Über das Ofenhorn ins Binntal
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Über das Ofenhorn ins Binntal

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON WALTER SCHMID, BERN

Mit 2 Bildern ( 68, 69 ) Einer meiner Bekannten, der sich berechtigterweise als guter Kenner des Wallis betrachtet und den ich, wenn seine Kenntnisse nicht an der Baumgrenze erschöpft wären, als gewichtigen Nebenbuhler betrachten müsste, dieser liebenswerte Mann pflegt jedesmal, wenn wir zusammentreffen, ein Loblied auf das obere Binntal anzustimmen. Ich habe ihn sehr im Verdacht, dass er zwar von dem, was er besingt, ehrlich überzeugt ist, dass es ihm aber gleichermassen Spass macht, mit dem Finger auf eine bedenkliche Lücke in meiner Kenntnis des Walliser Landes zeigen zu können. Es war für mich seit langem klar, dass diese unerfreuliche Situation meinerseits bereinigt, diese klaffende Lücke in meinen Kenntnissen geschlossen, die Schönheit des oberen Binntales ergründet werden musste. Und zwar so bald wie möglich, da der Druck auf mein touristisches Gewissen allmählich unerträglich wurde.

So ergab es sich, dass ich eines schönen Tages, mitten im Hochsommer, mit Sack und Pack und Bergführer aus den Bergen des Oberlandes lief, mit dem Auto über die Grimsel ins Oberwallis fuhr und in Ulrichen Quartier bezog mit dem Vorhaben, das Binntal an seiner Wurzel, am Ofenhorn, anzupacken.

Da wir fluchtartig über die Berge ins Goms dislozierten, war es mit der Vorbereitung unseres Ausfluges zum Ofenhorn recht mangelhaft bestellt. So mussten wir, zwischen dem Abendschoppen und dem Kalbsbraten, unter anderem feststellen, dass die Attacke auf das Ofenhorn von der italienischen Seite aus zu erfolgen hatte, wozu das Rifugio Città di Busto ennet dem Griespass als Ausgangsbasis am besten geeignet schien. Dazu fehlten uns aber einerseits die Pässe, anderseits die unvermeidlichen Lire. Einer von uns war der Meinung, dass wegen des zwölfstündigen Aufenthaltes in einem dick befreundeten Nachbarland keines von beiden nötig sei, während der andere zwischen dem zweiten und dem dritten Dreier die gute Idee hatte, den Grenzwächter um seine Assistenz, zumindest um seinen Rat zu bitten.

Die Assistenz fiel natürlich ausser Betracht, hingegen war der Rat beruhigend. Sofern wir nur bis zum Rifugio in Italien eindrängen, sei eine Auseinandersetzung mit seinem italienischen Kollegen nicht zu befürchten, meinte der Grenzwächter, der, gerade aus dem Keller kommend, ein wunderbares Stück Gommer Käse in der Hand hielt. Leider kam es nicht so, wie der Leser ahnen könnte und wie es unter besonders günstigen Umständen hätte zutreffen können, obschon wir als leidenschaftliche Käseliebhaber unsere Augen während des ganzen Interviews hartnäckig auf den Käse in der Hand des Grenzwächters gerichtet hatten. Mit der Beteuerung, dass die Patronne im Gasthaus über Ähnliches verfüge, parierte der sonst sympathische junge Mann unseren Flirt mit seinem prächtigen Käse, indem er uns gute Reise wünschte und seinen goldenen Besitz mit auffallender Eile Richtung Küche in Sicherheit brachte.

Nun muss gesagt werden, dass der im Goms produzierte Käse nicht irgendein Käse ist. Das, was man ihm gelegentlich vorwirft, hat er mit allen andern Käsesorten gemein: die Konstanzlosigkeit der Qualität. Dabei geht es neben der Sorgfalt in der Herstellung vor allem auch um den Verkauf und damit den Genuss im richtigen Moment. Der Käse muss, genau gleich wie die Aprikose und die Tomate, das Stadium der Reife erreicht haben, wenn er die besten und die ihm eigenen Qualitäten, vor allem das Aroma, entfalten soll.

