Skifahrten im Gebiete der Bétempshütte
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Skifahrten im Gebiete der Bétempshütte

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Mit 7 Bildern.Von Paul Baumann.

Zermatt. Als ich 5 Uhr früh die Vorhänge meines Fensters zurückschlug, brach flutendes Sonnenlicht zu mir ins Zimmer. Ein prächtiger Tag! Vom Berghang stieg soeben eine Bäuerin herunter und nahm auf ihrem sonntäglichen Kirchgang den Weg durch die im jungen Morgenlicht leuchtenden Fluren. Jetzt schwang der erste Glockenklang durch die klare Luft. Machtvoll und feierlich zugleich fiel der tiefe Ton ihrer grossen Turmnachbarin ein. Jubelnd klang das Geläute in den frischen Tag und fand freudigen Widerhall in der Brust des dem Alltag entronnenen Städters. Was Wunder, wenn bei solchem Wetterglück dieser Städter kurz darauf durch den Gang polterte und die noch schlafenden Freunde aus den Federn trieb. Verschlafen rieben sie sich erst die Augen, dann begrüssten sie mit Lärm den strahlenden Tag.

Zur verabredeten Zeit trafen wir Adolf Schaller, Führer in Zermatt, an der Station. Er hatte seinen Schwager und Berufskollegen Hugo Lehner zur Mithilfe beim Provianttransport gerufen. Angesichts des stämmigen « Negus » bedauerte ich nur, dass ich ihm nicht noch einige besonders gewichtige Stücke meines Rucksackinhalts in seinen Sack schmuggeln konnte. Um halb 11 Uhr präzis setzte sich der Wagen der Gornergratbahn in Fahrt. Wie im Märchen versank unter uns Zermatt, wir glitten mühelos der Höhe entgegen. Unterhalb des Lawinenhanges bei Riffelboden war dieses Steigens aber ein Ende. Im Augenblick standen wir in knirschendem Schnee, in einem wirren Durcheinander von Säcken, Ski und Stöcken. Bevor wir uns nur recht umgeschaut, verschwand Lehner hinter der nächsten Biegung des bereits ausgeschaufelten Bahngeleises, und mit unter der Last der Säcke schwankenden Knien turnten wir über Schienen, Zahnstangen, Eis- und Schneebrocken hinterher. Als wir auf der Höhe des Gornergrats anlangten, setzte Lehner seinen prallen Rucksack in den Schnee. Nach einem kurzen Schnaufhalt folgten wir dem Sommerweg entlang, hinunter zum Gornergletscher. Über Stock und Stein stieg Lehner, wo Schaller und wir es vorzogen, unsere Ski zu tragen. Schadenfreudig sah ich, wie sich eines seiner Felle von der Lauffläche löste, doch praktisch — wie der Mensch sein soll — griff er in die Westentasche und befestigte den baumelnden Fellappen zu unserm nicht geringen Erstaunen prompt — und, wie es sich später erwies, auch solid — mit ein paar Reissnägeln.

Nach ziemlich genau drei Marschstunden erreichten wir die Betempshütte. Im ersten Schlafraum nächst der Türe liessen wir uns häuslich nieder. Später mussten wir unsern guten Platz zu unserm Bedauern einer Sektion überlassen und uns unter das Dach verkriechen, wo wir, zwischen Turisten und Mitgliedern des Frauenalpenclubs eingekeilt, uns zuweilen kaum zu wenden vermochten. Ob das gute Wetter die Schuld trug oder ob Frühlings- skifahrten in diesem Gebiet bereits zur Mode geworden sind, ich vermag es nicht zu sagen, jedenfalls aber herrschte während der ganzen Dauer unseres Aufenthaltes ein Durcheinander, das dem Sommerwochenende einer gut besuchten Hütte in keiner Weise nachstand. Schade, in diesem jahrmarkt-ähnlichen Getümmel fühlte man sich erneut ins Tal zurückversetzt. Mit Wehmut dachte ich an das gemütliche Leben vom letzten Jahre, als wir uns mit vier sympathischen Welschschweizern meist allein in die Hütte teilen konnten.

