So erlebten wir Korsika
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So erlebten wir Korsika

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Aus dem Tagebuch einer Sektionstourenwoche, 28. August bis 9. September 1971 K. Felix, Horgen

Mit einigen kurzen Erläuterungen möchte ich die Insel Korsika dem Leser vorstellen. Es ist die viertgrösste Insel im Mittelmeer. Bei einer Länge von 184 und einer Breite von 84 Kilometern umfasst die rund 1000 Kilometer lange Küstenlinie eine Fläche von 8722 km2. Wunderschöne Waldbestände bedecken einen Fünftel des Areals, wobei die Forste von Valdo-Niello und Aitone zu den schönsten und wertvollsten Europas zählen. Die höchste Erhebung bildet der Monte Cinto mit 2710 Metern. Im geologischen Aufbau herrschen Granit und por- phyrische Gesteinssorten vor. Ihre Oberfläche ist von einer Rauheit, wie wir sie selbst im Urgestein nicht vorfinden. Die klimatischen Verhältnisse zwischen Küstengebiet und Bergland variieren^sehr stark. Es werden mittlere Jahresniederschläge von unter 600 Millimetern an der Küste und über 1500 Millimetern in den Bergen registriert, wobei in den Monaten Oktober bis März die meisten Niederschläge fallen. Im Hochgebirge sind dann Schneehöhen von zwei Metern keine Seltenheit. In den Gebirgslagen ist die Temperatur in den Sommermonaten angenehm, und die Nächte sind in diesen Regionen kühl.

Durch die starken Höhenunterschiede haben sich eigentliche Kulturgürtel für Getreide, Gartenbau, Obst und Weinpflanzungen gebildet. Ferner finden wir Mandeln, Oliven, Korkeichen, Edelkastanien und Asbest. Ein Grossteil dieser Erzeugnisse nimmt den Exportweg zum Festland; zudem dürfte die stark anwachsende Fremdenindustrie eine wichtige Einnahmequelle für die Zukunft der Insel darstellen. Es ist nur zu hoffen, dass die wunderbaren unberührten Gebiete im Landesinnern nicht der Technik und Spekulation zum Opfer fallen. Durch die jahrhundertelange Abgeschiedenheit haben die Korsen ihren Volkscharakter und die Lebensart fast unverändert erhatten können. Immer wieder musste das Inselvolk gegen fremde Herrschaften die Unabhängigkeit verteidigen, bis im Jahr 1768 das Eiland durch Kauf an Frankreich überging. Trotz der engen Bindung mit Frankreich haben es die Inselbewohner aber immer wieder verstanden, Korsen zu bleiben. Neben der französischen Sprache unterhalten sich die Bewohner im korsischen Dialekt, welcher dem toskanischen Dialekt des 13.Jahrhunderts zuzuordnen ist.

Die ersten Erschliessungen der korsischen Alpen gehen in die Jahre 1899-1904 zurück. Dr. Felix von Cube aus Stuttgart hat in jener Zeit mit seinen Bergkameraden grosse Pionierarbeit geleistet. Inzwischen ist Korsika zu einem begehrten Ziel für Kletterer, Wanderer und Naturfreunde geworden.

Samstag, 28. August Ein kühler, taufrischer Morgen begrüsst uns acht Zimmerbergler am langersehnten Reisetag. Bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit sind unsere Autos mit Zeltmaterial, Kochutensilien und Kletterausrüstung beladen. Tourenproviant und weitere Lebensmittel für zwei Wochen hat unser Verpflegungschef Thuri in die Wagen gestopft.