Nun, nicht nur der Grenzwächter, sondern auch unsere Wirtin hatte in der Tat einen solchen Käse, der alle Stadien der Produktion, von der saftigen Weide bis zum guten Keller, unter den besten Voraussetzungen durchlaufen hatte -, womit dieser kurze Exkurs in die milchwirtschaftliche Wissenschaft gerechtfertigt und dem Gommer Käse das Kränzlein gewunden wäre, das er, im Schatten seiner mächtigen, ihm an Grösse der Laibe und der Löcher überlegenen Rivalen, ganz besonders verdient.

Von Ulrichen kann man in einem Halbtagsmarsch ins Tessin oder nach Italien auswandern. Die beiden Pässe machen auf der Walliserseite bis in die Grenznähe gemeinsame Sache. Erst kurz vor den Passhöhen machen sie sich selbständig. Der eine wendet sich links, östlich, dem Bedrettotal zu, der andere quert die schweizerisch-italienische Grenze und führt zu den Tosafällen im Formazzatal hinunter. Es sind beides, der Nufenen- und der Griespass, alte Handelswege. Seit die Maultiere auf den Pässen verschwunden, das vergnügliche Passwandern und die Bewunderung von Wasserfällen aus der Mode gekommen sind, ist es im Eginental, durch das sich der Anmarsch vollzieht, still geworden. Es ist eine ernste, von Tannen und Lärchen beherrschte Landschaft, in der ein brausender Bergbach sein ungestümes Lied singt. Von Zeit zu Zeit fallen Murmeltiere mit ihren stechenden Pfiffen in das monotone Konzert ein. Es kommt kein Mensch des Weges, und weit und breit sieht man keinen Stadel, geschweige denn ein Wohnhaus. Das Eginental ist ein einsames Tal, eines der noch stillen, verlassenen Walliser Täler. Erst weit oben, nach gut zweistündigem Marsch, tauchen ein paar Hütten auf. Doch auch hier treffen wir weder Mensch noch Vieh.

Der helle Morgenhimmel hat sich mehr und mehr in eine graue, schwer auf den Bergen lastende Masse verwandelt und dadurch der düstern, verlassenen Landschaft ein zusätzliches Mass von Trübseligkeit aufgebürdet. Es wirkt beinahe als Wohltat, als wir nach den Hütten von Lad plötzlich etwas Lebendiges entdecken, das schwerbepackt im Eilschritt über den Hang herunterkommt. Wir qualifizieren das Lebendige sogleich als Schmuggler, der die streichenden Nebel als einen Beistand des Himmels für sein gefährliches Handwerk benützt. Wir ändern unsern Kurs, um mit dem Abenteurer zusammenzustossen. Doch siehe da, es ist alles andere als ein Schmuggler, ein Abenteurer! Es ist ein fünfzehnjähriger Bub, derein gewaltiges Fuder von Sennereiutensilien von der oberen Alp, der Altstafel, in die Ladstafel hinunterträgt. Gute dreissig Kilo buckelt der Kleine auf seinem schmalen Rücken daher. Die schwere Last drückt so sehr auf seine Lungen, dass er zum Plaudern weder Luft noch Lust hat. Wäre er seinem Ziel nicht so nahe gewesen, wir hätten ganz sicher zugegriffen, dem Bub die schwere Bürde vom Rücken genommen, sie ihm in die Hütte getragen. Ob wir es wirklich getan hätten? O Stimme des Gewissens, peinige mich nicht!