Wir drückten uns in eine Ecke und verstauten im Wandschrank unsern Proviant. Als Lehner eine Büchse nach der andern in Reih und Glied aufmarschieren sah, entschied er sich kurz: « I blybe no da. » Morgen brachen wir 430 Uhr von der Hütte auf. Voraus Schaller, dann wir drei Turisten und hintendrein trottete Lehner. In Windungen stiegen wir zunächst die übliche Route hinan in Richtung Monte Rosa. Unter dem Steilhang aber bogen wir rechts hinaus auf den Grenzgletscher. Ununterbrochen setzten wir unsern Marsch über die Gletscherstufen und die sich anschliessend sanft gewellten Terrassen fort. Nach vier Stunden erreichten wir den ersten Sonnenhang, kurz unterhalb des Lysjochs. Das ganze Gletschertal lag noch im Schatten, aber rechts von uns gleissten und glitzerten die Eisbalkone des Lyskamms. Im Süden wölbte sich der Rücken der Parrotspitze in den tiefblauen Himmel, und im Osten ragten die obersten Felsklippen der Signalkuppe 4561 m — unser heutiges Ziel — mit der Margheritahütte über die weissen Firnmulden. Zu unserer Linken hatten wir Musse, den Gipfelgrat, der zur Dufourspitze führt, zu betrachten, mit den verschiedenen Aufstiegsmöglichkeiten vom Grenzgletscher aus. Aber am meisten interessierte uns der scharfe Ostgrat des Lyskamms. Von unseren Standort aus konnten wir wohl die scharfe Firnschneide des untersten und obersten Grataufschwunges einsehen, aber das horizontale Verbindungsstück dazwischen blieb uns zum grossen Teil verborgen. Julius Kugy wagte es nicht, nachdem er seinen gloriosen oder, wie er selbst sagt, « noblen » Einzug über die Ostwand des Monte Rosa in die Westalpen gehalten, sich ihm anzuvertrauen. Ihm schien es Vermessenheit, die ins Leere ragenden Wächten mit seinem Körpergewicht zu belasten. Auch Marcel Kurz rät von einer Begehung zu dieser Jahreszeit ab. Wir vermochten aber nichts zu sehen, was diesen luftigen Hochweg absonderlich riskant gestaltet hätte, bis uns Schaller darüber aufklärte, dass in den letzten Jahrzehnten die ehemals so gefürchtete Wächtenbildung dauernd zurückging, um bis auf relativ kleine Reste zu verschwinden. Als ob das Objekt unserer Unterhaltung nun auch in seiner Art zum Austausch der Meinungen beitragen wollte, riss plötzlich ein dumpfer Schlag durch die Luft. Eismassen stürzten hoch oben am Berg in ein Couloir, den lockern Schnee in weitem Umfang mit sich reissend. Schwer schlugen sie am Schrund auf. Von den Wänden widerhallte das Echo in dumpfem Grollen, und eine gewaltige Schneewolke lagerte über dem Ort des Verderbens.