Vorerst führt die Reise durch bekannte Dörfer und Landschaften Richtung Süden. In Chiasso verlassen wir die Schweiz und rollen der Hafenstadt Genua entgegen. Eine unangenehm warme Luft flimmert über den Autostrassen der eintönig flachen Poebene, bis die Hügellandschaft kurz vor Genua dem Reisenden wieder etwas angenehme Abwechslung und Erfrischung bringt. Die restliche Zeit bis zur Schiffsabfahrt bietet uns Gelegenheit, den emsigen Betrieb einer Hafenstadt kennenzulernen. Um 22 Uhr ist es soweit: Die « Corsica Line » nimmt ihren gewohnten Kurs nach Bastia, unserm morgigen Ankunftsort.

Sonntag, 2g. August Trotz guter Schlafmöglichkeiten in den Couchettes fehlte uns Landratten der feste Boden. Am fernen Meereshorizont verkündet die aufgehende Sonne den neuen Tag. Die ersten wärmenden Strahlen leuchten in die bewaldeten Hügelzüge Korsikas - ein faszinierender Anblick. In Bastia, dem wichtigsten Militärstützpunkt der Genuesen im 14. bis 18.Jahrhundert, verabschieden wir uns vom FährschifF. Der Zeitplan erlaubt ausser dem Morgenessen am Place Napoléon noch einen kurzen Stadtbummel; dann setzen wir unsere Fahrt der Ostküste entlang bis Casamazza fort, von wo aus die Strasse westwärts durch wunderschöne Landschaften dem Flusslauf des Colo folgt. Bei Ponte Leccia verlassen wir die nun nach Süden zie- hende Hauptstrasse, um dem Tal des Asco zu folgen. Wenn der Verkehr auch sehr spärlich ist, so verlangt die schmale, kurvenreiche Schluchtstrasse von den Chauffeuren doch viel Aufmerksamkeit und eine beachtliche Fahrkunst. Um die Mittagszeit erreichen wir Asco, auch « Zermatt von Korsika » genannnt — nur mit dem Unterschied, dass Asco das geblieben ist, was wir Bergsteiger schätzen: ein idyllisches, ruhiges und einfaches Bergdörfchen. Durch das Stranciacone-Tal fahren wir unserm heutigen Ziel entgegen. Unterhalb des Plateau Stagno, südlich der letzten Brücke, schlagen wir die Zelte auf. Der Höhenmesser zeigt 1250 Meter und stimmt mit der Angabe auf der Karte überein. Schon bald herrscht eine wohnliche Atmosphäre in und um unsere Behausungen. Rechtschaffen müde, aber überglücklich kriechen alle frühzeitig in ihre Schlafsäcke.

Montag, 30. August Diskret und doch unmissverständlich ertönt das Surren meiner Weckerarmbanduhr. Nachdem sich Orientierung und Gedanken etwas geordnet haben, krieche ich aus dem Zelt an die frische Morgenluft. Nur das leise Plätschern des nahen Baches und dazwischen ein munteres Vogelgezwitscher unterbrechen die tiefe Stille des Waldes.In Gedanken stehe ich schon auf dem Gipfel La Mufrella und vergesse dabei fast die undankbare Pflicht als Weckordonnanz. In aller Ruhe geniessen wir bald das Frühstück in Gottes freier Natur. Die heutige Einlauftour auf La Mufrella ist kurz und ohne besondere Schwierigkeiten. Zum Plateau Stagno, 1450 Meter, auch Asco La Neige genannt, benützen wir die Fahrzeuge. Ein einfaches Restaurant, ein paar kleine Ferienhäuschen sowie ein Skilift sind hier in den letzten Jahren gebaut worden. Dem Besucher bietet das Plateau ein grossartiges Panorama der wildzerklüfteten Gebirgswelt und einen herrlichen Tiefblick durchs Strancia-cone- und Asco-Tal hinaus auf die alles umfassenden Waldgebiete. Hier kann sich der Berg- Steiger über seine Routen und Vorhaben recht gut orientieren. Im Schatten der Bäume steigen wir in NW-Richtung bis zur Waldgrenze. Nach einer kurzen Querung nach rechts wird die allgemeine Richtung Bocca alla Culaja beibehalten. Zudem erleichtern Wegspuren und Markierungen die Führungsarbeit. Der nachfolgende Weiteranstieg über die Felsriegel weist einige kurze unschwierige Kletterstellen auf, die vom Wanderer auch umgangen werden können. Nach zweieinhalb Stunden erreichen wir die 2148 Meter hohe La Mufrella. Vor unsern staunenden Augen öffnet sich ein Bild der gewaltigen Gegensätze dieser Insel: im Nordwesten der Tiefblick zum Meer mit seiner fruchtbaren Küstenlandschaft Balagna; im Süden die mächtigen Gipfel Cinto, Larghia, Minuta, Paglia Orba und Tafonato. Sie weisen beachtliche Höhen ( zwischen 2300 und 2710 m ) auf. Mit dem Feldstecher erkunde ich den morgigen Aufstieg zur Punta Minuta. Nachdem auch Noldi, unser « Gipfelschläfer », wachgerüttelt ist, steigen wir zum Plateau Stagno ab, wo alsogleich ein kühles Bier durch unsere vom Durst ausgetrockneten Kehlen rinnt. Mit einem erfrischenden Bad im Bergbach, einem wohlschmeckenden Hotzschen Nachtessen und den üblichen Lagerarbeiten beschliessen wir den ersten Tourentag.

