Über den Biancograt und die Scharte auf den Piz Bernina (Erste Winterbesteigung)
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Über den Biancograt und die Scharte auf den Piz Bernina (Erste Winterbesteigung)

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

( Erste Winterbesteigung ) Von C. J. Kollmus.

Seit ich die eisgepanzerte Bernina zu erstenmal erblickt habe, hat mich der kühne Biancograt mit seiner messerscharfen Firnschneide, welche sich von der Fuorcla Prievlusa zur Berninascharte hinaufschwingt, hypnotisiert. Güssfeldt mit Hans Grass haben ihn im Sommer zum ersten Male überschritten. Auf meine Frage, ob der Pizzo Bianco im Winter auch schon Besuche empfangen habe, hiess es: O nein, der ist zu lang und zu kaltMein Entschluss war damit gefasst, und mit Caspar Grass hielt ich Kriegsrat. « Tja, » meinte dieser Bergweise, « der Biancograt ist schon zu machen, günstige Verhältnisse und sicheres Wetter vorausgesetzt. » Erstere wären letztes Jahr nach meiner Piz Rosegfahrt am 1. März 1928 allerdings vorhanden gewesen, jedoch hatte uns der Wettergott im Stich gelassen, so dass ich etwas trauernd aus dem Engadin abgezogen war. Im März 1929 aber, nachdem die grosse Kälte etwas gebrochen war, schien uns der tiefe Pulverschnee zwischen der Tschiervahütte und der Fuorcla Prievlusa das Spiel verderben zu wollen. Aber wozu hat man denn die altbewährten Schneereifen? Es sah allerdings recht drollig aus, als eines Nachmittags Caspar und Ulrich Grass und ich, die wir doch alle drei auch gerne Ski fahren, auf diesen plumpen Dingern nach der Tschiervahütte watschelten, während leichtbeschwingte Skiläufer auf dem Gletscher an uns vorbeisausten. Die müssen sich wohl gedacht haben, dass wir verrückt geworden sind! Uns kümmerte dies wenig, hatten wir doch Grösseres vor Augen. Der Biancograt schimmerte verheissend in der Nachmittagssonne zu uns kleinen Menschlein herab, kalt strich der Wind über den Gletscher, früh ging der Tag zur Neige, und wir wurden uns der Schwere unserer Aufgabe voll bewusst.

Die Sterne blitzten am dunkeln Himmel, und die Nacht war nicht zu kalt, als wir am 15. März punkt 4 Uhr morgens die Tschiervahütte verliessen. Da wir tags zuvor schon ein Stück unseres Weges mit den Schneereifen gespurt hatten, rückten wir nun rasch gegen die Fuorcla Prievlusa ( 3452 m ) vor, so dass sich nach Überwindung des glücklicherweise mit gutem Schnee bedeckten, sehr steilen Eishanges bereits um 650 Uhr der schaurige Tiefblick auf den Morteratschgletscher vor unsern entzückten Augen auftat. 1000 Meter misst der scheinbar senkrechte Absturz hier.

Die ersten Sonnenstrahlen fielen kraftlos auf uns und röteten auch die Spitze unseres Nachbars Piz Roseg, als wir nach 15 Minuten Rast über die ersten Felsen nach dem Biancograt hinauf zu klettern begannen. Rutschiger Schnee lag hier auf allen Steinen; beim Ersten hielt er, dem Zweiten gab er das Gefühl der Unsicherheit, und unter dem Dritten sauste er in die Tiefe. Unter diesen Umständen kamen wir etwas langsam vorwärts, hielten uns auch öfters der Sonne zuliebe mehr auf der östlichen Seite der Felsen. Ein furchtbarer Knall schreckte uns plötzlich von unserer emsigen Arbeit auf: an der Nordwand des Piz Roseg war um diese frühe Stunde schon ein mächtiger Gletscherabsturz erfolgt, dessen Aufprall auf dem Tschiervagletscher eine riesige Schneewolke staublawinenartig, horizontal ungefähr 500 Meter weit hinausjagte. Ein wunderbarer Anblick, wenn man nicht zu nahe steht 1 — Beinahe zwei Stunden hatte die Kraxlerei gedauert, als wir den eigentlichen Eisgrat des Bianco betraten, und mit Missvergnügen bemerkten wir zugleich, dass ein eisiger Wind um unsern sich von hier imposant auftürmenden Grat pfiff, und stellten uns mit Resignation auf einige Stunden Frieren ein. Weiter überzeugten wir uns davon, dass wir von unten her richtig gesehen hatten: dass nämlich die sogenannte « Nase », die steilste Partie des von hier aus sichtbaren, messerscharfen Firngrates, blau oder eher grau war, was zeitraubende Eishackerei versprach. Um so mehr Ursache, unverzüglich an die Arbeit zu gehen.