Nach kurzem Imbiss zogen wir ostwärts ab. Mühsam gewannen wir die obern Hänge des Col Gnifetti. Je höher wir kamen, desto massiger wurde unser Marschtempo. Von Schaller trennten uns scheinbar Kilometer. Er kletterte die Hänge senkrecht hinan, in dauernd gleichbleibendem Marsch, so dass es sogar Lehner zu bunt wurde. Er bog resolut nach links aus, wir in seiner Spur hinterher. Kurz unterhalb des Gipfels entledigten wir uns der Bretter und begannen die verschneiten Felsen zur Capanna Margherita hinaufzuklimmen. Dies schien uns der einfachste Weg, derweil die Führer rechts im Hang anstiegen. Wir hatten uns aber entschieden getäuscht, denn am Schluss der Felsen bäumte sich eine Eiswand noch 20 m auf, bedeckt mit einer Schicht pulvrigen Schnees. Mit Seilhilfe von oben standen wir unter Schnaufen und Pusten Punkt 10 Uhr auf dem Gipfel. Fünfundeinhalb Stunden Aufstieg, eine ganz annehmbare Zeit, doch hämmerte es schrecklich in den Köpfen der Turisten. Auch ein kleines Nickerchen im eiskalten Raum der Capanna wollte keine Linderung bringen, drum entschlossen wir uns kurzerhand, auf die nahe Zumsteinspitze zu verzichten und unverzüglich abzusteigen. Die Sicht war ohnehin nur trübe. Im Kessel von Macugnaga brodelten die Nebelmassen, und der Wind pfiff in den Verspannungsdrähten der Hütte. Eine kurze Abfahrt bis zum ersten Rastplatz folgte, wo wir uns hinsetzten, bis uns die Kälte in die Knochen drang. Meine beiden Begleiter hatten sich mittlerweile von den stechenden Kopfschmerzen erholt. Männiglich freute sich auf die Abfahrt. Leider nicht lange. Während Schaller und Lehner sich scheinbar mühelos durch den knietiefen Bruchharsch abwärts wanden, taumelten wir fluchend und verzweifelt hinterher. Bald schoss Schaller, gefolgt von unsern neidischen Blicken, weit unten auf den Gletscherboden hinaus, während wir uns noch unter der liebevollen Assistenz von Lehner verdriesslich mit dem trügerischen Element abmühten. Doch auch diese Tortur fand schliesslich ihr Ende. Kurz unterhalb des Frühstücksplatzes verwandelte sich der Bruchharsch in einwandfreien Sulzschnee, und in sausender Fahrt wurden die ausgestandenen Mühen doppelt und dreifach eingeholt. Um halb 1 Uhr erreichten wir die Betempshütte wieder, wo uns Schaller lächelnd empfing. Lehner, obschon nach uns gestartet, hatte uns in einem einzigen Schuss oberhalb der Moräne überholt. Seine Spur war eine vollkommene Gerade, hemmungslos gezogen über Buckel und durch Mulden.

Seit dieser Abfahrt habe ich es mir abgewöhnt, mir einzubilden, ich könne Skifahren. Zu meiner grossen Beruhigung erfuhr ich allerdings später, dass Schaller, seiner Erscheinung nach ein bescheidenes Bäuerlein, noch vor wenigen Jahren internationalen Skigrössen im Breithornabfahrtsrennen die Fersen gezeigt hat. Ja, wenn er sich in den Hängen wiegt, sieht er nicht eben einem Bäuerlein gleich. Die Ski eng zusammengepresst, die Arme vor die Brust gewinkelt, die leichten Stöcke seitwärts balancierend, so zieht er ab, und bald seht ihr ihn weit, weit unten seine Spur sicher und fein durch die Abbruche winden. « Flott isch 's gsy », sagte er zum Schluss, und mit Verständnis habe ich ihm zugenickt, das « flott » auf seine und die Person Lehners vorsichtigerweise beschränkend, aber mit dem festen Entschluss, mich in Zukunft sicher nicht mehr lumpen zu lassen.

Lehner verliess uns am Dienstagmorgen. Er stieg hinauf zum Stockhornpass, um über Findelen nach Zermatt abzufahren. Wir wandten uns dem Zwillingsgletscher zu, versehen mit Proviant für zwei Tage. Ein Viertel nach 6 verliessen wir die Betempshütte, um 1030 Uhr erreichten wir das Felikjoch, genau der Sommerroute über den Gletscher folgend. Unterhalb des Südgrates deponierten wir Ski und Säcke, und nach einer ausgiebigen Rast gewannen wir leicht in wenig mehr als einer Viertelstunde den Gipfel des Kastor. Mit Befriedigung und leisem Stolz schweiften meine Blicke hinüber zum Schweizergipfel, entlang dem schwach konvex geschwungenen Schneegrat. Nicht grundlos hatte er mich vor einem Jahr nachhaltig beeindruckt, als wir zu zweit auf abenteuerlicher Fahrt in dichtem Nebel und Schneegestöber darüber balancierten im Aufstieg vom Zwillingsjoch. Tief unter uns grüsste jetzt die Betempshütte als ein winzig gelblich leuchtender Würfel zu uns herauf, und wie wir uns nach Süden wandten, erspähten wir auf einem Felssporn das Rifugio Quintino Sella, das Ziel unserer heutigen Abfahrt.