Dienstag, 31. August Es ist 5 Uhr; der wohlriechende Kaffeeduft bringt die Lebensgeister zum endgültigen Erwachen. Mit voller Hochtourenausrüstung verlassen wir um 6 Uhr das Zeltlager. Dem Bachlauf folgend, gelangen wir in den Kessel des Trim-bolacciu. Seine rechte Begrenzung bildet der wuchtige, turmreiche Nordgrat der Punta Minuta. Wir kommen zur Vegetationsgrenze, wo die Bergkiefer ihren Bestand lichtet und den wild wuchernden Erlenstauden Platz macht. Ein Verirren in dieser fast undurchdringbaren und vor allem unübersichtlichen Wildnis kann den Bergsteiger viel Zeit oder sogar die Gipfel- IOI freude kosten. Aber ist es nicht gerade das Unbekannte, diese unberührte Natürlichkeit und eine Prise Abenteuerlust, was uns hierher gelockt hat? Durch die grosse, zur Bocca Pampanosa leitende Nordschlucht führt unser Weiterweg. Harte, zum Teil steile Firnfelder erfordern den Einsatz von Steigeisen und Pickel, und nun endlich sind meine Kameraden von der Nützlichkeit dieser Geräte auf Korsika überzeugt. Kurz vor der Scharte queren wir auf einem ansteigenden Schutt- und Felsband die Nordflanke des Capro Rosso und steigen anschliessend zur Bocca Rosso ab. Wenn auch der zweite Schwierigkeitsgrad kaum überschritten wird, so bieten die nachfolgenden Seillängen bis zum Gipfel doch einen Klettergenuss. Überglücklich betreten wir nach fünfeinhalb Stunden Aufstieg das Haupt der Punta Minuta ( 2556 m ). Erst jetzt bekommen wir einen umfassenden Einblick in das grossartige Cinto-Massiv, das viele Alpinisten in seinen Bann zu ziehen vermag. Tief beeindruckt von der Pracht dieser südlichen Bergwelt, steigen wir auf der gleichen Route zu Tal. Im kühlen Nass des Stranciacone sind Anstrengung und Müdigkeit rasch vergessen. Anschliessend sorgt unser Küchenmeister Thuri einmal mehr in ausgezeichneter Art für seine hungrigen Bergvagabunden; zudem hält unser diplomierter « Sprü-chemacher » Walti seine Kameraden vom frühen Morgen bis am späten Abend bei guter Laune.

Mittwoch, i.September.

