Überschreitung der Kleinen und Grossen Scheibe
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Überschreitung der Kleinen und Grossen Scheibe

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Scheibe 1 ).

Von Rudolf Streift.

Wie ein gefangenes Tier ruhelos hinter den Gitterstäben seines Käfigs auf und ab wandert, so pendelte ich von einem Fenster des Wohnzimmers zum anderen und hatte keinen Blick für die schöne Stadt unter mir, noch für den blitzenden See und den Villenkranz längs dessen Ufern. Ich sah nur den 1 ) Über die Nomenklatur im Sardonagebiet herrscht Unklarheit. Schon in den Jahrbüchern XXXII, S. 359, und XXXIV, S. 337, beschreibt F. W. Sprecher, wie die Bewohner des Taminatales die Gipfelzacken dieser Gruppe anders benennen als in den eidgenössischen Kartenwerken angegeben ist. Im Clubführer durch die Bündneralpen finden wir wieder neue Bezeichnungen und im Jahrbuch XLIX, S. 184, den Vorschlag, die Kleine Scheibe Werralperhorn zu nennen.

Ich habe die Benennung der Gipfel nach der Karte der eidgenössischen Landestopographie beibehalten, da diese Karte von den Alpinisten benützt wird. Es hat meines Erachtens keinen praktischen Wert, abweichende Bezeichnungen anzuwenden, auch wenn diese an sich noch so berechtigt wären, wenn sie von der Landestopographie nicht übernommen werden.

Die nördliche Scheibenrunse ist im Aufstieg erstmals durch Mitglieder der Alpina turicensis am 26. Mai 1907 gemacht worden ( Alpina 10, S. 85 ). Auch sie erklären, dass der Aufstieg von Ramin aus nur bei starker Schneefüllung in der Runse möglich sei.

Unseres Erachtens ist der sicherste Zugang zur Scheibenrunse von der Geisseck aus durch einen Quergang oben längs der « Schnur ». Steinschlag ist bei dem morschen Zustand des Gesteins stets zu befürchten.

blauen Himmel und in zartem Duft das Vrenelisgärtli und des Tödis würdiges Haupt in der Ferne. 0h, dieser blaue Himmel, dessen Ausbleiben uns letzten Samstag die Sektionsfahrt zu Wasser werden liess, musste er erst jetzt kommen? Am Montag, Dienstag und heute wieder, da ich arbeiten sollte? Es ist zum Verzweifeln. Da schrillte die Glocke des Telephons. « Hier Mathias Jenny. Ich fahre heute nach Elm, um mit dem Führeraspiranten Fritz Schaub die Probetur zu machen. » « Ich komme auch mit, aber wohin geht die Fahrt? » « Über den Nordgrat zur Kleinen und Grossen Scheibe. » Sapperlot! Nordgrat? Scheibe? Von der spricht man so selten, dass man einen Blick in die Karte tun muss, um die geographischen Kenntnisse etwas aufzufrischen.

Im Osten von Elm stehen die beiden Scheiben, als nördliche Pfeiler des Saurenstockes oder Piz Sardona. Sie sind nur von wenigen bewohnten Punkten aus sichtbar, haben keine berühmte Aussicht und sind so rauhe Gesellen, dass deren Bekanntschaft zu machen nicht verlockend ist. Nur die Steinböcke im nahen Asyl der Grauen Hörner scheinen Interesse an den schwarzen Felszacken zu finden, denn Jäger wollen letztes Jahr zwei dieser scheuen Tiere in den Felsen der Scheibe beobachtet haben.

Die Ostflanke des Berges wird durch den langen Muttentalergrat in zwei Hälften geteilt. Die südliche trägt ein kleines Gletscherchen, das zurzeit die Verbindung mit dem Sardonagletscher verloren hat. Die Nordhälfte fällt in steilen Fels- und Schuttbändern zur Fooalp ab. In die Westflanke der Scheibe hat sich der Raminbach in vielfach verzweigten Rinnsalen so tief bergwärts gefressen, dass der Grat von Elm aus in wilde Zähne aufgelöst erscheint. Auf der Karte sind keine Höhenkurven mehr sichtbar, nur enggedrängte Schraffen, und unser Clubführer der Glarneralpen sagt verdächtig wenig über den Nordgratweg. Habe ich am Ende zu voreilig meine Teilnahme an der Partie zugesagtEin Blick zum blauen Himmel, und weg sind alle Bedenken!

