Über den Kronengletscher nach Ny-Ålesund
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Über den Kronengletscher nach Ny-Ålesund

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

( Spitzbergen )

Hugo Nünlist, Luzern

Wir hatten vom Vasafirn her über die kupfer-braunen Trümmerlehnen der Südabdachung das Exilfjellet erreicht, das sich mit dem Diade-met im Osten und den Drei Kronen im Westen in eine bezaubernde Juwelenkette einfügt, die den 14 Kilometer breiten Königsgletscher an dessen Südrand schmückt, und schauten von der schroff abfallenden Kuppe über den gewaltigen Eisstrom, der sich aus der weissen Hochfläche Holtedahl etwa 25 Kilometer weit in den Königsfjord ergiesst. Flüchtende Schatten sprenkelten im obern Teil das gleissende Gewand, eigenwillige Falten der Gletscherflüsse gliederten es, und gegen den untern Saum wandelte es sich in ein altes, abgeschabtes und zer-knülltes Tuch.

Was uns am meisten fesselte, war der Blick westwärts, wo, 35 Kilometer entfernt, der ehemalige Grubenort Ny-Âlesund zu erkennen war und ein metallener, turmartiger Bau im milden Sonnenlicht flimmerte — unser Ziel. Doch dazwischen musste der Eissturz des Kronengletschers bewältigt werden, ein vier Kilometer breiter Katarakt, der als linker Flügel des Kongsbreen, eingeklemmt zwischen Garwoodtoppen und Colletthögda, ebenso ausgeapert und noch ärger zerfetzt war.

« Siehst du dort unten », sagte ich zu Ernst, « dass zwei Seen die Schmelzwasser des Vasa-beckens gesammelt haben? Wenn Bäche ausfliessen, werden sie wohl abermals knifflig zu queren sein. Die Hindernisse beginnen also schon hier. » « Dann weichen wir zur Mittelmoräne aus, die man ja als graues Band bis zum Eisbruch deutlich sieht », antwortete er.

Obzwar der Streifen aus lauter Warzen bestand und er auch im Feldstecher verdächtig verbeult blieb, hofften wir trotz der vorgerückten Jahreszeit einen Durchschlupf zu erspähen. Unruhe aber hatte uns dennoch gepackt, so dass wir hastig über Grus und Fluhsätze zu den Ski trittelten und mit Stockstössen durch den Schneematsch zum Zelt hinabglitten, das auf gestampftem Brei aufgeschlagen worden war. Da die Nächte hell wie Tage sind, die Sonne schier ununterbrochen über den Gebirgen kreist und die Kälte selten unter null Grad sinkt, verfestigt sich der Schnee im Hochsommer kaum jemals, weshalb man fast stets durch Sümpfe waten und Wasseradern aller Ausmasse kreuzen muss. Vor bald drei Wochen waren wir am Smeerenburggletscher aufgebrochen, in der Nordwestecke Spitzbergens, um durch die Wildnis eines arktischen Landes zu ziehen, und hatten auf der Firnebene Isachsen drei Sturmtage mit ergiebigen Schneefällen erlebt. Aber all die Widerwärtigkeiten - durchtränkte Schuhe, nasse Kleider, das häufige Schlechtwetter mit schleichenden Bodennebeln und die schweren Säcke — konnten mir die Freude an urweltlicher Einsamkeit nicht verderben.

Mittlerweile hatte sich der Himmel wiederum verschleiert, war unser Gipfel von Wolken überflutet worden. Frostige Nebelschwaden aal-ten aus der Firnmulde Vasa herunter und löschten den morgendlichen Glanz, die belebenden Schatten und jegliche Fernsicht aus, was uns bewog, sogleich zum nächsten Seitenarm des Königsgletschers, zur Infantfonna, vorzudringen, da bis zur Abfahrt des Schiffes bloss noch vier Tage verfügbar waren. Schon beim ersten Weiher schien sich Unheil anzubahnen; denn dumpfes Grollen kündigte einen angeschwollenen Fluss an, der manchmal viele Meter unter die Schneedecke des Ufers greift und einen knietief ins Wasser plumpsen lässt. Diesmal lächelte uns das Glück, weil er in unsichtbaren Klüften verschwand oder genügend tief unter der Firnschicht verborgen blieb. Bald danach wurde diese dünner und von Spalten durchschnitten, deren Brücken gebrechlich und heim- Vallot, Colletthögda 4- GarwoodV Geelmuiyden 7Engelskbukta