Für heute steht der Capo Larghia auf dem Programm. Unter Rücksichtnahme auf den leicht havarierten Kameraden Sepp habe ich diese wunderschöne Bergfahrt auf den Donnerstag verschoben. Also leisten wir uns eben heute einen Ruhetag. Es beklagt sich auch keiner über die spät auftauchende Weckordonnanz. Schon vor dem Morgenessen erleben wir eine kleine Überraschung: Ein Skorpion von etwa 4-5 Zentimetern Länge hat dem grossen Zelt einen Besuch abgestattet und ist dabei in einen Essteller gestolpert. Nachdem das verängstigte Tier in allen Variationen photographiert worden ist, bringen wir es in die Freiheit zurück. Die Suche nach weitern mit Zangen und Gift bewaffneten Gästen verläuft aber negativ. Die Vormittagsstunden verbringt jeder auf seine Art. Am Nachmittag fahren wir gemeinsam zum 12 Kilometer entfernten Asco. An Feigen- und Mandelbäumen vorbei wandern wir zur Genuesenbrücke, wo sich Asco- und Stranciacone-Tal trennen. Es ist ein romantischer, jedoch nicht mehr ganz unbekannter Badeplatz. Nach einem kühlen Trunk kehren wir in unsere Wigwams zurück.

Donnerstag, 2. September Capo Larghia, die Perle des Stranciacone-Tales! Jeder hat sich ganz besonders auf diese Tour gefreut. Nach den üblichen Morgenbe-schäftigungen marschieren wir um 5.45 Uhr los. Bis an den Fuss des Larghia-Nordgrates deckt sich die Route mit derjenigen zur Punta Minuta. Ein markanter Steinmann signalisiert die Routenabzweigung. Im unschwierigen, gut-gegliederten Fels mit seiner äusserst rauhen Oberfläche gewinnen wir sehr rasch an Höhe. In der letzten Mulde unterhalb des Col du Vallon steigen wir in südwestlicher Richtung über Geröll und Felsstufen zur Breche Felix, der Scharte zwischen Ost- und Westgipfel des Larghia. Dem Westgipfel wollen wir heute unsern Besuch abstatten. In der einige Meter südlich der Scharte liegenden Verschneidung befindet sich, etwas verborgen, der Einstieg. In herrlicher Genusskletterei erreichen wir nach fünf Seillängen den 2520 Meter hohen Larghia-West-gipfel. Vor Freude und Zufriedenheit strahlende Augen begegnen sich beim Gipfelgruss. Besonders Sepp ist glücklich über den vorver-legten Ruhetag. Ein letztes Mal schauen wir aus dieser Höhe hinab ins Stranciacone-Tal, denn morgen dislozieren wir in das tief unter uns liegende südlichere Viro-Tal. Müde, aber wohlbehalten und zufrieden kehren acht Zim- merbergler in ihr Zeltlager zurück. Bei gemütlichem Hock im Restaurant Stagno geht für uns ein prachtvoller, erlebnisreicher Tag zu Ende.

Freitag, 3. September Heute ist « Zügeltag ». Es gilt Abschied zu nehmen von dem uns liebgewordenen Stranciaco-ne-Tal mit seinen reizvollen Bergen. Nachdem wir uns in Asco von Freund Franceschetti, einem waschechten Korsen, verabschiedet haben, geht die Fahrt nach Ponte Leccia am Golo, von dort weiter über Ponte Castirla, Calacuccia, Albertacce zum höchstgelegenen Dorf, Calasima. Es ist ein nettes, vorwiegend aus Steinhäusern gebautes Dörfchen in 1100 Metern Höhe. Wie überall im korsischen Bergland sind auch hier die grauen Gesellen, die Esel, heimisch. Gemütlich trotten sie durch die staubigen Gässchen oder liegen träge im Schatten der Bäume. Eine drückendheisse Luft flimmert an den gelbbraunen, dürren Hängen des Monte Albano. Über das holprige Natursträsschen können wir bis zur Bergerie de Melarie am Viro-Bach, auch Calasima genannt, mit den Fahrzeugen vordringen. Mit grosser Eindrücklichkeit öffnet sich ein stilles, einmaliges Naturparadies vor unsern Augen. Stolz erhebt sich im Westen die Felskulisse des Königs der korsischen Berge, die Paglia Orba. Wir können kaum fassen, dass dieser herrliche Fleck Erde für einige Tage uns ganz allein gehören soll.

