Tinzenhorn Südwand
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Tinzenhorn Südwand

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Alfons Rocco

Mit 3 Bildern ( 98—100 ) ( Chur ) Der schmale Himmel über uns ist föhngestreift. Das Tal dünkt uns heute länger denn je. Zum drittenmal in diesem Sommer betreten wir die Aelahütte; heute fehlen einzig die in diesem Sommer bisher obligaten Regenschirme. Der Hüttenwart hat uns erwartet, er kennt bereits unsere Hartnäckigkeit!

Unser Besuch gilt erneut dem direkten Durchstieg der Südwand des Tinzenhorns, welche trotz der bereits im Jahre 1935 erfolgten Erstbegehung bis heute noch nicht wiederholt wurde. Schon vor fünf Jahren waren wir zu viert in der Wand; doch kostete uns damals ein « Verhauer » so viel Zeit, dass wir uns in Zweidrittel Wandhöhe zum Rückzug entschliessen mussten.

Um 4.45 Uhr sind Hans Bernhard, Ernst Meng und ich bereits unterwegs zum Orgelpass. Ein scharfer Wind bläst uns entgegen, wie wir die Gratscharte betreten. Da ragt sie empor, diese Wand: lotrecht, abweisend, ungegliedert. Noch hat die Sonne den Weg in die Wand nicht gefunden.

Ein kurzes Studium unseres Weges von 1937 bringt mir vieles wieder in Erinnerung. Über unserer Umkehrstelle setzt die teilweise überhängende Schlusswand an, wohl über 200 m hoch und voll Schwierigkeiten. Sie ist gelb geblieben, diese Wand, da das algennährende Regenwasser hier keinen Zutritt findet und auch kein Schnee dort oben haften bleibt.

Irgendwo im gelben Wandteil muss der grosse Quergang sein, welcher den beiden Davosern Alder und Durka bei ihrer Erstbegehung den weiteren Aufstieg ermöglichte.Vier Wochen später fand Alder zusammen mit seinem anderen Tourenkameraden Prohaska in dieser gleichen Wand einen frühen Bergtod. Sie waren ausgezogen, um einen weiteren neuen Aufstieg durch die stolze Wand zu erkunden; doch diesmal war ihnen das Schicksal nicht gut gesinnt. Dort drüben am Fusse des düsteren Orgelkamins ist ihr zerschlissenes Bergseil, das sie bis in den Tod verband, um einen schlichten Gedenkstein gelegt.

Voller Erwartung sind wir bald am Einstieg. Ich leere den Sack völlig aus — doch es ist so: es bleibt nur ein Kletterfinken zu sehen. Jacke und Pullover sind nirgends zu finden. Trotzdem es eher zum Heulen wäre, lachen die andern über meine Vergesslichkeit; doch es war beim Aufbruch in der Hütte einfach noch zu dunkel, um zu sehen, was alles mitmusste.

Am liebsten würde ich gleich hier bleiben mit meinem Ärger. Meine schadenfrohen Gefährten helfen mir jedoch aus der Verlegenheit: Mit geliehenen Vibramschuhen und Pullover trete ich den Weiterweg an.

Ernst führt zuerst. Wir sind für geregelten Kräfteverbrauch und wollen in der Führung wechseln. Steil und glatt geht es gerade empor in eine ausgewaschene Rinne, welche schon recht grifflos beginnt. Nach dieser Rinne halten wir schwach links empor bis zu einem Wändchen. Der Fels ist kalt und froh begrüssen wir die Sonne, welche uns hier um 7 Uhr erreicht. Nach einigen weiteren Seillängen sind wir unter einem schon vom Einstieg aus sichtbaren Überhang. Weit überdacht sitzen wir vereint auf schmalem Gesims beim zweiten Frühstück. Unsere Beine baumeln ins Leere.