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0 2 km I LLager Grensefjellet tückisch darüberhingen. Beim Begehen lösten sich gewichtige Brocken oder klirrten Eiszapfen, so dass wir, obwohl angeseilt, möglichst auswichen und die offenen Schrunde langwierig umfuhren. Als der Schnee endete, versprach zwar das Höckereis eine flüssigere Fahrt, wogegen nun die Böschungen von breitklaffenden Rissen durchwirkt waren und zum Zickzacken zwangen, bis aus der Infantfonna erneut ein toller Wasserschwall herzubrauste. Da auch dieser bald in einen Schlund donnerte, liess er sich vermeiden, wonach wir über brandroten Sand und Schlamm eine flache Stelle für unsere Klause fanden.

In diesem Lager, am Beginn des Kronengletschers, entschieden sich zwei bange Fragen. Das Königsfjord__.NWSpitzbergenv6^

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dunkle Band, einen festen Moränenwall vortäuschend, entpuppte sich als Anflug von Schmutz und vereinzelten Blöcken, die das Eis nur färbten. Ungezählte Spalten durchsägten es nach Belieben und gewährten keinen Fluchtweg. Und das Zwielicht des Abends mit dem umherkriechenden Dunstflor, der zuweilen die stolzen Zinnen der Drei Kronen enthüllte, verhiess eine Wetterwende, was uns den Verzicht auf die Besteigung der nächsten Klippe, der Nora, aufdrängte. Der Riesenbruch des Gletschers konnte noch böse Überraschungen bescheren, zumal bei Nebel, hatten doch unser vier zwei Jahre zuvor und um die gleiche Jahreszeit, Mitte August, im mittlern Eissturz des Blomstrandbreen aufgeben und fünfzig Kilometer weit umkehren müs- sen '. Bei solch zweifelhaftem Wetter gebot es die Klugheit, dass wir uns am nächsten Tag mit dem grössten Hindernis befassten, das uns noch vom Kongsvegengletscher trennte.

Der Morgen mit den fahlen, tiefhängenden Wolkenschüben, dem ruppigkalten Wind und den umhergeisternden Nebelhorden bestärkte mich im Entschluss, so rasch als möglich zu starten. Wir fuhren in einem Trogtälchen über holperiges Eis und stumpfen Schnee während zweier Stunden leicht abwärts oder waagrecht. Furchen und Buckel wechselten mit Tümpeln, Kryokonitlöchern und Büssereis. Als sich die Spalten mit ihren Randwülsten zu Schluchten auswuchsen, klappten wir die Bretter zusammen und eilten im Nieselregen zwischen Klüften durch, die uns gegen den Garwoodtoppen drängten, unter dessen Nordflanke der wuchtige Eisfall erst richtig einsetzte.

Nach vier Stunden kauerten wir auf vereistem Splittergrund an einen Steinklotz, umfaucht von gehässigen Windstössen, und schwankten bald wieder weiter durch verschlammtes Geschiebe, über schlüpfrige Brüstungen und pappige Schneeleisten, die von Rissen nur so strotzten und wo jeder Schritt gut erwogen werden musste. Diese Schneelappen schmiegten sich an schwarzes Hangeis und waren dermassen unterwühlt, dass wir zurückstiegen, bis ein Keil wieder auf den Gletscher führte, der nun einem Getümmel von Wellen, Türmen und Abgründen glich oder einem sturmgepeitschten Meer, dessen Wogen aufeinandergeprallt und ineinander verschachtelt waren. Darin taumelten wir hin und her, turnten auf und nieder und hatten nach zwei Stunden kaum dreihundert Meter bewältigt; aber der Eisbruch, ein erschreckendes Gewimmel von Burgen, Zähnen und Schloten bildend, war endlich zu überschauen. Was wir auch unternehmen mochten, zu beiden Seiten erwarteten uns nichts als Irrwege und Sackgassen. Mit angeschnallten Steig- 1 H. Nünlist, « Spitzbergen » - Gipfel über dem nördlichen Eismeer », Verlag Orell Füssli, Zürich.

eisen kletterte ich nur noch auf eine Kanzel hinab, die mir das Blut erstarren liess; denn lotrechte Wände tauchten in unergründliche Tiefen, in verrusste Krater, die den Gletscher von der Hangmoräne, einer jähen Rampe aus Schwarzeis, schieden. Verlockend strich sie talwärts, aber es war müssig, darüber nachzusinnen, wie man zu ihr auskneifen könnte.