Wer einen umfassenden Blick vom ganzen Turengebiet der Betempshütte gewinnen will, ohne dass die glänzenden Gestalten der Gipfel ringsum an Erhabenheit einbüssen, der besteige den Kastor! Charles Simon preist in seinem Buche die landschaftliche Lage des Rifugio Quintino Sella, aber viel eindrücklicher ist noch die unvergleichliche Rundsicht vom Kastor aus. Nichts hindert den schweifenden Blick, im Norden wie im Süden. Und während im Osten der Monte Rosa als schönste Gestalt thront, erfreut im Westen der zackige Grat des Breithorns des Bergsteigers Herz.

Über die Ebene des Felikjochs hinweg erblickten wir den Westgrat des Lyskamms. Über eine Schneepyramideein Silberhorn en minature — hinweg, vermittelt ein scharfer Firngrat den Zugang zum eigentlichen Berg. Dieser Grat schwingt sich hinauf zur Basis eines von unserem Standort aus gesehen extrem steilen Schneehanges, der in seinem nördlichen Teil in hohen Wänden senkrecht auf den Zwillingsgletscher abbricht. Mit etwas gemischten Gefühlen legte ich in Gedanken unser Tracé hinein zur linken, nordwestlichen Kante, über die der Vorgipfel dann leicht erreichbar schien. Ob wir wohl hinaufkommen? Zweifellos hing dies von den Verhältnissen ab. « Mr müess lüegen », meinte Schaller. Na gut, dann « lüegen » wir eben morgen weiter, vorläufig stiegen wir zu unserm Skidepot ab.

Der südwestliche Steilhang, der den Zugang vom Felikjoch zum Verragletscher vermittelt, war in seiner ganzen Breite vom offenen Schrund gesperrt. Nach einigem Suchen fanden wir den einzig möglichen Abstieg über den steilen Südgrat des Felikhorns — einer von Norden gesehen unbedeutenden Erhebung an der Kante des gleichnamigen Jochs — über den wir, Ski geschultert, in einer Viertelstunde den Verragletscher erreichten. Von hier brachte uns ein weiterer Linksbogen in angenehmer Fahrt zum Rifugio Quintino Sella.

Ich habe darauf hingewiesen, dass Simon die Lage dieser Hütte preist, und gestatte mir, ihn an dieser Stelle selbst sprechen zu lassen. In den « Erinnerungen und Gedanken eines alten Bergsteigers » schreibt er: « Diese Hütte, am Südfuss des Lyskamm, 3620 m hoch, komfortabel und bewirtschaftet, macht dem Italienischen Alpenclub alle Ehre, wie überhaupt seine Hütten; sie hat in meinen Augen die schönste Lage unter allen Clubhütten, ihr Gesichtskreis ist unermesslich, grossartig; sie dominiert ein unvergleichliches Landschaftsbild: Val de Lys, Val d' Ayas, Aostatal zu Füssen, die Ebene der Lombardei und das Piémont, die Apenninen in der Ferne, in der Nähe der Mont Blanc, der Gran Paradiso mit seinen Ausläufern, die südlichen Kuppen und Vorberge des Monte Rosa, weit im Süden der Monte Viso! » — Obschon uns nicht ein wolkenloser Föhntag beschieden war, schauten wir doch mit Vergnügen hinunter in diese südlichen Alpentäler. Ein Kranz von Gewitterwolken umsäumte in weitem Umkreis den Horizont, aus dem im Westen selbst der Mont Blanc nur knapp zu ragen vermochte. Nicht wenig zum Genuss der Landschaft trug ausserdem das Bewusstsein bei, für morgen saure 800 m Aufstieges erspart zu haben, an sich allein schon Grund genug, das Rifugio der Betempshütte für einmal vorzuziehen.