Während der Fahrt nach Glarus ballen sich schwere Wolken über den Bergen zusammen. Es brodelt über den Churfirsten, es dräut im Wäggital, und hinter dem noch weissen Kärpfstock zucken grelle Blitze. Dass der Tödi noch frei sein Haupt erhebt, freut mich, und dass der Glärnisch in dieser feuchten Nachbarschaft noch ohne Regenmütze ist, wundert mich. Das Wetter wird demnach nicht so schlimm werden. In Glarus steigt Mathias Jenny ein, und in froher Stimmung fahren wir ins Sernftal hinein. Das Gewitter, das über den Freiberg hinweg ging, hat sich verzogen. Der Sernft wälzt schwarze Fluten daher, und die Luft hat jenen köstlichen Duft von frisch geschnittenem Gras. Am Abhang des Gandstockes zeigen sich schon die Spuren menschlichen Eingriffes in die Natur: hier eine frische Schneise durch den Wald, dort eine Signalstange mit Fähnchen auf einem Vorsprung, und gähnende Löcher über Schuttriesen zeigen den Beginn der Stollenarbeit für das Kraftwerk Sernft-Niedernbach an. In Engi und Matt steigen Talbewohner ein und aus. Ich liebe diese Kleintaler, sie sind ein zähes, aufrichtiges Völklein. Am Plattenberg bei Engi hat die Abrissstelle des kürzlich erfolgten Felssturzes noch die helle Farbe frischgebrochenen Gesteins, während die Bergsturznische von Elm in ihrer dunklen Verwitterungsfarbe nur noch schwach zu erkennen ist. Wegen der Zugverspätung wurde es halbacht Uhr, bis wir von Elm abmarschieren konnten. Der Führeraspirant ist zu uns gestossen, und nun schreiten wir ins Untertal, zwischen ebenen Äckern und Wiesen, die kaum mehr erraten lassen, dass hier vor bald fünfzig Jahren ein grauenvoller Bergsturz 115 Menschen das Massengrab bereitete.

In wenig Kehren gewinnen wir auf neuem, gutem Strässchen die Höhe, wo der Weg nach Alp Camperdun abzweigt. In sanfter Steigung zieht das Strässchen durch den Ahornwald, dann durch lichten Tannenbestand nach Osten zum mittleren Staffel der Alp Ramin, wo wir übernachten wollen. Zur Linken sehen wir durch Lücken im Bergwald die Alpweiden von Camperdun, im Winter ein herrliches Skifeld, das sanft bis zum aussichtsreichen Blattengrat ansteigt. Zur Rechten ist die Szenerie eine völlig andere. Aus der Tiefe der Raminbachschlucht schiesst eine ungeheure Wand in düsteren Farben bis zum Wolkendach empor. Gerade am Nebelrand erkennen wir jene scharfe tektonische Linie, welche unter den Tschingelhörnern, dem Piz Segnes, Sardona und der Scheibe durchzieht und die Überschiebungsfläche der Glarnerdecke über den Glarner-Wildflysch kennzeichnet. Unzählige schneeerfüllte Rinnen zergliedern die braunschwarze Flyschwand, an deren Fuss kaum Platz verbleibt für die schmale Falzüberalp. Nach diesem einzigen grünen Querband folgt der letzte senkrechte Absturz zum Raminbach. Die Schneeschmelze und der Gewitterregen vom Nachmittag haben alle Rinnsale so reichlich gefüllt, dass Dutzende von herrlichen Wasserfällen stäubend niederstürzen.

Es ist indessen Nacht geworden. Ab und zu hören wir noch das Gebimmel von Kuhglocken, und da vor uns ein mattrotes Licht schimmert, wissen wir nun, dass die Alp schon bestossen ist und der Senne noch wach. Bald sitzen wir um ein gemeinsames « Gäbsi » und tauchen die runden Sennen-löffel in frische Milch, wie weiland die Krieger bei Kappel. Es riecht nach Rauch und säuerlich nach Schotte. Im Nebenraum quietscht und grunzt es unwillig, so dass wir gar nicht ungehalten sind, die Heudiele zum Schlafen in einem anderen Stall aufzusuchen. Das Laternenlicht huscht über Heuhaufen, Bettdecken und dunkle Haarschöpfe. Dann herrscht Dunkel und Stille, nur fern rauschen die Bäche, bis das Klirren eines Taschenweckers die dritte Morgenstunde anzeigt. Ein einziger Stern blinkt am Himmel. Er genügt gerade, um die Richtung des Wolkenzuges feststellen zu können: Nord-Nordost. Der Taschenaneroid zeigt steigenden Luftdruck an, also sind kalte Nebel für den ganzen Tag wahrscheinlich, aber ohne Regen. Das genügt uns.