« Wir sind endgültig abgeschlagen !» rief ich hinauf. « Mit unserer Ausrüstung können wir nicht über solche Mauern abseilen, geschweige denn aus den Schächten klimmen. » Im Regengestöber, harschen Wind und in steifer Kälte verspürten wir keine Lust zu rasten und besprachen nur rasch drei verbleibende Möglichkeiten: entweder 200 Meter zurück für einen letzten Versuch, die Wurzel der Randmoräne zu gewinnen - oder in zwei Stunden zu einem Seitenarm zwischen Pretender und Garwood toppen, dann irgendwo über einen Sattel - oder, was am umständlichsten wäre, zur Infantfonna zurück, diese hinauf und vielleicht im Nebeltreiben über ein Joch zum Kongsvegengletscher, wozu die Zeit gleichwohl reichen würde.

Ich zirkelte aufgeregt durch ein wahres Labyrinth von Schrunden, da wir kaum Kerben oder Spuren hinterlassen hatten und nun in der Gegenrichtung alles unbekannt erschien. An einer geborstenen Säule warf ich den Sack ab, seilte mich los und stemmte mich durch eine Klamm hinunter, kroch auf eine Wölbung hinaus und entdeckte eine Eislanze, welche die Randkluft mit der Moräne verband.

Ein Schrei wie von Sinnen: « Jetzt muss es gelingen! » Wir luden die Lasten wieder auf, wanden uns durch die Kehle hinunter, die Ski an Vorsprüngen vorbeidrückend, und knirschten auf Steigeisen zur nächsten Stufe hinab, von wo eine Eiskante einen bodenlosen Rachen überbrückte. Sie war zwar schmal, aber genügend stark, und eine andere Wahl gab es nicht. Wenn es gelang, sie zu begehen, waren wir gerettet, weil sie sich an einen geröllüberzogenen, mässig steilen Eis- hang lehnte, der die Moräne trug. Mit aufgestützten Ellbogen rutschte ich seitlich vor, trieb die Fusseisen in jeden Nocken und hisste mich in der Mitte auf die Schneide, wo sie rundlich und breiter geworden war, so dass ich mich Schritt um Schritt wie über einen Schwebebalken fortbewegte. Auf gutem Stand wurde nun das Seil peinlich aufmerksam eingezogen, bis auch mein Gefährte den heiklen Quergang hinter sich hatte. Locker haftendes Gestein auf Wassereis brachte uns hernach an den Anfang der Moräne, auf deren Scheitel wir uns, trunken vor Freude, für ein Weilchen hinlegten. Unterdessen war es 16 Uhr geworden!

Der spitzige Schuttkamm veranlasste uns bald, die innere Mulde zu benützen, eine Rinne mit bröckeliger Erde, schmatzendem Teig und kippenden Klötzen. Als sie sich verlief, strebten wir über Eishalden zum Kronenbreen hinab, der unterhalb des zersäbelten Sturzes als zahme Ebene an den mitfliessenden Kongsvegengletscher stösst. Dort bauten wir auf zimtbraunem Schottereis das Zelt auf — nach achtstündigem Abstieg. Kaum war das Dach verankert, begannen die Niederschläge erneut und hüllten die Nebel den zerzausten Eisstrom ein, auch am nächsten Tag, und die Sicht reichte nur wenige Meter weit.

« Ich habe hier einen Ruhetag vorgesehen, aber... », meinte ich zu meinem Begleiter am nebelverhangenen, diesigdüstern Morgen.