Bei den Orgeln sind die drei Davoser aufgetaucht, welche mit uns in der Hütte nächtigten. Sie haben uns entdeckt, und wir wechseln frohe Jauchzer. Eine Photo von unserm Horst; dann verschwindet Ernst nach links auf schmalem Band. Das Seil läuft langsam, hält an, geht weiter. Dann kann ich folgen. Ernst hat die einzige schwache Stelle des grossen Überhanges bereits überlistet und steht 10 m senkrecht über mir auf glatter Platte. Steil und kleingriffig geht es zu ihm empor. Schon drängt Hans nach und steigt geradeaus höher, obwohl die Route der Erstbegeher offenbar rechts liegt. Die Platte, mit einem äusserst heiklen Ausstieg rechts um die Ecke, gibt ihm gehörig zu tun.

Im Nachkommen nehme ich den ersten Haken mit. In einer Scharte der hier herabziehenden Wandrippe stossen wir auf die kleine Blechbüchse von unserem ersten Versuch. Einen zweiten Zettel legen wir dazu, und weiter geht 's. Zur Abwechslung führe nun ich. Über gutgriffige Stufen erreiche ich ein breites, nach rechts ansteigendes Geröllband. Dieses wird bald wieder nach links hinauf verlassen, wo unter dem gelben Wandteil der erste Quergang links ansetzt. Anfangs gelange ich über lose Blöcke hinweg fast horizontal nach links, in eine Nische. Da diese noch im Schatten liegt, steige ich etwas ab auf einen sonnigen Geröllflecken hinüber. Es ist erst 10 Uhr. Wir sind zufrieden mit unserem Vorwärtskommen und leisten uns ein weiteres Rasten. Doch gar zu bald wollen meine Kameraden weiter; denn sie sitzen drüben in schattiger Nische und frieren. Ich steige zu ihnen zurück und mache mich an die nun überaus steil werdende Wandstufe. Durch eine rissartige Verschneidung winde ich mich höher. Der Rucksack behindert mich hier übermässig. Einen Haken zur Sicherung, dann sende ich den Sack « per Seilbahn » zurück. Nun kann ich mich in die richtige Lage drehen. Die Füsse versperrt und verdreht, drücke ich mich ganz in den überhängenden Riss. Anstrengend arbeite ich mich höher. Einige Meter noch nach rechts hinüber, und schon grüsst mich rostgerötet der Rückzugshaken von 1937.

Hans und Ernst folgen, und wir sind uns einig, dass mit dieser letzten Seillänge die eigentlichen Schwierigkeiten begonnen haben.

Tief unten im Wenzel-Südanstieg sonnen sich die drei Davoser. Auf dem Rücken liegend verfolgen sie unseren Aufstieg, welcher gewiss noch spannender aussieht, als er ist.

Den Abseilhaken nehme ich mit, und nun übernimmt Hans endgültig die Führung. Laut Mitteilung von Durka führt der Aufstieg links drüben durch jene grosse Verschneidung. Von mir gesichert, gewinnt Hans den schwierigen Einstieg in die Verschneidung. Diese ist glatt und nahezu senkrecht; doch mit grosser Fertigkeit erreicht er nach einer halben Seillänge eine kleine Nische, wohin ich nachfolgen kann. Der Rucksack zwingt mich, in ganz « zerknickter Lage » den Standplatz einzunehmen. Es scheint mir eine ganze Ewigkeit zu dauern, bis Hans die 30 m Seillänge aufgestiegen ist!

TINZENHORN-SÜDWAND Es schmerzt mich schon gehörig im Kreuz, wie ich Ernst nachnehme. Gerne überlasse ich ihm diesen Stand und klebe auch schon in der glatten Wand. Erst nach einigen Metern zeigen sich in der linken Wand kleine Leisten, und mit aller Geschicklichkeit turne ich über diese hinauf. Die Wand drängt ordentlich vor; doch helfen einige Griffe links empor auf einen Geröllflecken, wo mich Hans erwartet. Das war die grosse Verschneidung! Nun muss Ernst noch herauf aus der Tiefe, und dann sitzen wir wieder vereint, um 15 Stockwerke höher, und wissen nicht, ist das der Beginn des grossen Querganges, der rechts ansteigt? Es sieht wirklich wenig einladend aus!