Schweigsam steigen wir in stetem Schritt die Werralp hinan bis zum Grat auf Punkt 2445 südlich vom Foopass. Es ist Tag geworden. Der Gipfel der Grossen Scheibe taucht gerade noch in den Hochnebel, aber der wilde zackige Grat zwischen ihr und uns steht in voller, fast abschreckender Klarheit. Nach kurzer Stärkung beginnt unsere Gratwanderung. Zuerst fast horizontal, bald auf breiterem Dachfirst, bald auf schmalen Mäuerchen, gerade luftig genug, um sich an den Tiefblick bei aufrechtem Gang noch gefahrlos gewöhnen zu können. Hier hinunter in eine Scharte, dort ein kleines Wändchen hinauf, als gute Vorübung für die nun folgenden schwierigeren Stellen, die mein Auge nicht ganz ohne Besorgnis überfliegt. Wir erreichen den ersten grösseren Höcker, die Kleine Scheibe, auf der ein Signal steht, 2561 m. Vor uns sehen wir, jenseits einer Scharte, eine schmale, dreieckige Wand emporschiessen, über die wir hinauf müssen. Da verlangt aber mein Familienvaterpflichtgefühl energisch nach dem Seil. Das Gestein wäre günstig geschichtet, bergeinwärts fallend, ist aber leider durch und durch faul. Der ganze Grat ist eine fürchterliche Ruine und erheischt gute Sicherung und volle Aufmerksamkeit aller Beteiligten.

Die Nebelschwaden wechseln beständig Form und Stellung. Bald umhüllen sie uns und entsenden kurze Graupelschauer, bald weichen sie auseinander und gönnen uns herrliche Tiefblicke in den Kessel der Fooalp oder auf das erwachende Elm oder hinüber zum Vorab und Hausstock. Die Wand ist überwunden, wir sind auf der Spitze des Felszahnes, aber nur, um wieder andere hohle, faule Zähne vor uns zu sehen. Auch das « Zahnfleisch » ist nicht das beste, es besteht aus schmelzendem, schmutzigem Schnee, der oft heimtückisch vereiste Platten verdeckt. Die Szenerie ist ergreifend schön in ihrer Wildheit. Nur schade, dass wegen der düsteren Beleuchtung das Photographieren nicht möglich ist.

Plötzlich ändert das Gestein. Ein kleines Stemmkamin in hartem Lochseitenkalk wird überwunden, dann wird das Klettern in rauhem, graugrünem Verrukano sicherer und angenehmer. Und um 10 Uhr stehen wir auf dem schmalen Grat eines grossen Turmes, Punkt 2791. Vor uns liegt gegen Süden die Grosse Scheibe und hinter ihr, halb vom Nebel verdeckt, der Gipfelaufbau des Piz Sardona. Auf dem Verbindungsgrat ragt ein dicker Gendarm auf. Eine Nebelwand, die sich gerade hinter ihn schiebt, hebt seine klotzige Gestalt besonders drohend hervor, zeigt uns aber gleichzeitig, dass ein steiles Firnband auf der Ostseite die Umgehung erlaubt. Eine etwa 7 Meter hohe, senkrechte Wandstufe mit guten Griffen bringt uns zu einer Scharte, von welcher eine schmale, aber äusserst steile Schneerunse zum Raminbach hinunter weist. Oben an der Scharte müssen heute nacht Tiere gestanden haben, denn im Schnee sind frische Spuren, so gross, dass wir vermuten, sie stammen von Steinböcken.

Nun hebt das Klettern wieder an, so leicht und sicher, dass wir uns erlauben dürfen, den Blick etwas abschweifen zu lassen, zu den leuchtenden Polstern der Silene acaulis, deren Weinrot so wundervoll zum Graugrün des Felsens passt, zum lieblichen Gletscherhahnenfuss in sonniger Nische und zum Gestein selbst, das hier so merkwürdige, schiefrige Struktur hat. Stellenweise könnte man sich in das Magazin einer Buchhandlung versetzt denken. Ganze Bündel blassgrüner, feinster Blätter liegen umher, verbiegen sich unter unseren Tritten oder fahren zerflatternd über den Abhang in die Tiefe. Dieser mergelige Abschnitt liegt auf hartem, körnigem, violettgrünem Gestein ( Verrukano ) und ist wieder von solchem überlagert. In kurzer, anregender Kletterei gelangen wir auf den Gipfel der Grossen Scheibe, 2922 m, den ein gut gebauter Steinmann krönt, von der Form eines riesigen Tann-zapfens. Es ist windstill, und zwischen den Wolken durch, die sich zu Gruppen hoher Cumili zusammenballen, geniessen wir schöne Ausblicke, die uns die Gipfelrast versüssen.

