Überschreitung der Bergünerstöcke
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Überschreitung der Bergünerstöcke

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Mit 1 Bild.Von Ernst Reiss.

Der 17. August, einer der wenigen sonnigen Wochenendtage des letzten Sommers, war es, der den schon lange erwogenen Plan meines Tourenkameraden endlich näher rückte. Es galt dem Dreigestirn Piz d' Aela, Tinzenhorn und Piz Michel.

Von Davos bringt uns die Rhätische Bahn über Wiesen nach unserm Ausgangsorte Filisur. Frohgemut schreiten wir durch das sonnige, malerische Bergdorf unter dem idyllisch gelegenen Dorfkirchlein vorbei und über die junge Albula, von wo uns das steinige Zickzackweglein durch den struppigen Bergtannenwald dem abgeschlossenen Val Spadlatscha entgegenführt. Fast würde man es nicht glauben, dass durch diesen steilen Felsweg ein Pferdegespann das abgeschlossene Alpental mit der tiefgelegenen Ortschaft verbindet. Es mag etwa 5 Uhr abends sein, wie wir das Kirchengeläute vom Tale herauf vernehmen, das wie eine frohe Stimme des trauten Berglandes uns ;!-:":.{, % ,ji.

; begleiten will. Kurz nach dem Engpass vor der Alp Sela schreiten wir durch eine heimwärtskehrende muntere Ziegenherde. Noch lange hören wir das bettelnde Meckern einiger Nachzügler. Weiter oben begegnen wir zwei Gespannen, die das duftende Mutternheu, in Blachen gefasst, über den steilen, holprigen Weg zu Tale bringen. Die Bremsen kreischen, stark stossen die Wagenlanden im Pferdekummet, und braune Gesichter mit blinkenden Zähnen lachen uns von den prallen Heutüchern entgegen. Durch die gemähten Alpenweiden führt uns ein schmaler Seitenpfad der linken Talseite zur Alp Prosut; denn dort wollen wir die uns bald zur Tradition gewordene Milch trinken. Auf geschälten Baumstämmen nehmen wir Platz und nippen kräftig von der frisch gemolkenen Milch, die uns der freundliche Senn überreicht hat. Hinter der nahen Türe des Nebenstalles geht es plötzlich laut und stürmisch zu. Im letzten Augenblick, da sich der Rüssel eines der grunzenden Vierbeiner durch den Türspalt schiebt, kann mein Kamerad Walter die Türe mit einer Klafterspälte noch versperren. Zuerst wird der Platz von uns geräumt, und dann gibt der Hirt den Weg zum Schottentrog frei, zu dem die gewichtigen Schweine hintrotteln und alle Umwelt vergessend sich inbrünstig dem Fressen hingeben.

Noch einige freundliche Worte werden mit den Sennen gewechselt, und munter geht es dann durch lichten Lärchenwald dem Ziele näher.

Wie wir an den letzten, braungebrannten, eingesunkenen Heuschobern vorbeikommen, streift eben die Sonne mit ihrem Rot das hier mächtig emporwuchtende Aelamassiv. Bald grüsst die freundliche Aelahütte aus nächster Nähe zu uns herab. Die ersten Lichter blitzen schüchtern aus dem Albulatal herauf, da wir erleichtert in die Hütte treten. Noch spielt ein zartes Rot der sinkenden Sonne um die erhabenen Bergeshäupter, und dann werden auch sie in den Mantel der dunkeln Nacht gehüllt.