Der Aufstieg zum Griesgletscher bringt uns unsere eigene Last zum Bewusstsein. Nach einem gemächlichen Anstieg durchs Eginental geht es nun eine halbe Stunde unverschämt bergan. Dann aber taucht plötzlich der Gletscher am Horizont auf. Auch ein Zelt ist da, mit sonderbaren Geräten, grossen Stangen und Messlatten. Oha, bald wird es mit dem einsamen Tal der rauschenden Wasser vorbei sein. Maschinen werden kommen, Jeeps die Murmeltiere verjagen, Krane werden gen Himmel ragen, Barackendörfer entstehen. Die Technik wird einmal mehr die Natur vergewaltigen, sobald sie mit den Stangen und mit den Messlatten festgestellt haben, dass sich die Vergewaltigung lohnt. Noch ehe wir aber den Gletscher erreicht haben, sind wir übereinstimmend der Meinung, dass der besagten Handlung mildernde Umstände zuzubilligen seien. Die Art des technischen Handstreichs liegt auf der Hand: es wird darum gehen, die oberste Stufe des Tales unter Wasser zu setzen, mittels Zement die Schmelzwasser des Griesgletschers zu stauen, einen künstlichen See zu produzieren. Während man diesen See produziert, wird es furchtbar her- und zugehen im Eginental und am Griesgletscher. Ist es aber einmal soweit, ist der See mit seiner Mauer da, ich könnte mir wahrhaftig vorstellen, dass von einer Schändung nicht die Rede sein kann, auch wenn man mit Leib und Seele für den Schutz unserer Natur einzustehen und zu kämpfen gewohnt ist. Wenn die leidenschaftlichen Legionäre des Natur- und Heimatschutzes gegen jedes und alles, was der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts in der Landschaft baut oder verändert, ins Feld ziehen, werden ihre besten Kräfte von einer zermürbenden, auf die Dauer aussichtslosen Resistenz verzehrt. Den Technikern Respekt vor der Natur beizubringen ist unsere erste, den Plänen ihrer rücksichtslosen Vergewaltigung des Landschaftsbildes mit unbeugsamer Hartnäckigkeit entgegenzutreten, ist unsere zweite Pflicht. Wenn wir ihnen aber wegen jedem Stausee, jeder Sesselbahn und jeder Bergstrasse, nur weil sie von Menschenhand sind, den Fehdehandschuh hinwerfen, wird unsere Stimme auch dann überhört, wenn es gilt, einer tatsächlich frevelhaften, nie wieder gutzumachenden Abzapfung unserer schönsten Bergbäche und Wasserfälle, einer schändlichen Verunstaltung der Landschaft durch Mastenungetüme und Betonbunker Einhalt zu gebieten.

Mit geringfügigen Nuancen hatten wir drei, als wir uns dem Griesgletscher näherten, in der besagten Frage das Heu auf dem gleichen Tenn. Angesichts des grauen Eiswulstes erinnerte sich einer von uns des Ratschlages des Grenzwächters, den Gletscher nicht nach links zu umgehen, sondern, nach rechts ausholend, kurzerhand zu traversieren, womit eine gute Viertelstunde einzusparen sei. Nun hatten wir es zwar nicht eilig; da wir aber einen patentierten Bergführer bei uns hatten, schien uns ein kleiner Gletscherbummel am Platze zu sein. Es stellte sich bald heraus, dass uns der Mann mit dem Käse einen schlechten Rat erteilt hatte und dass die Überschreitung des Gletschers alles andere als ein Bummel und schon gar keine Abkürzung war. Es war ein regelrechter Eiertanz, da ein nächtliches Gewitter eine spiegelglatte Eisglasur auf dem ausgeaperten Gletscher hinterlassen hatte. Schon die geringste Steigung machte ein normales Gehen unmöglich. Wir schlichen so gut es ging den mit Schuttsplittern bespickten Rinnen nach, schwangen gelegentlich den Pickel und kamen leider nicht um ein paar böse Flüche herum, wenn uns das Glatteis auf den Hosenboden zu werfen drohte. Es hatte sich wieder einmal bestätigt, dass in den Bergen der direkte Weg nicht immer der kürzeste ist.

