Über die Entstehung der Lawinenbulletins
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Über die Entstehung der Lawinenbulletins

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Melchior Schild

( Davos/Weissfluhjoch ) War das eine Sturmnacht! Etwas Ähnliches habe ich in meiner langjährigen Tätigkeit auf Weissfluhjoch nicht erlebt. Und heute ist Weihnachten! Was wird sie für Überraschungen - unerhoffte und schicksalbestimmende - bringen?

Müde, aber voll Spannung im Hinblick auf die Ereignisse der nächsten Stunden, ziehe ich mich an. Es ist noch früh, und der werdende Tag dämmert nur schwach durchs Fenster, denn aussen ist dieses vom Schnee vollständig zugeweht. Hier gelingt kein Blick ins Freie. Mein erster Gang gilt dem Windschreiber, der Richtung und Stärke des Windes auf dem Gipfel oberhalb des Institutes anzeigt - ein prächtiges Instrument übrigens. Hat er wohl diese Belastungsprobe ausgehalten? Tatsächlich, er läuft noch und bestätigt, was ich vermutet hatte: die ganze Nacht herrschte ein orkanartiger Wind mit Spitzengeschwindigkeiten von 100, 120,140 ja bis gegen 170 Stundenkilometern! Die Stundenmittel mögen um 80 km/h herum liegen. Und unvermindert dauert der Orkan an. Wieviel Neuschnee wird gefallen sein? Was ist mit den Temperaturen geschehen? Wie sieht 's in den übrigen Teilen der Alpen aus?

Nur langsam vergeht die Zeit heute. Es will nicht 9 Uhr werden. Denn um diese Zeit wird mich der Fernschreiber in seinen Bann ziehen und innerhalb von rund zehn Minuten über Wetterlage und Schneeverhältnisse im ganzen Alpengebiet orientieren. Nochmals habe ich mir die gestrige Situation vergegenwärtigt, die in folgender konzentrierter Form an die Öffentlichkeit gelangte:

Lawinenbulletin vom 23.Dezember 1954:

Seit gestern Mittwoch früh herrschen im ganzen Alpengebiet bei verhältnismässig hohen Temperaturen ausgiebige Niederschläge. Über ca. 1400 m ist die Schneehöhe stark im Ansteigen begriffen. Bis Donnerstag morgen betrug der Zuwachs in 1600 m Meereshöhe im allgemeinen 40-50 cm, im östlichen Berner Oberland, im Goms und in Graubünden 50-80 cm. Starke Weststürme verursachen umfangreiche Verfrachtungen.

Die Lawinengefahr hat eine plötzliche Verschärfung erfahren. Besonders gefährdet sind allgemein ost-exponierte Lawinengebiete der erwähnten schneereichen Gegenden. Dort können bei Fortdauer der Schneefälle grössere Lawinen bis in bewohnte Gebiete vordringen. In den übrigen Gebieten hat die Gefahr zurzeit noch nicht allgemeinen Charakter angenommen, ist aber vom Skifahrer streng zu beachten.

Das Läuten der Hausglocke reisst mich aus meinen Überlegungen. Vor der Türe steht ein häufiger Gast des Parsenngebietes, der auch dieses Jahr im nahen Berggasthaus weilt und skifahren möchte. Da Neuschnee und Sturm ein Verweilen im Freien unmöglich machen und ihn die Langeweile plagt, möchte er mir bei meinen Arbeiten folgen, ohne mich - wie er ausdrücklich sagt - zu stören. Ich bin nicht gerade begeistert über diesen Besuch, aber - man soll ja anständig sein. So sitzen wir kurz darauf vor dem Fernschreiber und erwarten gespannt die Meldungen der Lawinenstationen.

Plötzlich beginnt der Motor zu summen, und von unsichtbarer Hand betätigt schlagen die Typen Buchstaben um Buchstaben, Zahl um Zahl in rascher Reihenfolge auf den weissen Papierstreifen. Aufmerksam folgen zwei Augenpaare der stetig wachsenden Zahlenfülle:

tg zuerich 0900 guete tag lawinenstationen vom 24/12/54 Olgb 2412 0810 86— 1503 95752 15056 01134 95994 75887 Olgh 2412 0630 7410 3109 95855 14052 12508 81766 71767 02 me 2412 0730 39— 2704 95726 09552 02220 81886 71889 usw.