Nach einem spärlichen Schlaf wird am Morgen um halb 2 Uhr Tagwacht gemacht. Standen gestern abend noch schwarze Wolkenfische am nachtgrauen Himmel, so blickt jetzt ein wolkenloser, monderhellter Himmel durch das Hüttenfenster. Ein kräftiger Ovosport-Kakao gibt uns die nötige Kraft zu den bevorstehenden, strengen Gipfelfahrten. Schon kurz nach 2% Uhr kratzen unsere scharfen Tricouni über den bleichen Kalk, dem nachtschwarzen Aelakoloss entgegen. Der kalte Hauch der klaren Nacht beschleunigt unser Vorwärtskommen durch die losen, steilen Schutthänge. Kaum ist die vierte Morgenstunde überschritten, stehen wir in der Aelascharte. Rucksack und Nagelschuhe werden hier zurückgelassen, und in leichten Kletterfinken, mit umgehängtem Seil, steigen wir im grauen Dolomit am Westgrat empor. Mit der langsam steigenden Dämmerung wird aber der Himmel blasser, und schon haben wir den Durchschlupf zum eigentlichen Westgrat verpasst. Das Seil hilft uns aber über eine glatte, glasige Wandstufe auf den luftigen Grat. Bald liegt der vorgeschobene Westgrat hinter uns, und vorsichtig tasten wir über den dünnen Eisüberzug der nahen Gipfelfelsen. Punkt 5 Uhr 15 stehen wir am Steinmann des Aelahaupt-gipfels ( 3340 m ). Hatten wir bis jetzt immer dem Fels unsere Aufmerksamkeit zu schenken, so können wir nun mit Musse unsere Blicke in die Ferne schweifen lassen. Im blassen, kalten Grau erheben sich vor uns die eisbedeckten Nordflanken der Piz d' Err-Gruppe, und weiter hinten wuchten die schwarzen Felsen der Bergeller Bergriesen empor. Weit im Westen reckt sich die Pyramide des Finsteraarhorns. Mattblau blicken die Eispanzer des Tödimassivs zu uns herüber. Im nahen Osten jedoch lässt ein helles Leuchten das Aufgehen der Sonne ahnen. Langsam fallen die Schattenschleier von Ortler und Bernina. Die Kälte aber hat damit zugenommen, und mit Sehnsucht warten wir auf den feurigen, alles belebenden Sonnenball. Als rote Scheibe tritt er langsam über die Bergketten der fernen Ostalpen, und rot überhaucht entflammen die höchsten Gipfel unserer Berge. Immer neue Spitzen beleuchtet das Spiel des Sonnenlichtes, und bald dürfen auch wir unsere Glieder an diesem Weltenfeuerherd erwärmen.

Eine kurze Notiz im Gipfelbuch hinterlassend nehmen wir Abschied von unserem Berg, traversieren den Westgipfel und steigen weiter hinab über den noch schattigen Westgrat zu den Rucksäcken zurück. Nach kaum dreiviertel Stunden erreichen wir bereits die Aelascharte und vertauschen die Kletterfinken wieder mit den Bergschuhen. Um sobald wie möglich wieder in den Bereich der Sonne zu gelangen, queren wir in scharfem Tempo durch die groben Schotterhänge hinüber an den Fuss des Tinzenhorns. Walter hat einen kleinen Vorsprung; und wie ich über den Rücken des Rodond trete, rastet er bereits im hellen Sonnenschein. Im Augenblick bin ich erstaunt über diese so ungewohnt frühe Rast; aber Walter weiss nur zu gut, was wir noch vor uns haben.

Langsam ziehen wir in Kehren über den üblichen Aufstiegsweg der Nordostwand am Tinzenhorn empor. In rechtem Winkel sengt die warme Augustsonne in die graue, schuttbedeckte Flanke. Bei der hohen Schulter angelangt, verbinden wir uns wieder mit dem Seil, was dem Geübten in dem leichten Fels ja nur ein rasches, unbeschwertes Vorwärtskommen gibt. Der Uhrzeiger rückt schon gegen die zehnte Morgenstunde, wie wir über das schmale Grätlein hinüber zu der höchsten Gipfelkuppe treten ( 3180 m ).

Hinter uns steht der breite und höchste der Bergünerstöcke, doch vor uns wächst abweisend der steile Michelgipfel in den blauen Äther. Ihm gilt. heute unser letztes Sehnen! Doch unabsehbar zieht sich der lange, durch tiefe Scharten unterbrochene Verbindungsgrat zum kühnen, luftigen Gipfelaufschwung.

