Sommernacht auf dem Schächentaler Gross Ruchen
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Sommernacht auf dem Schächentaler Gross Ruchen

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Albert Schmidt, Engi GL

Am Abend des 30. Juli erreiche ich gegen 19 Uhr den 3138 Meter hohen Gipfel des Gross Ruchen. Hinter mir liegt der erste Tag des heissesten Wochenendes im unvergesslichen Sommer 1983 - doch diesen neuesten Hitzere-kord werde ich erst später, auf der Rückfahrt, aus dem Radio vernehmen. Und es ist wohl auch besser für die Moral, erst hier oben auf der Karte zu entdecken, dass der Ausgangspunkt meines Unternehmens - Unterschächen - nur auf 1000 m Höhe liegt. Das bedeutet einen Aufstieg von 2100 m an diesem brütend heissen Nachmittag; mit dem Biwakmaterial, den Fotoapparaten, dem Zeichnungsmaterial, Pickel, Steigeisen und der üblichen Ausrüstung im Rucksack! Nachträglich wundere ich mich selber, kaum müde oben anzukommen. Aber die tausend Meter durch die Ruch Chälen, in die die Sonne mit voller Glut hineinbrannte und in der die aufgeheizte Luft sichtbar flimmernd über dem Geröll, den Firnresten und den umliegenden Felswänden lastete - das ist schon eine harte Sache gewesen... Dabei liegen jetzt meine Mitmenschen massenweise in den Schwimmbädern und paddeln auf den Seen herum! Sind sie die Klügeren - oder etwa nur die Bequemeren? Eines aber weiss ich bereits: den Lohn für die Mühen des Tages werde ich von nun an empfangen.

Das Abendessen will ich mir erst noch mit einer Zeichnung verdienen. Ich schaue in die Runde der Schwyzer, Glarner, Bündner, Urner und Berner Oberländer Bergketten. Wie schon beim Planen dieser Tour vermutet, erweist sich die benachbarte Grosse Windgälle als stärkstes Motiv. Eine königlich-stolze Gestalt! Von der Chli Windgällen herkommend, schwingt sich der scharfkantige Berg mit ungeheurer Wucht zu seinem massigen und doch eleganten Gipfel auf, um nach der Doppelspitze gleich wieder tief nach Norden abzufallen. Wieder ansteigend, setzt er sich im wild zerrissenen, schartigen Kalkgrat des Stä-fel- und Höhlenstocks fort, um sich beim Gwasmet und Pucher erneut aufzutürmen und hier im Gipfelpunkt des Gross Ruchen zu enden. Den Hintergrund des Motivs bilden die gezackten Ketten der westlichen Urner Alpen, die, in den abendlich-weichen Farben ver-blauend, von den Wetterhörnern und dem Firnhaupt des Titlis abgeschlossen werden. Um halb neun Uhr habe ich die Skizze beendet, eben noch rechtzeitig, um im Lichte der letzten Sonnenstrahlen den Kocher in Betrieb zu setzen und das Biwak einrichten zu können. Ein Abend von wolkenloser Klarheit! Die Luft hat sich schon abgekühlt und ist erfrischend einzuatmen. Ruhe und Frieden des Gipfels geniessend, verzehre ich mein bescheidenes Mahl. Um neun Uhr geht fern im Nordwesten die Sonne unter. Die Dämmerstunde beginnt mit einer Palette durchsichtiger Farbtöne, die sich wie der Schimmer einer fernen Welt des Gross Ruchen ( links ) und Windgällenkette vom Chli Ruchen Lichts über die zerfurchte, alte Erdkruste legen, aus deren tiefen Falten jetzt bereits schon nächtliche Schatten kriechen. Dann, weit hinter dem vorgelagerten Wellenkamm der Kaiserstockkette, der weit sich hinziehende Horizont; in einer blauvioletten Dunstschicht sich auflösend, verbindet er - langsam dunkler werdend - Himmel und Erde. Darüber bildet ein schmaler, orangenfarbener Streifen die Grenze zur leuchtenden Transparenz des Westhimmels. Ein strahlend goldgelbes Band dehnt sich dort aus, das stufenlos verblassend sich im lichten, zarten Weissblau der Him- melskuppel verliert. Mittendrin erscheint im Nachglühen des versunkenen Sonnenballs noch für kurze Zeit ein rosaroter Schimmer.

In satter Schwärze recken sich jetzt die beiden Windgällen nebenan in die Höhe; die Grosse wirkt mit ihren wuchtigen Kanten und dem schweren Felskörper wie das steinerne Symbol der Unzerstörbarkeit. Um halb zehn Uhr steht plötzlich ein erster Stern als leuchtender Funke mitten im noch leicht aufgehellten westlichen Himmel. Doch von Osten her anrückend, breitet sich nun ein mattes, grau-blaues Zeltdach aus, die Nacht unter seiner Wölbung mitführend.

Nachtdunkel schon versinkt der Kessel des Brunnitales in einer unauslotbar werdenden Tiefe. Leises Glockengeläute der Viehherde dort unten klingt wie ein Danklied an den vergangenen Bergsommertag hinauf zu den Gipfelhöhen. Weit unten grüssen die zusammengedrängte Lichterschar von Unterschächen und jenseits am grossen Berghang die erleuchteten Fensterpunkte der vielen Schächentaler Bauernhöfe und Alphütten. Und jetzt steht endlich ein zweiter grosser Stern hoch und hell im Süden über dem Oberalpstock.

Unendlich langsam verdunkeln die warmen Farben im Westen, so, als wollte dieser Sonnentag einfach nicht Abschied nehmen von der Erde, seiner einschlafenden Geliebten. Träumend schenkt sie ihm noch ihren ruhigen Atem, eine Harfenmelodie aus Wäldern und verwitterten Felsflanken, die schwebend aufsteigt ins letzte Licht. Lauschend und schauend gehöre ich jetzt in diese Verbundenheit von Raum und Zeit, für diese Stunde nicht ein Ruheloser, Suchender, Irrender in dieser Welt, sondern Teil der Einheit, am Grenzpunkt hier zwischen Himmel und Erde, zwischen Tag und Nacht.

Ich schlüpfe in meinen Schlafsack, den ich auf dem kaum körpergrossen, ebenen Plätzchen unter dem grossen Gipfelkreuz ausgebreitet habe. Unmittelbar nebenan fällt die Nordwand 1500 m tief ab zur Brunnialp.

Sicherheitshalber lege ich noch einen Felsblock zwischen mich und den Abgrund. Nun ist das unergründlich tiefe Nachtblau des Himmels über mir mit unzähligen Sternbildern, golden funkelnd bestickt. Das gleichmässige Rauschen des Gletscherbaches, der unten über eine Felsstufe vom Ruchenfirn in die Ruch Chälen hinunterspringt, klingt über die Türme des Ostgrates und den Firnrücken hinauf zum Gipfel und vermischt sich mit dem Raunen des Nachtwindes, der aus dem weiten Raum über den Bergen daherkommt. Mit zärtlicher Gebärde streicht er über die still harrende Bergspitze, löst einen Ton aus den metallenen Kanten des Gipfelkreuzes und nimmt auch meinen leisen Atem mit sich auf seine Reise durch die Nacht. Wohin sie wohl führen mag?

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