Überschreitung der Gelmerspitzen
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Überschreitung der Gelmerspitzen

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Mit 1 Bild ( 102Von Daniel Bodmer

( Bern ) Gelmergebiet! Wer dich aufsuchen will, muss diese Gunst mit dem Anmarsch abverdienen. Aber du gibst tausendfältig zurück, was auf der langen Grimselstrasse mit dem rucksackbefrachteten Rad an Schweisstropfen vergossen wurde. Ist man aber erst einmal in die heimelige Stille deines Hochtals eingedrungen, so hältst du jeden mit unsichtbaren Fesseln fest.

Als ich das letzte Mal zu dir kam, begleitete mich nur der Herbst. Um den milchigen Gelmersee brannte rotes Heidegesträuch, dicht besetzt mit schweren Beeren. Vor mir im Talgrund stiegen die braunen und grünen Granit-planken zu einem wuchtigen Felswall auf. Mit der Nacht wanderte ich durchs Tal, verschwand unter den mächtigen Felsbrocken am Ende des Sees und stieg über die zwei Steilstufen des Diechtertals zur Gelmerhütte hinauf. Der milde Geruch der Einsamkeit wird noch verstärkt durch die zarte Herbststimmung. Wer ausser den seltenen Besuchern des Grossen und Kleinen Gelmerhorns stört diesen Zauber?

Eine ehrfürchtige Scheu will mich zurückhalten, das unbekannte und noch unbesungene Gebiet der Gelmerspitzen der Öffentlichkeit preiszugeben. Müssen wir nicht froh sein um jeden Alpenfleck, der noch nicht dem Geschwätz der Mode und dem Getümmel der Masse ausgesetzt ist? Doch dieses Stück Bergwelt hat sich einen guten Schutzwall gegen allzu Zudringliche aufgebaut, darum mag ich getrost von ihm erzählen.

Die Überschreitung von S nach N jenes Gratstücks vom Grossen Gelmerhorn bis zur'Garwidilimmi, mit seinen 7 Gelmerspitzen, hatten wir uns vorgenommen. Man erspart sich viel Mühe, indem man den Einstieg in eine der Gratscharten am Vorabend rekognosziert, auch wenn dies unter Umständen mit einem unfreiwilligen Bad im reissenden Diechterbach verbunden ist. So erging es auch meinem Freund Peter. Dafür waren wir dann morgens schon in einer guten Stunde in der nördlichen Gelmerlücke ( zwischen Grossem Gelmerhorn und 7. Gelmerspitz ) und konnten gleich den ersten Felsen in Angriff nehmen. Die Spitzen mit den höchsten Nummern ( 7-5 ) sind in diesem Falle auch die ruppigsten Gesellen. Schon gleich am 7. muss man sich mit der grossen Reibung dieser massiven Granitplatten vertraut machen. Auf einer solchen wird der Vorgipfel in der abschüssigen E-Flanke umgangen, worauf man ebenfalls mittelst Adhäsion auf den Grat zurückgelangt. Im nächsten Augenblick steht man vor einem 4-5 m hohen, senkrechten, griffarmen Ab-satz.T.rotz wirksamer Schulterhilfe muss mein Kamerad daran hörbare Arbeit leisten. Nach diesem Hindernis ist dann der südlichste Gelmerspitz so gut wie bezwungen.

Nach kurzer Kletterei, wobei ich einmal meinen verklemmten Rucksack am liebsten die Plattenschüsse hinabgeworfen hätte, verwandelt sich der Abstieg in ein zweistöckiges Abseilen ( 10 und 25 m ). Hier finden wir wieder unser zweites 30-m-Seil, das sich gestern bei der Abfahrt tückisch in den Felsen verkrallt hatte und das wir deshalb vorübergehend opfern mussten. Zur « tiefsten Scharte » führt dann eine steile Rinne, durch die man, beidseitig verstemmend, frei klettern oder abseilen kann.

Ein mächtiges Bollwerk, dieser 6. Spitz, steht vor uns; er würde mit seinem lückenlosen Panzergürtel einer Igelstellung einer Kampffront alle Ehre machen. Unter den riesigen Platten entlang schleichen wir in die E-Flanke hinaus und suchen eine Bresche, den Zugang auf jene grasige Terrasse, von der aus uns der Weiterweg leicht geschienen hatte. Da sitzt ein Haken in 3 m Höhe in einem Riss, und schon tastet sich Peter mit Hilfe meines Seilzuges an der glatten Mauer hinauf und rettet sich nach rechts auf ein Känzel-chen. Nachdem ich den Karabiner ausgehängt habe, strample ich zweimal in der Luft, bevor mich das Seil aufs Trockene setzt. Über grasdurchzogene Stufen geht 's zum Grat zurück, der einen immerfort mit ungestümer Gewalt anzieht, weil er das Klettern mit seinen wechselnden Tiefblicken und blauer Luftigkeit würzt. Nun sind wir bereits etliche Stockwerke über der Scharte auf unserem Terrässchen, von wo wir uns an der Gratkante hinauf unter den Gipfelblock schwingen, der wieder auf der E-Seite über eine kurze glatte Kante — für Kurzarmige mit Schulterstand — bezwungen wird.