« Ja, gehen wir weiter », unterbrach er mich und hatte meine Befürchtungen schon erraten. Solange wir nicht am Fjord standen, zehrte die Ungewissheit an uns und fühlte sich keiner behaglich. Wir legten das tropfnasse Zelt zusammen, schulterten Ski und Säcke und gelangten unter dem Gebell eines Polarfuchses und dem Geschnatter nistender Alke über einen Schuttrücken auf den Kongsvegen, der uns mit unheimlichem Geknurr empfing. Doch auf apern Gletschern dauert es nicht lang, bis die Schmelzwasser verschluckt werden, ja, wir bekamen sie nicht einmal zu Gesicht. Der Kom- pass lenkte uns vorerst über zernagte Dünun-gen, wobei die Querspalten mit ihren meist weit auseinanderklaffenden Wulstlippen zu beträchtlichen Umgehungen zwangen, die den Marsch schräg zum Westufer hinüber, zum Berg Nielsen - eine Strecke von sieben Kilometern -, erheblich verlängerten.

Plötzlich zeichnete sich eine Stange mit flatterndem Luftsack ab, die wohl dem Bestimmen der Fliessgeschwindigkeit diente. Ob sich Menschen in der Nähe aufhielten? Aber sosehr wir johlten, antwortete niemand in diesen Einöden. Dafür liess sich ein verworrenes Tosen vernehmen. Als sich schliesslich eine Moräne, auf senkrechtem Eissockel lagernd, aus dem trostlosen Dunst schälte und ein Fluss dröhnte, folgten wir ihm, bis er sich unter den Schuttpanzer duckte, und erstiegen erst dort den Wall. Nach der Karte schob er sich zwischen Kongsvegen- und Geelmuiydengletscher vor. Die Geschiebewüste dehnte sich jedoch eine Stunde weit aus, bis eine schummerige Eissträhne erschien, durchpflügt von ungestümen Schmelzbächen, die in zwei Meter tiefen Rillen dahinschossen und sich erst nach grössern Abstechern hangaufwärts endlich überspringen liessen, wonach wir unvermutet auf dem Tor eines ausladenden Flusses standen, der sich westwärts durch eine Klus wälzte, deren Hänge und seitliche Runsen tüchtig zu schaffen gaben. Beim Abstieg zu einer versarrten Talkammer blieb der Nebel endlich an den Flanken kleben und legte die Sicht auf den Fjord frei, den nur noch ein Felsriegel von uns trennte. Wir rafften uns nicht mehr auf, den Damm zu überschreiten, sondern drückten uns am verblockten Ufer durch den Flussgraben und bogen um 20 Uhr in die Strandfläche ab. Erstmals schlugen wir das Zelt auf steinigem Grund auf.

Schaumwellen brandeten an die Küste, Kalb-eis segelte gelassen vor der Eisbarre des Königsgletschers, Seeschwalben sausten, jähzornig und schrill kreischend, auf uns nieder, um ihre nahen Nester zu verteidigen. Des Nachts zerrten rauh-bauzige Winde am Zelt und liessen mich immer 1J?entral-Albanien: das 2480 Meter hohe Tomor-Massiv 2Ost-Albanien: alte Moschee mit Steinplattendach. Rechts der Lushjne ( 2320 Photos Fritz Lörtscher, Bern wieder aufhorchen; denn Kies und Schwemmsande bewiesen, dass die Hochwasser oder durch Erdschlipfe gestaute Bäche ausbrachen und die Ebene überfluteten. Jedes Anschwellen der Geräusche und jeder neuartige Laut scheuchte mich auf, so dass ich oft den Verschluss des Zeltes aufriss. Entweder stammte das Bummern von der Eismauer oder von Böen, die höhere Wellen an den Strand trieben und das zahme Plätschern des Flusses zu einem unheimlichen Orgeln verstärkten. Immerhin, auf der Hut musste man sein. Der Morgen dämmerte wehleidig herauf und brachte Regen, was uns wenig scherte, weil Ny-Alesund bloss noch zehn Kilometer entfernt war und wir uns deshalb einen Ruhetag gönnten.

Nach frühem Aufbruch begegneten wir bereits nach einer halben Stunde einem Zeltdorf mit Antennen, aufgestapelten Kisten und Kesseln und einem Wohnwagen ohne Räder. Es war uns bekannt, dass sich in der Gegend ostdeutsche Forscher aufhielten, die wissenschaftlichen Aufgaben oblagen. Grusslos vorbeizuwandern wäre unhöflich gewesen, so dass ich mich, ein bisschen vom Gedanken an den Eisernen Vorhang eingeschüchtert, zu einem « Hallo! » ermannte. Sogleich eilten junge Leute heraus und hiessen uns freundlich willkommen. Nach dem Woher und Wohin luden sie uns zu einer fürstlichen Mahlzeit in geheiztem Raum ein und entschuldigten sich sogar wegen der späten Tagwache. Aber einige Teilnehmer seien erst um Mitternacht heimgekehrt.