Wohl kündeten im Innern Plakate von allerhand Wein und erfrischenden Getränken, doch leer und muffig war der Raum, als wir eintraten, als einzige Annehmlichkeit einige Tische und Bänke, vier Matratzen und doppelt so viele Decken bergend. Zu unserer freudigen Überraschung entdeckten wir in der kleinen Küche nebenan etwas Holz unter einer Bank, im Wandschrank sogar einige Tassen. Nachdem wir auf dem Dach den Kaminhut zurechtgesetzt, begann im Herd auch gleich ein lustig Feuerlein zu prasseln, und mit zunehmender Wärme wurde die Bude ganz wohnlich.

Zufrieden sassen wir nach dem Essen in der Abendsonne. Die Nebel strichen im Tale und an den Hängen, darüber glühten die Gipfel des Lyskamm und Kastor. In der Ferne grollte der Donner über den heissen Gefilden Oberitaliens, und Blitze zuckten hin und wieder aus einem Wolkenamboss in die dunstigen Niederungen der Poebene. So genossen wir vor der Hütte den Abend, bis ein kühler Wind in die zum Trocknen aufgehängte Wäsche fuhr. Der Nebel zog auf, hüllte uns ein, und langsam begann es in der Dämmerung zu schneien.

Wie wohl fühlten wir uns jetzt in unserer einsamen Hütte! Im Küchenherd prasselte noch stets Feuer, und das siedende Wasser sang leise in der Pfanne. Wir sassen um den Herd herum. Zwei Kerzen erhellten den engen Raum und zeichneten riesengrosse Silhouetten an die Wand, mit grotesken Köpfen und Gliedmassen. Für uns bestand die Welt aus vier Menschen und einer Küche. Ab und zu schlürfte einer den lauen Tee aus der Tasse, und Schaller paffte dazu nachdenklich und zufrieden Tabakrauch in die Luft. Beim Schmieden grosser Pläne verging rasch die Zeit, dann streckten wir uns auf die Matratzen im Räume nebenan, zogen die Decken über die Ohren und liessen uns vom regelmässigen Knarren des im Nachtwind sich drehenden Kaminhelms in den Schlaf wiegen.

440 Uhr des folgenden Tages standen wir vor der Hütte im fahlen Morgenlicht. Langsam setzten wir uns ostwärts in Bewegung. Am kurzen Südgrat des Felikhorns begrüssten wir die ersten wärmenden Strahlen der Frühsonne, 615 Uhr standen wir auf dem Felikjoch. Ohne Zögern zogen wir unsere Spur quer durch die im Gegenlicht gleissende Schneefläche. Am Anfang des Westgrates legten wir im Pulverschnee unsere Ski ab und begannen kurz vor 7 Uhr, je zwei und zwei durchs Seil verbunden, den Grat zum Lyskamm anzusteigen. Bald bergauf und bald bergab kamen wir in gutem Schnee rasch voran. Der hohe Hang, der gestern so steil und abweisend in der Sonne geglitzert, legte sich merklich zurück. Aber dennoch konnte er uns nicht locken, denn südwärts wird er begrenzt durch leichte Felsen, die wir für den weitern Anstieg benützten. Während unsere Partie Seillänge um Seillänge vorrückte, hatte Schaller mit unserem Freunde bereits den obersten Felszacken gewonnen. Sie liessen die Beine herunterbaumeln und beobachteten unsere gelegentlich vorsichtigen Manöver mit Interesse und hämischem Grinsen. Ein kurzes Stück steiler Schnee- und Eiswand führte uns gemeinsam zum Vorgipfel. Von hier aus lustwandelten wir auf luftigem Kamm hinüber zum Westgipfel, 4478 m, den wir 930 erreichten. Tief unten windet sich der Grenzgletscher hinauf zum Lysjoch, dahinter ragen, wie vier Zinnen einer gewaltigen Burg: Nordend, Dufourspitze, Zumsteinspitze und Signalkuppe. Strahlend wölbte sich der Frühlingshimmel, und glücklich drückten wir uns die Hände.Von hier aus leitet ein zackiger Grat hinüber zum Ostgipfel. Meterhoch überschneit waren die Felsen. Die Überschreitung im winterlichen Zustande muss ein pikantes Unternehmen sein.