Wachsende Besorgnis steht auf dem einen, Verwunderung auf dem andern Antlitz. Endlich wagt mein Besuch die Frage, was die vielen Zahlen zu bedeuten hätten und ob irgend etwas Schlimmes passiert sei.

« Seit gestern sind zahlreiche und zum Teil grosse Lawinen niedergegangen; einzelne haben Schaden angerichtet. Wenn es noch längere Zeit so weiterschneit, müsste sich eine Katastrophenlage einstellen. Nun erscheint eben die letzte Region, und wir können die Angaben auswerten. Sehen Sie, jede Linie bedeutet eine Station. Sie gliedert sich in 10 Zahlen-gruppen, total 45 Ziffern. Nehmen wir z.B. die oberste, Grindelwald-Bort: Die ersten drei Vierergruppen bezeichnen die betreffende Alpenregion, die Station sowie Datum und Zeit der Beobachtung. Die nächste Gruppe gibt mir Auskunft über Wetter und Bewölkung; beinahe in allen Gebieten schneit es zurzeit noch, scheinbar allerdings nicht mehr anhaltend und stark. Das gemeldete Wetter zeichne ich nun hier auf diese Übersichtskarte ein. Die fünfte Gruppe orientiert mich über die Windverhältnisse. Wie Sie sehen, herrscht auch an anderen Orten Weststurm: hier, die Grimsel, meldet 09 = Sturm, ebenso Arosa, Bivio, St. Antönien, Ofenpass, Pontresina, Wiler-Lötschental und Zermatt. Leysin meldet mit 10 sogar schadenverursachenden Sturm.

Die nächste Gruppe mit der einheitlichen Neun am Anfang darf füglich als wichtigster Teil der ganzen Meldung bezeichnet werden: Lufttemperatur und Neuschnee. Diese beiden Grossen übertragen wir nun ebenfalls auf die Karte: Grindelwald-Bort 95752 bedeutet - 7 ° C, 52 cm Neuschnee. Grimsel - 8 ° C, 55 cm. Grossen Neuschneezuwachs melden weiter St. Antönien mit 66 cm, Montana mit 57 cm, Trübsee mit 55 cm, Arosa, Selva und Bivio sowie Zürs im Vorarlberg mit 51 und 50 cm. Unserer Zentralstelle hier oben melden nämlich auch sechs Stationen aus dem benachbarten Vorarlberg.

Von den nächsten beiden Gruppen interessiert mich heute besonders noch die Gesamtschneehöhe: Grindelwald-Bort 150 cm, Grimsel 140 cm usw. Noch mehr Schnee finden wir in den südlichen Alpen: Maloja 164 cm, Ofenpass 158 cm, San Bernardino-Dorf 152 cm, Bedretto und Fusio je 147 cm usw. Eine solch einheitlich mächtige Schneedecke lag in den Schweizer Alpen um diese Winterzeit seit mehreren Jahrzehnten nicht. Die übrigen Ziffern geben Auskunft über Temperatur, Charakter und Form der obersten Schneeschichten.

In der Achtergruppe, der zweitletzten, meldet der Beobachter alle seit dem Vortage festgestellten Lawinen. Mit Hilfe der vier Ziffern kann er einzelne oder mehrere Lawinen nach ihrer Art, Exposition, Meereshöhe der Anrissgebiete, Grösse und Schadenwirkung bezeichnen; es bestehen hier mehrere tausend Kombinationsmöglichkeiten, und weitere Angaben können nötigenfalls in Schriftform beigegeben werden.

Schliesslich müssen sich unsere Mitarbeiter auch über die in ihrer Region bestehende Lawinengefahr Rechenschaft geben. Auch darin muss spezifiziert werden nach Art, Exposition und Meereshöhe der zu erwartenden Lawinen, und auch Grad und Tendenz der Gefahr enthalten mehrere Abstufungen. » « Wie viele Beobachter haben Sie eigentlich, und was sind das für Leute? »erkundigt sich mein Besucher.