Nur kurz ist darum die erhabene Rast, und schon steigen wir hinab in die von vielen Querbändern durchzogene Westflanke. Oft überspringen wir die aufhaltenden Quergürtel; denn prächtig greifen die scharfen Tricouninägel in den darunterliegenden hartgefrorenen Firn. Wir glauben bereits die tiefste Stelle erreicht zu haben, als plötzlich eine gähnende Scharte vor uns ihren Rachen öffnet. Nur mit Misstrauen beurteilt Walter die jenseitige Ersteigungswand. Aber beherzt machen wir uns an deren Überwindung und bezwingen auch dieses Hindernis. Zuerst leicht, dann immer wilder streckt sich vor uns der lange Grat. Die Sonne hat den Zenith schon vor geraumer Zeit überschritten, wie wir vom Kamm rechts abgewiesen prüfend vor einer seillangen Verschneidung stehen. Das Seil läuft langsam hinter dem Sicherungsblock durch, und ich bewundere meinen Seilgefährten, mit welcher Ruhe er in Nagelschuhen sich an der glatten, steilen Wand emporarbeitet. Bald ist der höchste Punkt des langen Grates doch erreicht, und wie erdrückt vom Anblick des hier mächtig aufsteigenden Gipfelstockes, zum letzten der drei Geschwister, schleiche ich ganz kleinlaut und unbeholfen hinab zur grossen Scharte. Der lange Pfad, der ständig unsere Aufmerksamkeit verlangte und uns das Ziel noch einmal verwehren will, greift unbemerkt an unsere Kräfte, unsern Willen, durchzuhalten. Weit unten rechts, im weltentlegenen Felsenkessel weidet ungestört ein Rudel Gemsen. Friedlos scheint uns unser Vorwärtsdrängen.

Doch schon nach kurzem Imbiss, die Genagelten im Rucksack gut verstaut, verleihen uns die weichen Kletterfinken neuen Drang, den steilen Pfeiler anzugehen. Die ersten Zacken sind bald überklettert, und hemmungslos schweift nun der Blick zur Höhe und wieder in bodenlose Tiefe, wo gähnend der gelbbraune Fels zur Linken in die Geröllfelder sticht. Abschreckend klafft vor uns eine schmale, doch nicht sehr tiefe Scharte. Diesem alten, etwas rostigen Haken müssen wir uns anvertrauen. Aber er hältGleich wie auf einem steilen Ziegeldach, dem Stand der Füsse nur vertrauend, geht es rechts zu einem kurzen Riss. Damit ist der luftige Kamm wieder erreicht, doch über uns steht drohend das zerrissene, steilste Stück des kühnen Gipfelaufschwunges. Deutlich weist uns ein zeitweise ausgeprägtes Band den Weiterweg zur Linken in die exponierte Wand. Weit oben winkt ein kleiner Überhang, das letzte Hindernis. Zwei Beine schauen zappelnd über diesen Wulst, und unklar höre ich meinen Seilgefährten einige Laute murmeln. Es war ein loser Block, was Walter beinahe ins Haudern brachte. Doch starke Hände griffen in die winzigen Unebenheiten und zogen den Körper über diesen Punkt hinweg. Mit der Seilhilfe kann ich folgen. Ein wenig weiter rechts, und befreit von aller Spannung stürmen wir vorwärts über leichten Fels dem Gipfel zu ( 3160 m ).

Schweigend stehen zwei glückliche Bergkameraden beim Gipfelsteinmann und blicken zurück auf den langen Kletterpfad, der uns wieder so viel Neues und Unvergessliches gebracht hat. Noch ist die vierte Nachmittagsstunde nicht überschritten. Jedoch der weite Rückweg vergönnt uns nur eine kurze Rast, und in Eile stärken wir uns mit dem letzten Proviant, den unsere Rucksäcke noch bergen. Vergeblich suchen wir nach dem Gipfelbuch, doch als Tribut hinterlassen wir ein Paar ausgediente Kletterfinken! Auf der Südseite vom Piz Michel fahren wir über steilen Firn ab und eilen weiter durch groben Schotter. Wir achten nicht mehr auf das Schmelzwasserbächlein, das uns in glatten, vereisten Felswinkeln über Rucksack und Hosenboden läuft. Nur vorwärts, es wartet uns ein sonniges Fussbad im gurgelnden Bächlein des Orgelsees. Fast ängstlich schweift mein Auge in die abweisende Südwand des Tinzenhorns und sucht nach der einmaligen, kühnen Durchstiegsroute. Mit trockener Kehle und heissem Gesicht überwinden wir die letzte Steigung zum Orgelpass. Wohltuend wirkt der Schatten beim Durchqueren der langen Schutthalden an der Tinzenhornsüdostwand bis hinab zur Aelahütte. Und durch das Val Spadlatscha steigen wir nach Davos zurück.

NB. Meines Wissens ist dies das erstemal, dass diese Tour in einem Tage ausgeführt wurde. Um die Bergünerstöcke vollständig zu überschreiten, müsste an Stelle des Aelawestgrates der Südostgrat oder die Ostflanke gewählt werden.

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