Von einer Schilderung der Passhöhe darf ich mit gutem Gewissen Umgang nehmen, da graue Nebelschwaden die Sicht nach allen Richtungen vereitelten und als einzige Erinnerung während ein paar Sekunden die unvermeidliche Existenz eines Grenzsteines erkennen liessen. Obschon es längst Zeit zum Znüni gewesen wäre, schickten wir uns an, die düstere Stätte alsbald wieder zu verlassen und in Italien einzudringen.

Um an das Ofenhorn heranzukommen, muss man vom 2462 Meter hohen Pass 300 Meter absteigen und bei der ersten Alp, deren mageres Kraut und armselige Hütten mit dem Namen Bettelmatt auf gutem Fuss stehen, die verlorenen 300 Meter wieder unter die Beine nehmen. Wir befinden uns nun in dem Grenzland, das im 13. Jahrhundert aus dem Oberwallis besiedelt worden ist und das sich während mehr als sechs Jahrhunderten eine bemerkenswerte Eigenständigkeit zu erhalten verstand. Leider hat dieses Walser Volkstum, dieses ethnographische und folkloristische Wunder dem Herrn Mussolini schlecht in sein überspitztes nationalistisches Konzept gepasst. Zwanzig Jahre Faschismus haben das deutschsprachige Walsertum hinter dem Ofenhorn und hinter dem Monte Rosa mehr dezimiert als vordem sechs Jahrhunderte. Die Walliser Namen sind aus den Zivilstands-registern verschwunden, es gibt keine Zum Stein, keine Jordan und keine Zurbriggen mehr. Sie heissen jetzt Della Pietra, Giordani und Del Ponte. Die vertrauten Ortsnamen im Pomat, das zum Val Formazza geworden ist, sind zuerst von der italienischen, dann sukzessive von der ganzen europäischen Kartographie gestrichen und durch italienische Bezeichnungen ersetzt worden. Die "

Bettelmatt, die magere Alp am Griespass, weit weg von den Ufficiali und den Prefetti, ist mit ihrem wehmütigen Namen der Vergangenheit treu geblieben.

Ich gab mir redlich Mühe, meinen Kameraden zwischen der Bettelmatt und dem Rifugio ein verständliches Referat über diese interessante Emigration zu halten. Leider verflüchtigte sich gleichermassen ihre Aufmerksamkeit, wie mich auf dem forsch in die Höhe gehenden Weg der für eine zusammenhängende Schilderung wünschenswerte Atem im Stich liess. Da sich zudem die Nebel ihrer Feuchtigkeit zu entledigen begannen, konzentrierten sich alle drei auf einen möglichst raschen Einzug in unser Quartier.

Die Hütten des italienischen Alpenclubs sind, von einigen, quasi herrschaftlichen Betrieben mit Bar, fliessendem Wasser in den Zimmern und Kellnern in weissen Kitteln abgesehen, ein Mittelding zwischen einem Gasthof und einer Clubhütte. Die Wartung wird meistens von einer mehr oder weniger zahlreichen Familie, inklusive Bambini, besorgt. In einem Land, das den Wein nicht als Luxus und den Aperitif nicht als Laster betrachtet, versteht es sich, dass in den Hütten mehr Chianti und Valpolicella als Tee getrunken wird - was kein Vorwurf sein soll - und die Flaschen mit den roten, gelben und braunen Säften als ebenso farbenfrohe wie selbstverständliche Dekoration der Hüttenstube betrachtet werden. Und ebenso selbstverständlich ist die Existenz eines Radio, das vom Morgen bis zum Abend mit südlicher Heftigkeit abwechslungsweise wehmütige Liebeslieder und kreischenden Jazz in die dicke Luft hineinpumpt.

So waren wir beim Eintritt ins Rifugio Città di Busto im Handumdrehen in einem echt italienischen Milieu, zu dem auch eine jugendliche Gesellschaft beitrug - zwar etwas laut, aber doch in der sympathischen, frohgemuten Art, die unsern Nachbarn eigen ist und die sie, je mehr wir uns selbst und andere Völker kennen, so liebenswert macht.