Obschon kein Lüftchen sich regte, empfanden wir doch bald die ziemlich frische Temperatur, und so trotteten wir nach einer Viertelstunde herrlicher Gipfelrast unsern Weg zurück. Vorsichtig der Turist, behende der Führer, genau wie es im Buche steht, so schwang sich Schaller ohne Hemmung vom Grat das steile Wandstück Stufe um Stufe hinunter. Dann folgten wir, bemüht, es dem Meister gleich zu tun.

Von den obersten Felsen aus bewunderten wir nochmals die feine Kammlinie des Westgrates. In flottem Tempo turnten wir hernach hinunter. Über das « Kleine Silberhorn » am Ende des Firngrates gewannen wir unser Skidepot, wo wir uns Mut und Beine für die bevorstehende Abfahrt zur Bétempshütte stärkten.

Die Tur auf den Westgipfel des Lyskamms ist wohl eine der schönsten des ganzen Gebietes. Sie vermittelt reinen Genuss. Von Wächtenbildung kaum eine Spur führt der Aufstieg meist auf der Höhe des Schneegrates. Zur Linken, fünfhundert Meter tiefer, der Zwillingsgletscher, zur Rechten die Steilhänge der italienischen Seite, an deren Fuss die Spalten des Verragletschers klaffen. Vor uns der fein geschwungene Firnkamm, im Rücken das ebene Plateau des Felikjochs, dahinter die rein weisse Pyramide des Kastor, so führt der luftige Pfad hinauf, frei von jeder objektiven Gefahr.

Geringer schätze ich die Freuden unserer Abfahrt. Bruchharsch — Eisbrocken — Bruchharsch. Zum Überfluss über einen holprigen, hirnerschüt-ternden, endlos langen Steilhang hinunter zum Gletscherboden, Schaller wieder einmal weit voran. Nachdem wir ihn erreicht hatten, verschwand er behende hinter dem nächsten Schneebuckel. Fünfzig Meter weiter unten tauchte er wieder auf — und kaum konnten wir es glauben, denn jetzt wiegte er sich auf einem Teppich Sulzschnee erster Güte. Die Windungen seiner Die Alpen — 1938 — Les Alpes.46 Spur glitzerten in der Sonne. Hätten wir nicht das harte Stück Arbeit der ersten 500 m Höhe in den Beinen gehabt, wir würden uns wohl mit Wonne in die Hänge geworfen haben. Doch mählich stieg unsere Stimmung. Nach einigen Schwüngen war die Mühsal bald vergessen, in rauschender Fahrt zogen wir die langgestreckten Hänge hinunter. Je mehr wir uns erholten, desto jagender wurde die Fahrt. Im Slalom führte unsere Spur durch den untern Gletscherbruch, mit einem kurzen Anlauf auf die Moräne, noch hundert Meter und wir platzten förmlich auf die Hütte. Ein letzter Schwung, so elegant als möglich, beschloss die prächtige Tur, die wir bei einer Flasche Wein mit freudigem Herzen feierten.