« In diesem Fall haben Sie bestimmt unser Zelt gesichtet. » « Nein », berichtigte jemand, « wir sind den Kongsvegen hinabgezogen und im Boot zurückgefahren. Das ist viel einfacher als die Quergänge über den Geelmuiydengletscher und die aufreibenden Moränenzüge. » Der Koch vom Dienst tischte uns noch Marmelade zur Nachspeise auf. « So gemästet », lachte ich, « sind wir unfähig, Ny-Alesund zu Fuss zu erreichen. » — « Bitte schön », erwiderte er, « dann bringen wir Sie im Schiff dorthin. » Diese kurze Strecke aber wollten wir auch noch mit eigener Kraft meistern.

Es war Dr. Lothar Stange aus Potsdam, der das Lager leitete, von dem fünf Teilnehmer, unter ihnen Dr. med. Günther Reinhardt, zu überwintern gedachten. Hier trafen wir auch den Physiker Ulrich Voigt an, der mir Bilder vom mittlern Eisbruch des Bromstrandgletschers gesandt und geschrieben hatte, dort wären wir nie oder erst nach mehreren Tagen durchgeschlüpft. Anwesend waren noch zwei Westdeutsche, die einstweilen als Träger mitwirkten und dann in Faltbooten der Küste entlang zum Eisfjord paddeln wollten. Wir vernahmen später, dass das Unternehmen recht abenteuerlich verlief, da die beiden am Kap Scania drei Tage warten mussten, bis der Sturm abflaute und die Fahrt über den zwanzig Kilometer breiten Eisfjord zum Kap Linné hinüber gewagt werden durfte.

Nach herzlichem Abschied tippelten wir westwärts, bis ein Flussdelta uns bewog, Felsen zu erklimmen, wo eine Schneebrücke das hier schmale Tobel überspannte. Es war das letzte und geradezu einfältige Wagnis, das wir eingingen, um nicht mit nassen Schuhen in Ny-Alesund aufzukreuzen! Das gebrechliche Gebilde überragte die Sohle des eingeschnürten Wildwassers etwa zehn Meter hoch und war das einzige erhaltengeblie-bene, so weit man sah. Da wir auf der Felsbank nicht sichern konnten und wegen der paar Meter auch nicht die Ski verwenden wollten, tastete ich mich kurzerhand mit dem Pickel zur Mitte vor, dabei gewärtigend, mitsamt dem Schneedach abzustürzen, was tödlich hätte enden können. Als es zu brenzlig wurde, kauerte ich nieder und sprang über den restlichen Bogen ans Gegenbord, als ob ruckartige Bewegungen sicherer wären. Vorfreude über die baldige Ankunft hatte uns un-bedacht und mutwillig gemacht. Es gelang auch meinem Gefährten, heil zu queren, wonach wir auf ein französisches Lager stiessen, das Dr. Corbel aus Paris unterstand und dem unsere Inland-fahrt bekannt war. Hier wollten wir uns zurückmelden; aber alles war wie ausgestorben.

Ausblick vom Exilfjellet gegen W: der Drei-Kronen-, Pretender- und Kongsvegen-Gletscher Zeltplatz an der Infantfonna mit Sicht auf den Pretender Photos Hugo Nünlist, Luzern Da polterte ein Stuhl im eingeschossigen Wohnbau, jemand riss das Fenster auf- ein Fräulein!

« Was für Landsleute sind Sie? » « Wir sind Schweizer und kommen... » « Ah, treten Sie ein. Wir haben Sie erwartet. Die Forscher sind zwar ausgeflogen und verzichten auf meine Mithilfe. Ich bin eben nur für die Küche da. » Schon öffnete sie zwei Büchsen und bat uns, an den Tisch zu sitzen.