Der ganze lange Nachmittag stand im Zeichen eines sintflutartigen Regens, der, von der Jungmannschaft unter Zuhilfenahme des Radio, von uns in Gesellschaft einer mit Stroh garnierten, wohlbeleibten Tischfigur totgeschlagen wurde. Gegen Abend, als die Sintflut in einen banalen Landregen überging, stürmte die Schar zu Tal, so dass wir das Haus, von der Patrona und ihrer Familie und zwei ganz oder beinahe verheirateten Paaren abgesehen, ganz für uns hatten. Da wir uns aber immer noch in der Minderheit befanden, war dem schmetternden Radio auch jetzt nicht beizukommen. Erst als die Minestra auf dem Tisch erschien und plötzlich ein furchtbarer Donnerschlag die Hütte erschütterte und das Licht ausging, schwieg auch die böse Erfindung des Herren Marconi. Die Hüttenmutter war der Situation in allen Teilen gewachsen und kam alsbald mit zwei Kerzenstöcken daher, so dass dem weiteren Genuss der ausgezeichneten Minestra nichts im Wege stand.

Ich würde mich glücklich schätzen, wenn mir die Fähigkeiten gegeben wären, dem Leser das Erlebnis des etwa halbstündigen Gewitters einigermassen richtig zu schildern. Die Hütte liegt innerhalb eines Tales auf einem Felsrücken, unweit eines Stausees. Es konnte nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass sich das Gewitter nur ein paar hundert Meter über dem kleinen Tal abspielte, so dass der Donner eine Macht entfaltete, die regelrecht beängstigend war. Das Schauspiel bestand aus zwei Phasen, einer optischen und einer akustischen, wie es sich für ein rechtes Gewitter gehört. Kaum hatte der Blitz durch die kleinen Hüttenfenster den Raum blitzlichtmässig überflutet, krachte der Donner in einer Lautstärke, die mit dem Begriff Krach gleichermassen schlecht definiert wäre, wie wenn ich den Blitz als Schein einer Taschenlampe bezeichnet hätte. Das Aussergewöhnliche war die fast pausenlose Wiederholung des zweiphasigen Schauspiels, zu dem auch das elektrische Hüttenlicht seinen Schabernack beitrug, indem es innerhalb einer halben Stunde fünfmal ausging, in Intervallen von drei bis fünf Minuten aber hartnäckig regelmässig wieder 9Die Alpen - 1961 - Les Alpes129 zurückkam. Es unterlag keinem Zweifel, dass wir uns im Zentrum eines schwergeladenen Gewitter-herdes befanden, und dass wir drei wahrscheinlich Grund gehabt hätten, unserm guten Stern wieder einmal einen Punkt gutzuschreiben.

Genauso wie das Gewitter aus einem Dauerregen hervorgegangen war, ging es schliesslich wieder in einen Landregen über. Mit dem bedrückenden Gefühl, anderntags wahrscheinlich auf dem kürzesten Weg dem Auto in Ulrichen zueilen zu müssen, verabschiedeten wir uns mit einem griesgrämigen Buona notte von der Hüttengesellschaft und zogen uns in die Camera No. 5 zurück.

Während der ganzen langen Nacht trommelte der Regen ebenso hartnäckig wie langweilig auf das direkt über der Camera 5 liegende Blechdach. Die Dämmerung war bereits in die Kemenate gekrochen, als das Trommelfeuer plötzlich verstummte. In der nächsten Minute streckten wir unsere verschlafenen Köpfe durch die Dachlucke, stellten alsbald übereinstimmend eine totale Umkehr der Wetterlage fest und schlüpften mit einer Hast in unsere Hosen, dass man hätte meinen können, das Haus wäre in Brand geraten. Dreissig Minuten später bezahlten wir der Patrona den ordentlichen Chianti, die wunderbare Minestra und die wackligen Betten und schritten unternehmungslustig in den frischen Morgen hinein.