Vom 6. Spitz geht die Fahrt ins Ungewisse weiter, mit jenem leichten Prickeln der Erwartung, das wir im Zeitalter der ausführlichen Routenbeschreibungen fast nicht mehr kennen. Und schon geht 's ans « Werweissen ». In der Gratlinie reisst sich ein klaftertiefer Spalt auf, und an seinem andern Ufer fällt der Fels ins Leere ab. Also in die E-Flanke, an den Rand der geneigten Gipfelplattform. Hier taucht der Blick in einen 4-5 metrigen Schacht, hält sich an einem Band, auf dem er eine beruhigende Abseilschlinge gewahrt, und landet schliesslich auf einem riesigen, geneigten, tafelförmigen Podium, das das Ende der Welt darstellt. Wohin das Auge nur schaudernd tastete, in diese Tiefen lassen wir uns hinab. Peter kriecht in den Schacht und geht auf Kundschaft. Ich weiss nicht, ob er auf dem glatten Parkett gerade ans Tanzen gedacht hat; ich könnte mir jedenfalls dort nur einen Totentanz vorstellen. Der Blick um die Ecke scheint nicht ermutigend zu sein, doch er winkt mit jener selbstverständlichen Art, die keine Hindernisse kennt und damit auch meine Hemmungen wegbläst. Das eingezogene Seil prasselt auf mich nieder, und damit ist der Rückweg abgeriegelt. Eng an seinen bergseitigen Rand geschmiegt, passiere ich das « Todesparkett ».

Ein Blick mitten in das Zackengewirr des Verbindungsgrates vom 6. zum 5. Um und um harte braune Plattenschüsse, an denen der Blick hilflos abgleitet. Noch ist es uns rätselhaft, wie wir eine der beiden Gratscharten erreichen sollen, entweder die tiefere oder die höhere am Fuss des markanten Zapfens im Verbindungsgrat. In freier Traverse zu klettern, ist äusserst heikel, also Abseilen, was das Zeug hält. Peter hat mit Kennerauge 4-5 m höher gegen den Grat einen Abseilzacken entdeckt, dem er unser ganzes Seilkapital anvertraut ( 60 m ). Beim Antreten meiner Abfahrt war mir wohl kaum weniger bang zumute als einem Fallschirmabspringer in Erwartung des feindlichen Empfangs am Boden. Erste Zwischenlandung auf einem Band, das leicht zur tieferen Scharte führt. Sollen wir hier den Grat wieder fassen? Peter hat einen besseren Plan. Schon segelt er an mir vorbei in die ostseitige Kehle hinab, wo ihn in 30 m Tiefe ein grünes Eiland aufnimmt. Er will den ersten Gratzacken umgehen und direkt an den Fuss des markanten Zahns gelangen.

Beide sitzen wir auf der Rasenplanke und ziehen hartnäckig, aber vergeblich an den Strängen. Der Ruhepunkt unserer Seile ist längst unsern Blicken enthoben. All unser Glück und unsre Kraft hängen da oben! Ich komme mir vor wie weiland Samson, dem mit den Haaren die ganze Stärke geraubt wurde. Ohne unser Seil wären wir zu hilflosen Neugeborenen in dieser Felswildnis geworden. Das einzige, was bleibt: über die plattige Flanke die obere Scharte mit Hilfe der Seilenden gewinnen. Von hier aus können wir das Seil wieder in freier Luft strecken und entwirren. So gut es mir mein labiles Gleichgewicht erlaubt, werfe ich mein Gewicht an ein Seilende; doch es tut keinen Wank. Ein Augenblick, würdig der « Höhepunkte des Lebens » im « Schweizer Spiegel ». Peter macht am andern Seilende Wellenschlag. Endlich scheint es mir zentimeterweise anzusprechen, dann beginnt es mählich zu rutschen und zu gleiten, und wie wir wieder den ganzen grossen Haufen Hanf vor unsern Füssen sehen, wird es uns leichter.