Samstag, 4. September Langsam zieht sich die Morgendämmerung zurück und lässt einen wunderschönen Bergtag ins Viro-Tal leuchten. Die Bergerie Prugnoli liegt bereits hinter uns, und mächtige, knorrige Bergkiefern zeigen die obere Waldgrenze an. Den Abbruchen des Prugnoli-Baches folgend, gelangen wir nach drei Stunden zum Col de Foggiale ( 1963 m ). Hier trennen sich die Routen zur Paglia Orba und ihrem interessanten Nachbargipfel, dem Capo Tafonato. Unser Ziel ist die 2525 Meter hohe Paglia Orba. Ihrer Süd- wand vorgelagert ist die Foggiale-Schulter, welche etwas mühsam über eine von Wacholderbüschen überwucherte Geröllhalde erreicht wird. Am nördlichen Ende der Schulter befindet sich der von Mutter Natur geschickt verborgene Einstieg zu den Foggiale-Kaminen. Herrliche Kletterstellen folgen sich in interessanter Abwechslung bis zum Gipfel. Freudestrahlend stehen wir auf einem der schönsten Berge Korsikas. Hier oben offenbart sich uns einmal mehr die Schönheit des Viro-Tales mit seiner vom Monte Cinto über Capo Larghia, Punta Minuta bis zur Paglia Orba reichenden Felskulisse. Im Süden erstrecken sich die unübersehbaren Waldflächen des Valdo-Niello und Aitone. Über die Normalroute, d.h. den Westgrat, steigen wir zum Col de Foggiale ab, um dann, dem Aufstiegspfad folgend, das Viro-Tal zu erreichen. In den kristallklaren, kühlen Bergbächen finden unsere erhitzten Körper immer wieder wohltuende Erfrischung.

Gross ist unser Staunen, als wir beim Zeltlager eintreffen: Eine vandalische Unordnung bedeckt den am Morgen sauber verlassenen Platz. Nach kurzer Suchaktion können wir die Bösewichter ausfindig, jedoch nicht dingfest machen, Hinter den nahen Bäumen rüsseln sie grunzend auf feuchtem Waldboden nach etwas Essbarem. Damit begegnen wir zum erstenmal den freilebenden Schweinen. Um weitere Unannehmlichkeiten mit diesen neugierigen Nachbarn zu vermeiden, hängen wir die Kehrichtsäcke ab sofort zwei Meter über dem Boden auf. Bei Gaslicht im Freien und einem guten Tropfen lassen wir diesen schönen Tag ausklingen.

Sonntag, 5. September Es ist 6 Uhr morgens. Aus den Baumwipfeln ertönt ein munteres Konzert - ein Morgengruss der gefiederten Freunde. Ornithologe Noldi erklärt uns dann, welche Stimmen zu den einzelnen Vogelarten gehören. Nach dem ausgiebigen Morgenessen rüsten wir uns zur Besteigung des Monte Albano. Wegen stärkerer Beinschmerzen und auf Uelis ärztlichen Rat kann Sepp heute die Gipfelfreuden nicht mit uns teilen.