Der regnerische Vorabend und die stürmische Nacht hatten uns die Feststellung erspart, dass sich das Rifugio in einer hochindustrialisierten Landschaft befand. Ein paar Schritte neben der Hütte war eine Schwebebahnstation. Über das Tal lief eine weitere Kabelbahn in der Richtung auf eine Staumauer, hinter der, natürlich, ein künstlicher See lag. Als Abschluss des Tales glänzte ein schöner Gletscher, der sich zu einem breitschultrigen Gipfel hinaufzog. Er musste das Ofenhorn sein, auch wenn auf den Postkarten von einer Punta d' Arbola die Rede war. Man sah es der Punta von weitem an, dass sie uns keine Schwierigkeiten zu machen in der Lage sein würde.

Und so war es. Bis an die Moräne führte ein Weg. Die Überwindung der Geröllmasse war, wie es so üblich ist, eine widerliche Sache, ging jedoch nach einer halben Stunde zu Ende. Der Gletscher war in seinen untersten Partien aalglatt. Also Wiederholung des Schauspieles vom Griesgletscher. Auch das ging vorüber. Mit dem Überschreiten der Firnlinie, auf ungefähr 3000 Meter Höhe, befanden wir uns auf gut gangbarem Gelände. Entgegen dem uns in der Hütte erteilten Rat, den Berg links herum zu besteigen, machte unser Führer kein Federlesen, band uns ans Seil und attackierte das Berglein, wie er sagte, auf dem direktesten Wege. Ich bin felsenfest überzeugt, dass wir eine niegelnagelneue Route eingeschlagen haben, muss zwar, der Ehrlichkeit und Gerechtigkeit zuliebe, beifügen, dass leider kein Grund besteht, davon Notiz zu nehmen oder gar vor unserer alpinen Tat den Berghut zu ziehen. Hingegen ist die Notiznahme am Platze, dass wir den 3235 Meter hohen Berg in knapp drei Stunden vom Rifugio aus bestiegen haben.

Das Ofenhorn ist ein prächtiger Aussichtsberg. In einem vollendeten Panorama stehen vor allem die Oberländer Gipfel in ihrer ganzen Grosse da, allen voran das Finsteraarhorn. Im Westen leuchtet die weisse Krone der Mischabel, flankiert zur Linken vom Monte Rosa und, in der Ferne, von der untrügerischen weissen Kuppe des Mont Blanc, dem das strahlende Weisshorn zur Rechten der Mischabel Grosse und Grazie mit Erfolg streitig macht. Der Osten liegt noch in den Nachwehen des abgezogenen Landregens. Nur der Basòdino hat sich aus den noch herumschleichenden Nebeln herausgeputzt; mit seinen knapp 3000 Metern tut er wesentlich gewichtiger, als sich rangmässig geziemen würde.

An den Fuss des Ofenhorns zurückgekehrt, lässt unser Führer neuerdings sein Improvisationstalent spielen. Anstatt bequem dem einige hundert Meter nördlich liegenden Hohsandjoch zuzustreben und von dort ins Binntal abzusteigen, dirigiert er uns kurzerhand die felsige Brüstung hinunter, ein halbstündiges Unternehmen, das leider mehr die Füsse und die Knie als unsere Kletter- fertigkeit in Anspruch nimmt. Es sei dem Führer aber zugute gehalten, dass wir dank seinen Sperberaugen und dem angeborenen Spürsinn die grobschlächtige Kiesgrube rasch hinter uns hatten und den daran anstossenden Tälligletscher als wohltuenden Teppich empfanden. Die Igno-rierung des Hohsandjochs brachte es mit sich, dass wir uns auch auf dem Gletscher zu weit südlich befanden, um im ersten Anhieb auf die Wegspur zu stossen, die an seiner Moräne ihren Anfang nimmt. Sollte dieser Bericht jemanden verlocken, auf unseren Spuren via Griespass ins Binntal zu wandern, so lasse man sich den gutgemeinten Rat geben, unter allen Umständen das Hohsandjoch anzusteuern und von hier den Tälligletscher, der ihm sowenig wie der Hohsandgletscher etwas antun wird, präzis westlich zu überqueren, um am jenseitigen Hang auf das Weglein zu stossen, das ins Binntal hinunterführt.