Eigentlich wollten wir am folgenden Tag nichts unternehmen. Doch als sich die Hütte langsam leerte, ein tief blauer Himmel über der blendend weissen Landschaft stand, da litt es auch uns nicht länger. Kurz vor 8 stiegen wir wieder obsi. Nach einer Viertelstunde standen wir beim grossen Felsblock im Hang oberhalb der Hütte und traversierten ostwärts zum Felsgrat, der vom Nordend herunterzieht. Nach einer Stunde hatten wir ihn erreicht und wenig später überklettert. Von hier aus spurten wir gemütlich aufwärts in Richtung nach dem Jägerjoch. In aller Beschaulichkeit zogen wir durch den frischen Vormittag, bis mit jedem Schritt das Jägerhorn mehr und mehr über den Horizont hinausstieg. Mit seinen beinahe 4000 m wächst es schliesslich ganz respektabel in den Himmel. Dicht unterhalb des Steilhanges hielten wir Turisten kurze Rast, während Schaller sich aufmachte, um den Faden seiner Zickzackspur in den knietiefen Pulverschnee zu legen. Auf der untern Schrundlippe traversierte er den Hang in seiner ganzen Breite nach rechts über eine Schneebrücke, noch 100 m, und wir standen um 1 Uhr auf der Höhe des Jochs. Am Seil gesichert näherte sich Schaller vorsichtig sondierend der Kante, legte das Seil ab und winkte uns zu sich. Sorglos näherten wir uns ihm — aber dann prallte ich zurück, denn bodenlos öffnete sich vor mir unvermittelt der gewaltige Absturz der Monte Rosa-Ostwand. Ein grandioser Anblick! Nebelschwaden wogten in dem gewaltigen Kessel vom Wind getragen auf und ab, erst grau und zäh, dann durchsichtig und schliesslich hob sich der Schleier. Ergriffen von der gewaltigen Landschaft glitten unsere Blicke 2500 m haltlos in die schwindelnde Tiefe des grünen Val d' Anzasca, kletterten über die wilden Rippen wieder hinauf, himmelhoch, zur Zumsteinspitze, zum Grenzgipfel und zum Nordend. Wer vermöchte es, den überwältigenden Eindruck und die tiefe Wirkung dieses fantastisch fürchterlichen, schauerlich schönen Bildes zu vermitteln? Tief unten das berüchtigte Marinellicouloir. Kein Ton regte sich darin. An den schwarzen Felsen darüber rauchte der Nebel und in den steilen Klüften wiegte sich im Aufwind eine Schwalbe. Durch den feinen Nebel glitzerten die makellos weissen Eispanzer des Pizzo Bianco zu uns herüber, und die ganze Szenerie stand in ehernem Schweigen wie am ersten Tag. Auch Schaller stand ergriffen. Fürchterlich steil und exponiert schwingt sich zur Rechten der Felsgrat zum Nordend hinauf. Die schiefen Türme stechen wie Nadeln in die Luft, die Route Lochmatters im Aufstieg zum Nordend. Schaller fand nur immer wieder das eine Wort: fürchterlich!

Den Gipfel des Jägerhorns schenkten wir uns, wir wendeten unsere Ski, fuhren ab zum Schrund, überquerten ihn, und dann grub sich Bogen an Bogen in den tiefen Pulverschnee. Weit ausholend umfuhren wir die Reste eines Eissturzes und setzten an zu einer flotten Schussfahrt über die weiten Felder und Hänge des obern Gornergletschers.

Am Abend ballten sich dunkle Wolken drüben am Theodul. Schmutzig graue Nebel krochen vom Tal herauf. Noch war der Wind gut, aber es schien sich doch ein Wetterwechsel vorzubereiten.