« Zurzeit laufen - ohne die Vorarlberger - 52 Aussenstationen, die sich aufs ganze Alpen-und Voralpengebiet verteilen. Die Beobachter gehören allen Berufsgruppen an; wir finden darunter Pfarrer und Lehrer, Handwerker und Grenzwächter, Skiliftangestellte und Hüttenwarte, Bergführer und Landwirte u.a. » « Zum Teil liegen die Beobachtungsorte in sehr abgelegenen Alpentälern. Auf welchem Wege kommt eigentlich die tägliche Beobachtung hierher? » « Jeder Beobachter muss über einen Telephonanschluss verfügen. Über die Nr. 10 gibt er seine chiffrierte Beobachtung an das nächste Telegraphenbüro. Mittels Telegramms gelangt die Meldung nach Zürich. Hier werden die einlaufenden Meldungen geordnet und um 0900 Uhr nach Weissfluhjoch ferngeschrieben. » « Und auf Grund dieser Angaben erstellen Sie nun die Lawinenprognose? » « Nicht allein. Wir müssen dazu auch den jeweiligen Zustand der Schneedecke berücksichtigen, der auf allen Stationen monatlich zweimal untersucht und auf diese Weise kontinuierlich verfolgt wird. Von grösster Wichtigkeit ist auch die Berücksichtigung der Wetteraussichten, weshalb kein Lawinenbulletin ohne vorherige Rücksprache mit den Meteorologen herausgegeben wird. Trotzdem können unsere Bulletins keine Prognosen sein, sondern nur Situationsberichte mit eventuellen Hinweisen auf die nächste Entwicklung. » « Und wie wird nun das heutige Bulletin lauten? » « Dazu lassen Sie mir nun eine Stunde Zeit, bitte. » Pünktlich erscheint der Besuch wieder, als ich um 11.00 Uhr am Fernschreiber sitze und folgenden Text an die Depeschenagentur Bern übermittle:

Lawinenbulletin vom 24.Dezember, mittags:

Von Donnerstag auf Freitag ist im ganzen Alpengebiet weiterer Schneezuwachs zu verzeichnen. Auf 1600 m Meereshöhe beträgt dieser in den südlichen Walliser Tälern, den Tessiner Alpen und im Engadin rund 30 cm, in den übrigen Regionen 30-50 cm. Die Temperatur ist um ca. 5 bis 8 Grad gefallen. Besonders in der Höhe herrschen noch stürmische Winde aus dem Nordwestsektor.

Der Höhepunkt der grossen, allgemeinen Lawinengefahr ist überschritten. Vereinzelt können noch aus bekannten Lawinenzonen mit umfangreichen Schneeanhäufungen grössere Abstürze bis in bewohnte Gebiete vordringen. Im übrigen herrscht über etwa 1200 m ausgeprägte lokale Schneebrettgefahr. Dem Skitouristen wird empfohlen, vorderhand von ausgedehnteren Unternehmungen abzusehen und sich auf die überall vorhandenen sicheren Routen zu beschränken.

Erstaunt über den optimistischen Inhalt erkundigt sich mein Gesprächspartner über die Gründe der relativ günstigen Beurteilung der Lage.

« Charakteristisch an der heutigen Situation sind die starke Abkühlung, der Neuschneezuwachs, der Sturm und die vielen beobachteten Lawinen. Durch Neuschneezuwachs und Sturm nimmt die Gefahr normalerweise zu. Dieser Tendenz wirkte die bereits gestern eingetretene massive Abkühlung sehr heilsam entgegen. Auf heute hat sich die Erstarrung der alten, feuchten Schneedecke in günstigem Sinne ausgewirkt. Zudem haben sich viele Lawinenzonen nun bereits entladen. Die Wetterprognose ist gut. Das sind die Hauptgründe zur überraschend günstigen Beurteilung. Im übrigen erweist sich die Lage in allen Klimaregionen und Höhenlagen als weitgehend identisch, so dass diesbezüglich Ergänzungen nicht notwendig sind. » Wir sind dankbar und zufrieden, dass die Verhältnisse eine so günstige Wendung genommen haben und mit dem heutigen Bulletin viel Kummer und Sorgen gelindert werden dürften. So wird die Freude am Christfest auch bei den Bewohnern der Alpentäler ungetrübt sein.

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