gummisohlen lautlos über den Asphalt bummelnd, in Chamonix einzogen — einem jener Orte, die für mich wie Grindelwald, Saas-Fee, Zermatt oder Macugnaga seit meinen Bubenjahren einen besonderen Klang hatten. Wir genierten uns ein wenig, mit Pickel, geflicktem Rucksack und zerbeulten Hosen und setzten uns missmutig vor eine Wirtschaft hinter ein Glas laues Bier.

Erstaunt und einsilbig blickten wir uns um. Eine bittere Enttäuschung stieg auf. Das war Chamonix? Die Ferienzeit schien noch in vollem Gang. Grosse voUgepropfte Autocars suchten sich durch das Gewühl in der Strasse einen Weg, Taxis flitzten unter grossem Lärm vorbei, und auf den zurückgeschlagenen Verdecken der eleganten Cabriolets sassen junge Mädchen, welche ihre schönen Beine zeigten und ihre Mähne im Winde fliegen liessen. Die Menge flanierte vorbei, in Shorts, in Turnschuhen, in Regenmänteln. Natürlich, der Fehler lag an uns, wenn wir wieder einmal ein Ideal verloren, und nicht an den guten Leuten, die da fröhlich einherspazierten. Wir dummen Kerle hatten erwartet, Mummery zu sehen, und Weizenbach, Saussure und Jacques Balmat. Statt dessen kam dort Mr. Smith aus London in seinem Wolseley gefahren, und hier tänzelte Mademoiselle Gisèle aus Paris vorüber, bekleidet mit kurzen Höschen und Büstenhalter.

Wir erholten uns erst ein wenig, als dann das Bähnlein vom Montenvers ankam und eine Handvoll prächtiger Burschen mitbrachte, harte Männer mit schwarzer Baskenmütze und dem kurzen Pickel der Chamoniarden unter dem Arm: die auch heute noch berühmten Guides des Mont Blanc. Doch das vermochte uns nicht mehr ganz zu trösten, und wir trollten uns auf einem Seitenweglein betrübt in unser Quartier.

Zwei Tage später. Glücklicherweise schien der Mond. Es war halb 3 Uhr früh, als wir am Fuss der Grands Mulets die Steigeisen anschnallten, das Seil umbanden und dann gemächlich zu steigen begannen... Wir hatten schlecht geschlafen. Vielleicht war die Kälte schuld gewesen oder vielleicht die Erzählungen des sympathischen Hüttenwartes, der am Vorabend von den vielen Unglücksfällen des Jahres berichtet hatte. Wir waren auf jeden Fall froh, jetzt unterwegs zu sein. Der Bann war gebrochen, den der Berg manchmal in der Nacht vor einer Tour auf uns wirft. Noch eine kleine Stunde vor dem Abmarsch war mit unheimlichem Donnern eine Eislawine in dunkle Tiefen gestüizt und hatte uns aus leichtem Schlummer aufgeschreckt. Doch nun stiegen wir froh und ruhig auf dem harten Firn in die Höhe.

Im Westen schlichen dunkle Nebelbänke den Flanken der Aiguille du Goûter entlang, aber sie trieben weiter talaufwärts, und der Tag versprach schön zu werden. In der Höhe glitzerten klar und kalt die Sterne. Es hatte an den Tagen zuvor geschneit, und allmählich wurde unser Marsch mühsam. Der Neuschnee lag bald ordentlich tief, und wir mussten im Spuren abwechseln. Nach etwa zwei Stunden begann sich langsam die Höhe spürbar zu machen, die Beine wurden uns etwas schwer. Es war aber noch zu kalt, um anzuhalten, und mit dem ersten Zittern der Dämmerung sank die Temperatur noch mehr. Die Kälte kroch über Eis und Schnee herunter, und trotz der Anstrengung des Steigens froren wir. Und ausgerechnet in diesem Moment fand Louis, dass er Hunger habe und etwas essen müsse. Ich lachte ein wenig ärgerlich über diese meiner Ansicht nach absurde Idee.

Später dann, als der Morgen schon die Grate gerötet hatte und wir im scharfen Wind auf der Höhe des Refuge Vallot angelangt waren, hatte ich Hunger. Wir krochen in den Adlerhorst aus Duralluminium, der von aussen ganz originell ausschaut, im Innern aber ordentlich verwahrlost war, und verpflegten uns dort.

Dann im mählich sich rundenden Tag stiegen wir ruhig auf dem Grat dem Gipfel zu. Der Wind versickerte in der Tiefe und im Licht, und wir gewannen ziemlich mühelos an Höhe. Ein markanter luftiger Schneegrat, wie der First eines ungeheuren Daches, leitete schliesslich zu jenem Punkte, der Tausende von Meilen in der Runde von keinem andern an Höhe übertroffen wird.