Hans schleicht hinüber, schiebt sich in niedrigem Durchschlupf auf abschüssigem Band nach rechts um die Ecke. Er räumt gleich gründlich auf mit all dem losen Zeug, das ihm « im Wege » liegt. Nach ca. 15 Metern erreicht er einen kleinen Standplatz. Ich folge. Zwei Rucksäcke, einer im andern versorgt, erschweren mir den Einstieg. Auf dem Bauche krieche ich über das niedere Bändchen bis zur vorspringenden Ecke. An einem guten Griff hängend, lasse ich den Körper nach aussen rutschen, und schon spreizt der rechte Fuss weit hinüber. Bei Hans angelangt, sichere ich mich am gut sitzenden Standhaken. Hans setzt die Querung fort. Auf schmalen Leisten und an hochliegenden kleinen Griffen schleicht er hinüber. Die Fersen ragen ins Leere. Die Ausgesetztheit lässt wirklich nichts zu wünschen übrig!

Fast 30 Meter geht mein Gefährte weiter; dann kann ich Ernst nachnehmen. Trotz des Rucksackes folgt er behende und hängt bald bei mir am Haken. Einen so luftigen Quergang haben wir bisher noch keinen erlebt. Im Bericht der Erstbesteiger liest man, dass Alder diese Querung als das Schwerste des ganzen Aufstieges angesehen hat. Nachdem wir diese nun glücklich hinter uns haben, sind wir zuversichtlich gestimmt. Im Süden aber türmen sich düstere Wolken, was uns zwingt, raschmöglichst von dieser exponierten Stelle fortzukommen. Durch einen Riss arbeiten wir uns hinauf. Nach einer weiteren Seillänge erreichen wir, schwach links haltend, eine kleine Schuttrampe, welche uns hier in steilster Wand doppelt willkommen ist; denn schon fallen die ersten schweren Tropfen. Rasch die Seile auf einen Haufen geworfen, die Rucksäcke als Sitz — und schon müssen wir den Biwaksack über unsere Köpfe ziehen, denn nun schüttet ein ergiebiges Gewitter seinen Regen aus.

Wir benützen diesen unfreiwilligen Halt, um das Mittagessen einzunehmen: Sardinen — Schokolade — Früchte — Salsiz, grad wie wir sie aus unseren Säcken zerren. Dann dampft der Tabak, und wohlig warm ist unsere Klause. Ein Blick durchs Ausguckfenster lässt nur die nächsten Felsen erkennen; ein Nebeltuch verhüllt alles andere. Wir rauchen also ruhig weiter. Erst nach einer Stunde packen wir den Zeltsack zusammen, als der Regen nachgelassen hat.

Es folgen einige schwierige Seillängen, welche plattig und zufolge der Nässe äusserst heikel sind. Dann endlich wird der Fels etwas leichter und weniger ausgesetzt. Der Höhenmesser zeigt 3000, der Gipfel muss also nahe sein. Doch sehr verlässlich ist dies heute nicht; denn das Wetter drückt den Höhenmesser wohl gehörig hinauf.

Rasch kommen wir vorwärts, bis ein neuer steiler Wandaufschwung uns Halt gebietet. Auf schiefem Band versuchen wir nach links auszuweichen; aber überall schiesst der Fels steil und glatt in die Höhe. Hans steigt ein, wo es am wenigsten aussichtslos erscheint... Glücklicherweise hat hier die Sonne am Vormittag gründlich vorgewärmt, so dass bereits die letzten Regenspuren verdampfen. Hans ist über unseren Köpfen verschwunden, und langsam läuft das Seil weiter. Dann hält es lange. Hans flucht — keine Ritze für den notwendigen Sicherungshaken. Also muss er ohne eine solche Sicherung weiter. Zentimeterweise läuft das Seil aus. Dann hämmert 's über uns. Kligg — der Karabiner hat eingeschnappt. Wir atmen erleichtert auf. Doch schon pfeifen Steine herab, jetzt festhalten! Es bleibt jedoch bei den Steinen. Hans hat zum Glück nur abgeräumt. Ernst verzieht schmerzhaft sein Gesicht und kriecht zu mir ganz unter den Überhang. Am Schlüsselbein hat 's ihn erwischt.