Wir andern marschieren zuerst in NW-Rich-tung bis oberhalb der Engelsgrotte, dann nordwärts über Pfadspuren zur Schulter, 1480 Meter ( Gratausläufer des Monte Albano ). Wir begegnen einer Herde korsischer Schafe, Mufflon genannt, welche zwischen Disteln und dürren Gräsern ihre spärliche Nahrung suchen. Schweine und Schafe leben hier frei und ziehen während der Sommermonate ohne menschliche Führung ihren kargen Futterplätzen nach. In diesen Höhenlagen ist die Schafzucht stark im Rückgang begriffen, was auch die zerfallenen Bergerien ( Alphütten ) bestätigen. Über den Westgrat einige kleinere Felsaufschwünge überkletternd und durch das Westcouloir erreichen wir nach drei Stunden den 2020 Meter hohen Monte Albano. Ein Steinschlag im Couloir hätte beinahe noch unsern Arzt Ueli zum Einsatz gebracht. Ein letztes Mal streifen unsere Blicke hinab ins grossartige Viro-Tal, ein letztes Mal grüssen uns Monte Cinto, Capo Larghia und Punta Minuta, denn morgen ist Dislokation nach Calvi an der Westküste. Die frühzeitige Rückkehr benützen wir zu einem Dorf-bummel im nahen Calasima. Fern von Verkehr und Massentourismus, blieb Calasima für seine naturverbundenen Besucher als Oase der Ruhe bis zum heutigen Tag erhalten, und seine Bewohner sind trotz ihres kargen Lebens von sprichwört-licher Gastfreundlichkeit.

Noch einen kräftigen Schluck Casanis, dann kehren wir heim zu Noldi, der unterdessen vergeblich nach Schlangen gesucht hat. Die unendlich vielen flinken Eidechsen haben aber trotzdem etwas Leben in seine Safari gebracht. Längst ist die Sonne hinter der Paglia Orba verschwunden, und die Abendfrische legt sich schweigend über das Viro-Tal und seine glücklichen Gäste.

Montag, 6. September Der Augenblick ist gekommen, wo wir vom Viro-Tal und seinen Bergen, die uns so viele 1Foggiale-Kamin am Paglia Orba 2Gipfelrast auf der Punta Minuta ( 2556 m ); Blick zum Paglia Orba und Tafanato 3Ungestörtes, freies Zeltleben Photos P. Schroffenegger und A. Hotz frohe und erholsame Stunden beschert haben, Abschied nehmen müssen. Nach einem letzten Blick zurück entschwindet das wuchtige Felsmassiv der Paglia Orba langsam hinter den gelbbraunen Hängen von Calasima. Bei Albertacce biegen unsere Fahrzeuge in die Ost-West-Ver-bindungsstrasse RF 9 ein und steuern dem 1464 Meter hohen Vergio-Pass zu. Im Schatten der wunderschönen Forste Valdo-Niello und Aitone führt die schmale Strasse in unzähligen Kehren nach Evisa, ins Tal des Porto. Die gewaltige, wildzerrissene Schluchtlandschaft nach Porto mit ihrer kühnen Strassenführung muss jeden Reisenden tief beeindrucken. Unsere mittlere Reisegeschwindigkeit beträgt 25 Kilometer in der Stunde, und die Konzentration der Chauffeure wird aufs äusserste beansprucht. In Porto tanken wir die verbrauchten Kräfte und Kalorien wieder auf. Frisch gestärkt rollen wir durch die nachmittägliche Hitze in abwechslungsreicher Fahrt der wenig besiedelten Westküste entlang nach Calvi, unserem heutigen Etappenziel.

Dienstag, 7. September Der Vormittag steht zur freien Verfügung; die Wasserratten finden in der langgezogenen, mit Seestrandkiefern flankierten Bucht oder an der etwas südlich gelegenen romantischen Felsenküste ihr Badevergnügen. Den geschichtlich Interessierten zieht es dagegen in die mit mächtigen Befestigungsmauern umgebene Altstadt, den Geburtsort Kolumbus '. Die erhöhte Lage vermittelt dem Beschauer eine grossartige Aussicht auf das tiefblaue Meer und die fruchtbaren Kulturflächen der Balagne. Gute Flug- und Schiffsverbindungen haben das einstige Garni-sonstädtchen in einen Ort der Fremdenindustrie verwandelt. Dem Badegast bietet Calvi ein ausgesprochen mildes und niederschlagsarmes Klima.