Der folgende Morgen brachte wider Erwarten einen klaren Himmel. Wir schälten uns aus den warmen Decken, immer schwankend, was mit dem heutigen Tag zu beginnen sei, bis schliesslich Schaller beim Frühstück den Ausschlag gab mit seinem Vorschlag für die Zumsteinspitze. Es war bereits zwanzig Minuten vor 5, als wir zu zweit aufbrachen. In raschem Tempo strebten wir dem Grenzgletscher zu. Dicht hinter Schaller knirschten meine Ski im Schnee. An den steilen Hängen griffen die Felle nicht auf der lockern Unterlage. Doch diesem Übel ist beizukommen. Wir schmierten Steigwachs auf die Kanten. Damit kletterten wir mühelos, alle Windungen der Spur unserer Vorgänger in direktem Anstieg schneidend. Noch waren wir keine drei Stunden unterwegs, befanden uns aber bereits auf gleicher Höhe mit dem Lysjoch. Schaller kannte keine Rast. In leichtem Bogen wendeten wir uns ostwärts, und auf die Minute genau nach vier Stunden entledigten wir uns der Ski, dicht unter der Zumsteinspitze. Um 9 Uhr hielten wir Rast am Gipfelkreuz.T.ief unter uns bewegte sich die schwarze Schlange der Sektion Uto. Als sie nach einer halben Stunde unser Skidepot erreichten, räumten wir das Feld. Mit einem Juchzer auf den Lippen schössen wir ins Tal.

Wie das stäubte und sprühte! Auf harter Unterlage lag federleichter Pulverschnee. Schaller steuerte in geradem Schuss auf die weite Fläche unterhalb des Lysjochs. Jetzt drückte er die Ski eng zusammen, eine leichte Biegung im Körper, Schneestaub spritzte mir ins Gesicht. Ich wendete zehn Meter hinter ihm, und nun begann ein Wiegen und Fliegen! Die Morgensonne warf unsere Schatten in langen Streifen die Hänge hinunter. Eine Staubfahne hinter uns herziehend, so jagten wir dahin, immer schneller, immer toller. Die Hosen klapperten um die Beine, die Zugluft riss mir schier den Hut vom Kopf. Jetzt wurd 's mir doch zu bunt. Links und rechts spritzte der leichte Schnee zur Seite, als ich unausgesetzt die gerade Spur Schallers mit leichten Windungen umrankte. Dann kam der Gletscherbruch. Es kratzt und knirscht — schon lag er hinter uns. Der Schwung jagte uns über den folgenden Gletscherboden hinaus, und von neuem stürzten wir uns in die Hänge, bis die Beine schmerzten. Die glatten Bretter liefen wie toll. Immer hielt ich mich an die Spur Schallers, der in eleganter Manier den Weg wies. Jetzt rückte die Moräne rasend näher. Schon stand ich oben und sah Schaller stäubend zur Hütte sausen. Ich ihm nach! Den kurzen Steilhang in die Mulde hinunter, über die nächste Bodenwelle hinwegsetzend in die glatte Spur, mit rassigem Schuss hinauf zur Hütte, ein letzter stäubender Schwung, und da bin ich schon, elegant vor der Hütte wendend, die Muskeln noch in Vibration von der tollen Fahrt —. Bis zum Worte « nach » ist 's richtig. Meine Phantasie eilte den Tatsachen voraus: zwei Meter unterhalb des Moräne-kammes habe ich die fliegenden Pulse im Schnee gekühlt. Pustend, speiend und schnaufend wühlte ich mich aus der Grube, die ich mir selbst gebohrt, stellte den ernüchterten Skifahrer auf die Füsse, mied die Bodenwelle, kam mit Stockhilfe hinauf zur Hütte, brauchte keinen stäubenden Schwung und setzte mich unelegant auf die Felsplatte, wo ich mir die Ski von den Füssen schnallte. Immerhin, es war Punkt 10 Uhr vormittags. Vier Stunden Aufstieg, 25 Minuten Abfahrt — und wenn 's wirklich pressiert hätte, dann war es auch noch schneller gegangen.

Das war der Streich der Woche.

Samstag packten wir die Säcke.Vom Gornergrat warfen wir einen letzten Blick zurück. Düstere Wolken umhüllten die Berge ringsum, und leise setzte feiner Sprühregen ein. Müde wanden wir uns hinab durch aufgeweichte Hänge, um Tannen und Felsblöcke herum, über Bäche steigend, die ins trübe Nebeltal rauschten...

In der Erinnerung aber lodern und flimmern Gipfel und Grate frei und herrlich in silbergleissendem Licht.

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