Von oben her kommen Kommandos: « Linna Zug! » — « Berta Zug! » Wir sind im Bilde: da oben fehlen die Haltepunkte. ( Die « Linna » ist dünn, zum Unterschied von der « Dicken Berta », die beiden Seile nämlich, die von mir zu meinem Kameraden hinaufführen. ) Doch das Seil läuft schwer, es führt über zu viele Kanten. Mit « Wellenschwingern » rutscht es zentimeterweise nach, doch nach ein paar Metern verklemmt es sich endgültig. Ich will Hans verständigen. Aber alles Rufen nützt nichts, der Wind trägt den Schall davon. Also muss ich nachsteigen, um das Seil zu lösen. Ein schwieriges Unterfangen ohne jeglichen Seilzug von oben. Endlich bin ich beim eisten Haken und hänge das widerspenstige Seil aus. Nun kann Hans die Seile einziehen und mich bis zum zweiten Haken nachnehmen, der in fast griffloser Wand steckt.

Von dort führt das Seil nach rechts um eine Kante, so dass ich immer noch keine Augenverbindung mit Hans habe. Abwechslungsweise mit einem Fuss auf schmaler Leiste stehend, scheint es mir wieder unendlich lange zu dauern, bis der Befehl zum Nachfolgen ertönt. Sobald ich Ernst nachgenommen habe, trete ich den Weiterweg an. Nun begreife ich, dass Hans nur langsam vorwärtsgekommen ist; denn der kurze Quergang um die Kante und die folgende nur schwach ausgeprägte Verschneidung übersteigt alles Bisherige an Schwierigkeit. Es ist mir nicht ganz klar, wie sich Hans da hinaufgearbeitet hat.

Als ich keuchend zu ihm auf die Gratkrone steige, erblicke ich zu meiner Überraschung in nächster Nähe den Gipfel. Also war dies die Schlusswand. Der Berg hat sich zäh verteidigt und als letzten Trumpf diese äusserst schwierige Seillänge für uns aufgespart. Gewiss sind wir zu weit links ausgestiegen, sonst hätten die Erstbegeher diese Seillänge bestimmt nicht vergessen in ihrem Bericht. Doch wir sind oben, und das ist die Hauptsache!

Nachdem auch Ernst, der froh ist, für heute keine weiteren Haken mehr herausschlagen zu müssen, nachgefolgt ist, lassen wir uns an Ort und Stelle zu einem wohlverdienten Imbiss nieder. Dann rollen wir die Seile ein und wenden uns dem nahen Gipfel zu. Fern von uns im Norden rollt dumpf der Donner. Das Unwetter ist über uns hinweggezogen, und die Abendsonne TINZENHORN-SÜDWAND bricht bereits wieder zwischen den Wolken hervor. Froh treten wir den uns bekannten Abstieg an. Ohne Seil steigt ein jeder auf eigene Faust die Ostgratroute ab. Ein Jauchzer wird von der Aelahütte her erwidert. Man weiss also von unserer glücklichen Rückkehr.

Rasch sind wir unten am « Bot rotond ». Ohne Halt wende ich mich den Orgeln zu. Ich hole die im Einstieg zurückgelassenen Schuhe und einsamen Kletterfinken. Vom Rucksack unbeschwert steige ich rasch und stehe bald wieder oben auf dem Orgelpass. Im Abendlicht erhebt sich die wuchtige Südwand.

Bald nach meinen Gefährten erreiche auch ich die heimelige Hütte.

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