An diese aufregende Episode schliesst sich vielleicht der reizvollste Teil des Grats, das Verbindungsstück zum 5. Ein beschwingtes Turnen auf der scharfen, zerrissenen Schneide, nirgends so schwer, dass man nicht einen Blick nach rechts oder nach links in die Tiefe werfen könnte. Noch eine kurze Abseilstelle in die W-Flanke, dann stehen wir über dem letzten Abschwung dem 5. Spitz gegenüber. Im gotischen Münsterstil scheinen sich die Felsplanken ungebrochen in die Höhe zu schwingen: eine grifflose Flucht von unten bis oben. Wieder der für die Gelmerspitzen typische Turmrundgang und darüber die Gipfelhaube mit einem aufgesetzten Monolith. Aber aus der Froschperspektive von der Scharte aus hat unser Gegner schon an Steilheit eingebüsst.

Nach tüchtiger Stärkung macht sich mein Begleiter an die Arbeit. Im leicht nach E abgewendeten breiten Rinnenzug strebt er nach oben. Die 30 m Seil reichen gerade bis zum nächsten Stand. Klassische griffarme Granit- Metterei auf Reibung. Der anfangs erträgliche Riss wird plötzlich von einem Übergang überdacht, der eine kitzlige Körperwendung in die Stemmstellung erfordert, Rücken gegen den Überhang. Auch weiterhin bleibt die Arbeit schwer. Querung weiter nach rechts in einen andern Riss, den wir während 4 m bis in eine kleine Höhlung verfolgen. Von hier aus kann ich meinem Vordermann beim Hinaustreten in den ausgesetzten Plattenschuss linkerhand gute Rückendeckung mit dem Seil bieten. Nun kommen die bekannten Grasplätzchen, die zur Schulter hinaufleiten, wo erst der Gipfelaufbau sichtbar wird. Mit Spreizschritt über einen Spalt und leicht auf die Gratschneide zurück, an der hinauf man unter die Gipfelhaube kommt. Heikle Traverse einem schräg rechts aufwärts führenden Riss entlang, wobei man peinlich ins Leere abgedrängt wird. Mit Reibung und Klimmarbeit über die Kante des Gipfelblocks. Ein Händedruck belohnt die Leistung meines Kameraden. Die Erschlaffung während der Gipfelrast ist Balsam für die aufgepeitschten Nerven. Ein Nebelchen spielt im Grat; in unermesslicher Tiefe ein milchig-grüner Ausschnitt aus dem Gelmersee in jener schiefen Perspektive, die nur der Kletterer und Flieger kennt.

Der vorgeschrittene Nachmittag mahnt zur Eile; noch zieht sich der Grat mit 4 Spitzen weiter. In der E-Flanke steigen wir gegen die nächste Scharte ab. Ein Grateinschnitt weist zur Linken die Abseilstelle, die mit exponiertem Einstieg 15 m über die überhängende Gratkante hinabführt.

Über die restlichen vier Gelmerspitzen setzen wir in flüssiger, spielender Kletterei hinweg. Der im südlichen Teil massive Grat löst sich hier immer mehr auf und endigt schliesslich beim 1. Spitz so zerschlissen, dass er sich fast zu einer Geröllhalde auflöst. Dementsprechend erfordert der Fels wegen seiner Brüchigkeit grössere Vorsicht.

Der 4. weist einen Doppelgipfel auf, der durch eine unüberschreitbare Scharte getrennt ist. Beide Punkte sind in hübscher Kletterei erreichbar. Nr. 3 und 2 sind leicht, erfordern aber der vielen Scharten und Zähne wegen viel Zeit. Der 1., nördlichste Spitz, der von S nur eine gerölldurchsetzte Flanke bietet, läuft zur Garwidilimmi in einen vielfach zerrissenen Grat aus, auf den wir wegen Zeitmangels verzichten müssen. Mit der Dämmerung eilen wir die endlosen Trümmerfelder nach rechts ins Diechtertal hinab. Barfuss queren wir den reissenden Diechterbach, der uns die brennenden Sohlen kühlt.

In der Hütte wird eine riesige Schüssel mit Heidelbeeren in Kondensmilch aufgetischt. Am wohlsten hat uns aber beim Durchsehen des Hüttenbuches die Entdeckung getan, dass wir seit 1938 die einzigen sind, die eine Gesamtüberschreitung der Gelmerspitzen eintragen dürfen. Da wird uns erst recht bewusst, was für eine einzigartige Berggunst wir an diesem Tage — während 11 Stundengenossen haben.

Ihr stolzen, einsamen Spitzen mögt es mir verzeihen, wenn ich hier etwas von eurem Zauber verraten habel

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