Nach einer kleinen Stunde treten wir den Rückweg an, indem wir die Gipfelwandstufe östlich umgehen, über steile Schneebänder die Scharte mit den Tierspuren erreichen und dann in der Schneezunge vorsichtig, mit dem Gesicht gegen den Berg gewendet, scheinbar endlose Stufen absteigen. Wir halten uns so gut wie möglich am Nordufer der Rinne, denn von der Südseite sausen ab und zu Steine über die Wand und nehmen den Weg durch die Rinne. Zu unserer Beruhigung sehen wir, dass der weiche Schnee rasch die tollen Sprünge der ungebetenen Gesellen abbremst. Es ist fürchterlich heiss bei diesem Abstieg. Der Sonnenschein auf unserem Rücken und die Anspannung aller Kräfte machen den Schweiss aus allen Poren rinnen. Endlos scheint die Stufenleiter zu sein. Unser unterster Mann hat eine schwere Arbeit mit Stufentreten. Vorsichtig sichernd, geht es Tritt um Tritt, bis die Neigung endlich geringer wird. Wir können wieder mit dem Gesicht nach vorn und damit rascher absteigen und bald in die Felsen nördlich ausweichen. Der Abstieg durch die Rinne direkt gegen die Werralp ist im Herbst vielleicht möglich, so wie die Verhältnisse heute lagen, erwies er sich als unmöglich. Die Platten des Gesteins fallen in immer stärkerer Krümmung gegen den Bach ab und sind dort vom hochgehenden Wasser bis weit hinauf bespritzt und so schlüpfrig, dass es strafbarer Leichtsinn wäre, den Abstieg hier erzwingen zu wollen.

Wir klettern wieder zurück auf die Höhe eines Balkons, von wo uns ein Überblick über die Westwand möglich wird. Sehr verlockend sieht es da nicht aus, aber wir müssen eine Abstiegsmöglichkeit finden, sonst bleibt uns die wirklich nicht angenehme Aussicht, bei schon bedenklich vorgerückter Abendstunde zurück zum Scheibenjoch steigen zu müssen. Unter Beobachtung aller Vorsicht klettern wir zu einer vorspringenden Rippe hinunter, von der aus eine steile Rinne südlich, eine andere noch steilere nördlich hinab führt. Rippe und Rinnen sind nach unten nicht zu übersehen, sondern lassen nur eine Wandstufe vermuten, unterhalb welcher sie sich fortsetzen. Wir beraten. Eine Stimme ist für die steilere Rinne, weil da die Schichtung berg-ein fällt und für Griff und Tritt besseren Halt verspricht, die scheinbar sanftere Rinne aber nach unten wahrscheinlich in Plattenschüssen umbiegen wird. Die Mehrheit entscheidet leider für die sanftere Rinne, die uns dann richtig zum Rückzug zwingt, eine Stunde Zeit und viel Schweiss kostet.

Die scheinbar so ungastliche Nordseite erwies sich als schwierig, aber sicher. Mein geplagtes Seniorenherz, das nach der geleisteten Arbeit gegen den zweiten Rückzug bergauf heftig pochend protestierte, beruhigte sich im Abstieg sofort und war jedenfalls so froh wie sein Träger, als endlich der ebene und sichere Alpboden erreicht wurde. Im weichen Grase sitzend, so bequem und sicher, wie daheim im Klubsessel, angesichts der düsteren Wand, die uns so viel zu schaffen gemacht, überlassen wir uns dem wohligen Gefühl der Nervenentspannung, des Geborgenseins. Während der zwölfstündigen Kletterarbeit haben wir unsern Magen recht stiefmütterlich behandelt. Nun darf auch er zu seinem Rechte kommen.

Die Abendsonne wirft noch die letzten schrägen Lichtbündel durch die Lücken des schweren Gewölks auf den Talboden von Elm, wo Hunderte von « Heutschöcheli » verraten, dass unsere Bauern das Gewitter voraussahen, das nun schnell und drohend von Westen heranzieht. Der Führerchef in der Vollkraft seiner Jugend zieht in schnellen Schritten voran, meine älteren, etwas müden Muskeln müssen sich wohl oder übel zum Nachfolgen noch einmal spannen. So wortkarg wir oben in der Wand gewesen, so munter fliesst nun der Rede Strom.

Ist schon je ein Mensch über dieses Wandstück abgestiegen? Wir glauben es kaum. Im Clubführer durch die Glarneralpen ist auf Seite 150 ein Abstieg vom Scheibenjoch durch die Rinne im Bilde eingetragen. Wer diesen Weg gemacht hat, ist uns unbekannt. Uns ist der Abstieg über den unteren Teil am 20. Juni unmöglich gewesen. Die Gemsjäger von Elm erklären ihn auch als ungangbar. Unser Abstieg durch die nördliche Rinne der Scheibe ( links im Bilde ) ist vielleicht neu, unser Abstieg über die untere Wand bestimmt neu, aber nicht empfehlenswert. Dennoch denken wir mit Vergnügen an unsere rassige Bergfahrt vom 20. Juni 1929 zurück.

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