« Sie sind gewiss müde und hungrig, ach! » In ihrer Sprache sprudelten die wohlklingenden Sätze wie ein unversieglicher Quell. Was nützte es, ihr zu erklären, dass wir diesen Morgen bereits zweimal gespeist hätten und kaum fünf Kilometer gewandert seien, überdies nach einem Rasttag. Sie glaubte es nicht und schaute uns mitleidig an, entkorkte flugs zwei Flaschen und schenkte uns perlenden Burgunder ein mit den Worten: « Ach, Sie werden gewiss auch noch durstig sein! » Da wir all die Wochen Linden- und Pfefferminztee geschlürft hatten, widersprachen wir ihr nicht mehr.

« Und Sie haben die ganze Strecke auf Ski zurückgelegt? Das muss wundervoll sein! » Vor Sehnsucht nach derlei Erlebnissen schlug die Französin ihre Augenlider wie ein Filmstar auf.

« Leider gab es mehr Sümpfe, Eis und Wasser als guten Schnee, und die Ski tragen wir nun etwa dreissig Kilometer weit. Sie werden begreifen, dass wir in dieser Hinsicht nicht so begeistert sind. » « Mein Gott », stöhnte sie, « das ist doch nicht möglich auf solch unendlichen Gletschern. Sie spassen gewiss mit mir und wissen doch, dass ich für mein Leben gern auf Ihrer Fahrt mitgehalten hätte. » Ich hörte schleunigst zu klagen auf, da sie einer Ohnmacht nahe war.

Sie erholte sich aber rasch wieder und zwit-scherte quecksilbrig wie zuvor: « Sie müssen mir unbedingt schreiben, was für Nahrung und wieviel Sie mitgenommen haben. » « Fräulein », würgte ich hervor, « ich fürchte, Sie noch mehr zu enttäuschen. Wir schweigen lieber über die Speisekarte; denn mit unserer schlichten Lebensart hätten Sie sich schwerlich abgefunden. » « Immerhin sehen Sie, soweit Ihr Bart das Gesicht verschont hat, nicht etwa unterernährt aus! » kicherte die Dame. Trotzdem, wir wollten ihr die Freude an der Arktis nicht vergällen und durften ihren Glauben an märchenhafte Winterlandschaften nicht noch mehr zerstören.

« Also denn, wir werden Ihnen berichten », vertröstete ich sie. Den Brief brauchten wir später aber nicht zu schreiben, da infolge des schweren Weines vergessen wurde, Namen und Wohnort der netten Gastgeberin zu erfragen.

Ja, ich war anscheinend so verwirrt, dass beim Abschied gar noch mein Pickel an der Hüttenwand stehen blieb. Erst auf dem Marsch vermisste ich ihn, als wir über Schotter, seichte Wasseradern und schwammige Moose trotteten und Seeschwalben heranpfeilten, um frech auf uns niederzustechen.

Da Eile nicht mehr nottat, holte ich ihn fast gleichmütig, war doch Ny-Alesund mit seinem schlanken Eisenmast, woran einst Luftschiffe vertäut waren, schon zum Greifen nah, desgleichen rabenschwarze Hügel vor verlassenen Kohlenminen, verrostete Gleise mit Rollwagen, verstopfte oder verschalte Stollen und leere Baracken neben wohlgepflegten und farbigen Häusern, wo wir uns bis zur Abfahrt des Dampfers in reichem Mass auch der Gastfreundschaft der norwegischen Siedler erfreuen durften.

Als der ehemalige Eisbrecher vor Anker ging, starrten die Reisenden an der Reeling unverwandt zu uns herüber, da wir bis an die Zähne bergsteigerisch bewaffnet waren. Sie hatten wohl längst vernommen, dass zwei Inlandfahrer an Bord kommen würden. Ein beleibter Deutscher rief uns mit wahrer Stentorstimme an:

« Man flüstert hier, Sie seien auf den Knien in Ny-Alesund eingetroffen! » Worauf alle Anwesenden in lautes Gelächter ausbrachen.

« Sie aber hätten nach 180 Kilometern », brüllte ich von der Mole aus hinüber, « mit ein- geschrumpften Beinen gleich noch das Zeitliche gesegnet! » Die Leute auf Deck krümmten sich vor schadenfrohem Spass; denn der Doktor, wie sie ihn nannten, war so etwas wie eine Zielscheibe für Neckereien. Doch sobald ausserhalb der Häfen das Meer zu pulsen oder gar zu toben begann, wurde es merkwürdig ruhig um ihn. Man begegnete ihm nur noch selten...

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