Eigentlich war ich darauf gefasst gewesen, eine zweite Enttäuschung zu erleben. Sehr hohe Berge bieten meist keine besonderen Leckerbissen an Aussicht. Man ist zu hoch über allem Lebenden, ein wenig zu sehr weggeiückt ins Universum, und der Mensch erträgt so etwas nicht gut. Nun, der Mont Blanc enttäuschte uns nicht, obwohl die Aussicht keineswegs grossartig zu nennen war. Ringsum lag ein lichtdurchfluteter Dunst, Kumuluswolken segelten wie Riesenpilze durch eine unsagbar grosse Stille. Das war alles, was wir sahen, wenig und doch sehr viel: das mit ein paar Strichen gezeichnete Bild einer schönen, warmen, ruhigen Welt ohne allen Firlefanz. Wir sprachen wenig, kauten unser Ovo-Sport, steckten die Hände in den Hosensack und bummelten auf der gewaltigen Schneekuppe umher, dem Dach Europas. Wir waren zufrieden.

Im heissen Nachmittag stiegen wir dann nach Courmayeur hinunter. Auf dem « Itinéraire du Pape », jener Route, die von Achille Ratti, dem späteren Papst Pius XL, mit seinen Führern entdeckt worden ist. Vom Dôme du Goûter stiegen wir auf der Schneide eines scharfen Eisgrates in die Tiefe, was viel Ruhe und Konzentration erforderte. Wie der unwillige Schlag einer Peitsche lag diese Kante am Beig, und ich war froh, als wir unten waren, denn es gab keine Möglichkeit zum Sichern. Dann stiegen wir über eine Wand loser Steine, seilten über den Bergschrund ab und standen auf einem Gletscher, den der heisse Sommer zum Irrgarten zerrissen hatte. Lange, quälende Stunden traten wir die Steigeisen, welche wir seit dem frühen Morgen nicht abgelegt hatten, ins Eis. Hundertmal sperrten Schrunde und Spalten den Weg, zwangen zu Umwegen und heiklen Traversen. Das Rifugio Gonella lag schon im Abendlicht, als wir dort anlangten. Leider hatte der abwesende Hüttenwart Holz und Kochtopf versteckt, so dass wir auf den langersehnten Tee verzichten mussten. Missmutig setzten wir unseren Weg fort, der während weiteren Stunden über den Miage-Gletscher führte.

Da der Fels jener Gegend äusserst stark verwittert, ist der ganze Gletscher über und über mit Schutt bedeckt. Meilenweit dehnen sich die Felder roten, gelben und grauen Gesteins, ab und zu balanciert ein zyklopischer Block in unwahrscheinlicher Lage auf der Kante einer Moräne. Links und rechts steile hässliche Wände. Als gewaltiger Steinwall schiebt sich dieser Schuttstrom weit ins Miage-Tal hinaus, liegt wie ein grimmiger Keil in der lieblichen Landschaft und staut die Wasser, welche aus der Richtung des Col de la Seigne kommen, zu einem kleinen See.

Nachdem wir eine letzte Moräne überstiegen hatten und einen letzten Geröllhang hinuntergestolpert waren, trafen wir auf eine kleine Wiese, eingebettet zwischen feuchten Wänden und einer alten Seitenmoräne. Kühe weideten und ein alter Hirte kam eben von seiner primitiven Hütte, in welcher ein Feuerlein lustig knatterte. Mit spärlichen Worten und unbeholfener Gebärde, aber freundlich wies er uns den Weg, der unter Lärchen im Abendwind nach Entrèves hinunter führte. Später, es war schon dunkle Nacht, hielten wir bei einer Häusergruppe an, um auf der Karte festzustellen, wie weit wir noch hätten. Da fiel mir ein, nachzusehen, ob hinter dem alten Gemäuer in der Nähe vielleicht ein Wirtshaus sei. Wir hatten Glück, es war ein kleines, einfaches, sehr sauberes Hotel, wo man uns freundlich aufnahm und keine Geschichte aus der Tatsache machte, dass ich keinen Pass hatte.

Im Speisesaal mit den weissgetünchten Wänden stand auf jedem Tisch ein kleines Tännchen, dessen Wurzeln in feuchtes Moos eingebettet waren. Am Kamin, in welchem ein Lärchenscheit glühte, lagen zwei Jagdhunde. Wir assen langsam und geniesserisch, denn unser Proviant war sehr knapp gewesen. Wir tranken dicken, roten Wein und zupften verträumt süsse Trauben zum Nachtisch. Es war schön, dann noch einen Schritt vors Haus zu tun und noch einmal einen Blick hinauf zu werfen zum Berg. Langsam und gemütlich stiegen wir ins Zimmer hinauf, wuschen uns gründlich, putzten wieder einmal die Zähne und fielen dann sofort in einen abgrundtiefen Schlaf, während draussen unter den dichten Tannen die Dora Baltea breit rauschte und die Sterne glitzerten und glitzerten...

Feedback