Damit wären wir nun am Kernstück unserer Wanderung angelangt, denn es ging uns ja nicht nur darum, den Griespass zu überschreiten und das Ofenhorn zu besteigen, sondern ebensosehr um das Kennenlernen des Binntales in seiner ganzen Länge. Da wir uns vorerst noch in den oberen Grenzbezirken der Vegetation, in ihrer Kampfzone mit dem Geröll befanden, hielten wir eifrig Ausschau nach glitzernden Kristallen. Es war einem von uns natürlich nicht unbekannt, dass das Binntal einst als eines der berühmtesten Strahlerreviere des Landes galt. Bis zum Ersten Weltkrieg waren die Kristalle im Binn ein regelrechtes Geschäft, an dem praktisch jede Familie partizipierte. Der Handel florierte dermassen, dass zum Schütze der Alpweiden, auf denen mit goldgräberischem Eifer nach Kristallen gegraben wurde, Verbote erlassen werden mussten und die Geistlichkeit wegen des zu befürchtenden schlechten Einflusses des spekulativen Geschäftes auf die Moral des Volkes schlaflose Nächte hatte. Wenn Fortuna einem Steinmann beistand, konnte er für einen einzigen Fund ein paar hundert Franken lösen. Für besonders schöne Gruppen wurden 400-500 Franken, für einen einzigen, 34 Kilogramm schweren dunkelfarbigen Rauchtopas sogar 800 Franken bezahlt. Mit dem Mord von Sarajewo im Sommer 1914 war die Binner Konjunktur schlagartig vorbei. Sie kam nie mehr recht zurück. Man brauchte die Alpen nicht mehr zu schützen, und die Kinder ziehen keine Kristalle mehr aus den Taschen, wenn ein Fremder des Weges kommt.

Das eigentliche, das lobenswerte Binntal nimmt erst unterhalb der Alp Blatt seinen Anfang. Es liegt nun in seiner ganzen Ausdehnung vor uns, scharf eingeschnitten in die Berge links und rechts. In der Furche des Tales singt die Binna ihr sonores Lied. Der Weg schlängelt sich grösstenteils durch lichten Lärchenwald. Von Zeit zu Zeit schiebt sich eine Matte in den hellgrünen Wald. Ein schwerbepacktes Maultier verdrängt uns gebieterisch vom Weg, indem es uns als Gruss einen Schwärm Fliegen ins Gesicht wedelt. Der zweistündige Weg besitzt alle Attribute der Romantik. Weit und breit keine Telephonstange, keine Masten, kein Jeep, nirgends Spuren menschlicher Geschäftigkeit. Wahrhaftig ein Bergtal, dem das zwanzigste Jahrhundert noch gar nichts anzutun vermocht hat! Die Natur produziert im ganzen Tal keinen einzigen Knalleffekt. Der Berg, der, weit unten, den Talblick abschliesst, ist mit seinen zwei grossen Narben sogar ausgesprochen hässlich. Und doch liegt eine Stimmung über dem Weg, die ans Gemüt greift. Weg und Steg, Baum und Hag, das schwerbepackte Mülti und der struppige junge Hirte auf der oasenhaften Wiese zwischen den Lärchen - aus allem strömt das beglückende Fluidum einer weit, weit zurückliegenden Zeit. Es braucht nur eine Prise Phantasie, um das Peitschenknallen der Säumer zu hören, die ihre Maultiere durch das Binntal über den Albrunpass getrieben haben, bis der Simplon, auf Befehl Napoleons zu einer regelrechten Paßstrasse ausgebaut, den alten Pässen links und rechts immer mehr Konkurrenz machte, sie schliesslich als Handelswege verkümmern und ihnen nur noch die Rolle von Schmugglerfährten liess. Aber auch diese letzte Romantik ist ihnen schliesslich abhanden gekommen. Die Menschen machen auch dieses Geschäft heute grosszügiger und bequemer.