Bis zum grauen, leider auch sehr spröden Eis stiegen wir ziemlich rasch hinauf, dann aber begann für Caspar eine anstrengende Hackarbeit bei sturmartigen Windstössen, das eine Mal von links kommend, dann unerwartet wieder von rechts, die eine volle Stunde in Anspruch nahm, obwohl die Stufen nicht zu reichlich bemessen waren. Bei jedem dieser orkanartigen Windstösse hatte ich jeweilen ein rührendes Verlangen, mich dicht ans Eis zu schmiegen, obwohl ich bereits vor Kälte zitterte; jedoch immerhin noch lieber, als auf die andere Seite auf den Morteratschgletscher hinunter geblasen zu werden. Das Seil stand hie und da wagrecht in die Luft hinaus, und der Eissplitterregen von oben wollte kein Ende nehmen. Ich hatte also Musse und Gelegenheit, die grandiosen Tiefblicke zu meinen beiden Seiten unvergesslich in mich aufzunehmen. Endlich war Caspar oben an der Nase, und wir kamen mit sichtlichem Vergnügen nach, froh, die Firnschneide wieder zu betreten, wenn sie auch nach wie vor nur einen halben Fuss breit war.

Ein zweites Stück Grat lag vor uns, steiler als dasjenige zur Nase hinauf, hingegen notierten wir mit Rücksicht auf den erlittenen Zeitverlust mit Beruhigung, dass beinahe alle blanken Stellen darin zu umgehen waren. Also sofort vorwärts! An der steilsten Stelle war noch ein Schrund zu überklettern, was mühelos ging. 1130 Uhr war es, als wir auf dem Gipfel des Pizzo Bianco, 3998 m, standen. Caspar Grass drückte meine Hand und sagte: « Ich gratuliere Ihnen dazu, dass Sie als Erster im Winter den Fuss auf den stolzen Pizzo Bianco setzen. Es freut mich besonders, dass es ein Schweizer ist. » « Und mich freut es besonders, dass es ausgerechnet zwei Grass sind, welche mich dabei begleitet haben », gab ich ihm zurück. Zeit verloren wir auch hier keine. Einen Becher Tee und eine halbe Zigarette, dann ging 's vom Biancogipfel über luftige Felsen der Scharte zu. Der Sturm machte sich hierbei ganz besonders unliebsam bemerkbar. Eiskalt waren die Felsen zum Anpacken, und meine photographische Tätigkeit, welche gerade hier sehr interessant hätte sein können, wurde, wie so oft in diesem Winter, auf eine kümmerliche Zahl Bilder beschränkt. Jetzt standen wir in den Felsen über der Scharte, durch die der Sturm grausig heult; der Einstieg ist senkrecht, sehr exponiert und etwas griffarm. Caspar kletterte als Erster hinunter, das Seil hielt ich sanft gespannt, dann folgten ich und Uli, und schneller als wir 's gedacht hatten, standen wir alle drei im Loch unten.

Aber jetzt rasch fort aus dieser sturmgepeitschten Hölle, und siehe da, welch wunderbare Entdeckung! Die Felsen am Westfusse des grossen Gendarms waren von der Sonne liebevoll erwärmt, und der Ort war windstill! Ein wonniges Gefühl der Wiederbelebung aller Gliedmassen überkam mich, und wie auf Verabredung legten wir die Säcke ab, setzten uns, so gut es bei dem Platzmangel dort ging, und vertieften uns eine Weile in den grossartigen Anblick des Piz Roseg direkt uns gegenüber, von dem sich der gespensterhafte Scerscengrat zur Bernina hinauftürmt. Über uns winkte verlockend das Signal von der höchsten Zinne des Engadins, und nun waren wir nicht mehr zu halten. Dass wir den Gendarm nicht als Extrabeilage überkletterten, sondern auf vereisten Platten umgingen, wird uns keiner übelnehmen, der weiss, wie knapp im Winter die Zeit für solche Bergfahrt bemessen ist. Der Endspurt über die Nordwand des Gipfelturms begann mit voller Energie. Der Sieg war gesichert. Um 1325 Uhr ertönte unser Jauchzer vom Gipfel der königlichen Bernina, und wir drückten einander nochmals die Hand, wobei sich unsere Brust sichtbar aus reiner Begeisterung und Freude wölbte. 9 1/2 Stunden hatte der wechselvolle Aufstieg gedauert; was diese stolze Himmelsleiter an kühnen Formen der Gestaltung und überwältigenden Tiefblicken meinem Auge offenbart hat, wird unauslöschbar in meinem Gedächtnis haften bleiben. Als wir unsere Namen ins Gipfelbuch eintrugen, hatte sogar der Sturmgott ein Einsehen. Nachdem er uns stundenlang vergebens wütend in den Weg getreten war, lächelte er endlich nachsichtig über das Gebaren der drei kleinen Menschlein und pfiff weit unter uns leise durch die Zähne. Die Aussicht von dieser hohen Warte haben Berufenere schon geschildert. 1410 Uhr zogen wir mit ausgiebigem Schritt, der allmählich in einen kleinen Trab ausartete, über den Südgrat dem Crast Agüzza-Sattel und Boval zu. Caspar Grass, der bis auf den Gipfel stets ernst und konzentriert gewesen war, lachte und sang jetzt. Er hatte auch allen Grund dazu; seiner Umsicht und klugen Berechnung war in erster Linie das vollständige Gelingen des Unternehmens im ersten Anlauf zu danken. Auch Ulrich war ein treuer Gefährte. Unter dem « Buch » war der Schnee weich und tief, so dass wir erleichtert aufatmeten, als wir im Boden gegenüber Boval unsere Ski entdeckten, mit denen wir Morteratsch in scharfer Fahrt drei Stunden nach Abmarsch vom Gipfel 1710 Uhr erreichten.

Ereignisvoll war dieser Tag; tief und gross die Befriedigung.

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