Nachdem auch der letzte Zimmerbergler von seinen Streifzügen zurückgekehrt ist, können die Chauffeure ihre von Staub strotzenden Vehikel in Gang setzen. Eine gutausgebaute Autostrasse führt durch das dichtbesiedelte Gebiet der Balagne und verbindet Calvi mit I'Ile Rousse. I'Ile Rousse ist der Ausfuhrhafen der fruchtbaren Beckenlandschaft Belgodere. Man nennt dieses Gebiet wegen seines Reichtums an Oliven, Mandeln, Getreide und Weinkulturen auch den « Garten Korsikas ». Aber bereits wenige Kilometer ostwärts ändert sich das Bild der Vegetation und Siedlungsdichte gewaltig. Über 30 Kilometer erstreckt sich das fast unbewohnte dürre Felsland « Désert des Agriates ». Mit Macchia-Sträuchern durchsetzte Legföh-ren- und Erlenbestände fristen ein kümmerliches Dasein. Zudem sind weite Gebiete durch menschliche Unvorsichtigkeit vom Feuer gänzlich zerstört worden. Nur schwer kann sich die Natur von diesen Brandwunden erholen. Von Staub und Hitze gezeichnet, erreichen wir um i 6 Uhr das Fischer- und Bauernstädtchen St-Florent. Den kurzen Aufenthalt benützen wir zu einem erfrischenden Bad in den kühlen Meeresfluten. Im Gegensatz zur hinter uns liegenden « Désert des Agriates » ist die Beckenlandschaft von St-Florent wiederum äusserst fruchtbar. In den verschiedenen Höhenlagen gedeihen Getreide, Oliven, Korkeichen, Reben und Gemüse. Noch liegt das idyllische Städtchen abseits vom modernen Massentourismus, im Schatten von Calvi und I'Ile Rousse.

Die langsam gegen den Meereshorizont sinkende Sonne mahnt uns zur Weiterfahrt. Über die Passstrasse des Col de Teghime trennen uns noch 23 Kilometer von Bastia. An den einstmals fruchtbaren Hängen oberhalb Bastia richten wir unser letztes Nachtlager ein. Da keine Wetterverschlechterung zu befürchten ist, verzichten wir auf den nochmaligen Zeltbau. Bäume und Sträucher geben uns ein Gefühl der Geborgenheit, und der sternenklare Nachthimmel geleitet uns dem neuen Tag entgegen.

Mittwoch, B. September Ein Kitzeln im Gesicht setzt meinem tiefen Schlaf ein unsanftes Ende. Der Ruhestörer ent- « -s*,.

4Capo Larghia, Westgipfel ( 2520 m ) Photo P. Schoffenegger/A. Hotz 5Inder Morgendämmerung verlassen die herrenlosen Esel das Bergdorf und ziehen in die Macchia 6Esel in der Bergerie ( Hirtenniederlassung in den Bergen ) Photos Rudolf Schiffer, Freiburg i. Br.

puppt sich als zierlicher Käfer, der ausgerechnet mein stoppelbärtiges Relief für seinen frühen Morgenspaziergang gewählt hat.

Erst das Licht des Morgens offenbart uns die grossartige Aussicht zum Meer und hinab zur Küstenlandschaft des Bigugiia-Sees. Einem Feuerball gleich steigt die Sonne durch den Dunst des östlichen Horizontes und lässt mit ihrem Licht das Wasser in zartem Glanz erstrahlen. Es ist I Uhr; kräftige Seemannsarme lösen die Taue und geben der « Corsica Line » freie Fahrt.

Wir nehmen Abschied von einem uns liebgewordenen Stück Erde, einer wunderschönen Insel im Mittelmeer. Mit der leisen Hoffnung, dieses Naturparadies wieder einmal zu sehen, kehren wir heim an die Nordflanke des Zim-merberges.

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