Der oberste Weiler im Tal, Imfeid oder Feld, wie es die Topographen in den neuen Karten nun haben wollen, schmiegt sich harmonisch in die Romantik des Tales. Ja, das holperige Pflaster ruft einem die Tatsache in Erinnerung, dass der Weg durchs Binntal und über den Albrun schon im Mittelalter von Handelsleuten benützt worden ist. Die in der Gegend von Ernen entdeckten Gräber, die aufgefundenen Hausgeräte und tönernen Vasen, die auf die Existenz einer kleinen römischen Siedlung schliessen lassen, haben gelegentlich die Vermutung aufkommen lassen, das damalige Aragnum sei die nördliche Talstation eines römischen Passweges über den Albrun gewesen. Es ist aber nicht nur höchst fragwürdig, sondern nachgerade ausgeschlossen, dass die Römer wegen eines Passweges, der im Norden ins Leere stösst, die wilde Schlucht mit ihren steil abfallenden Wänden zwischen Binn und Ernen, deren Überwindung noch im Mittelalter viel zu schaffen machte, gangbar gemacht haben. Dass man auch in Binn römische Münzen, beim Bau des Hotels Ofenhorn sogar Gräber gefunden hat, die in die vorchristliche Zeit zurückgehen sollen, erhärtet keineswegs die These eines durchgehenden römischen Passweges aus der Gegend von Domodossola nach dem oberen Rhonetal, sondern weist nur darauf hin, dass das Binntal in der damaligen Zeit über den Albrun von Süden her bevölkert worden ist.

Eine Viertelstunde unterhalb Imfeid haben sich noch einmal ein paar Häuser und eine weissgetünchte Kapelle zum Weiler Giessen zusammengetan. Dann geht es in Begleitung der munter plätschernden Binna dem Wirtshaus entgegen, das breitspurig im Tal steht und sich schon lange neckisch zwischen den Wipfeln gezeigt hat.

Dass sich die drei Touristen zuerst einmal dem besagten Haus zuwandten und unter den schattenspendenden Bäumen seines Gartens die Beseitigung des Durstes als ihre dringendste Aufgabe betrachteten, wird den Leser kaum verwundern. Trotz der Dringlichkeit und Grosse dieser Aufgabe und trotz des achtstündigen Marsches liessen sie es sich aber nicht nehmen, vor der Abfahrt des Wagens, der sie durch die romantische Schlucht der Twingi über Ernen und Fiesch zum Ausgangspunkt der Rundreise zurückbrachte, einige hundert Schritte durch die Gassen des Dorfes zu tun, wo zwar nichts Aussergewöhnliches zu entdecken war, immerhin aber das behagliche Gefühl, im Wallis zu sein, seine Erfüllung fand.

Das Aussergewöhnliche von Binn liegt abseits der Strasse und des gastlichen Gartens, droben in der Pfarrkirche bei der Häusergruppe von Willeren. Der gutgemeinten Aufforderung des liebenswürdigen Gastwirtes, der Kirche, deren Altäre berühmt seien, unbedingt einen Besuch abzustatten, stand leider die noch vor uns liegende lange Heimfahrt ins Bernbiet gegenüber, so dass der etwa halbstündige kunstgeschichtliche Abstecher für diesmal unterblieb. Womit ich meinem lieben Bekannten und Nebenbuhler, dem ich den schönen Ausflug auf das Ofenhorn verdanke, allerdings leichtsinnig eine Chance gelassen habe, weiterhin mit dem Finger auf eine Lücke in meinen Kenntnissen um das Binntal zu zeigen - sofern er, was noch abzuklären wäre, von der Existenz der alten Altäre in der Kirche von Willeren nicht erstmals durch diesen meinen Bericht einen Hinweis erhält.

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