Um die Jahreswende
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Um die Jahreswende

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Willi Scheuer. 24. Dezember.

Der Traum geht in Erfüllung. Acht freie Tage vor mir.

Ich will ausziehen, Berge und Schnee zu suchen.

Durch die Stadt braust der Föhn und schüttet seine Regenschauer auf eilige, packbeschwerte Menschen. Der Bahnhof wirkt fast leer. Der nahende Weihnachtsabend und das laue Wetter haben ein gut Teil des Sportvolkes weggezehrt. Ich fahre.

Hinter Winterthur ragen im Abendgold schon die Zinnen des gesuchten Landes. In der klaren Luft spiegeln die Toggenburger Berge wie eine Verheissung herüber.

Es wird immer stiller um mich. In Nesslau steige ich ins Postauto um. Rucksäcke, Koffer, Ski und Stöcke ragen aus seinem Rücken.

Am Fusse des Säntis hinter Unterwasser geh'ich als letzter Fahrgast nun auch meine Wege. Der Schnee ist hier hinten immer besser geworden, und so schnalle ich die Bretter an, schultere den Rucksack und ziehe die Berglehne hinauf, Wildhaus zu.

Heiliger Abend. Bergweihnachten.

Weit holt der Schritt aus, um Höhe zu gewinnen. Der Föhn bläst eine Wolke Schnee- und Tannengeruch vor sich her und begleitet mit vielen Stimmen die einsame Fahrt. Staunend sehe ich die Wunder dieser Nächte beginnen. Die Dörfer zu meinen Füssen funkeln und glänzen in nie gesehener Lichterfülle. Die Schwärze der hereingebrochenen Nacht wirkt leuchtend, so klar macht die Föhnluft selbst das Dunkel. Tausend Sterne flimmern glühend am Firmament.

Die Tannenäste knacken und schütteln weiche Ballen herunter. Das bleiche Mondlicht spiegelt über den Schnee.

Drunten schlugen vorhin noch die Hunde an, jetzt wird es bei abflauendem Wind immer stiller.

Der Tannenwald vor mir will den Weg sperren, er sieht gespenstisch aus wie ein speertragendes Heervolk.

Drunten im Tal fängt eine Glocke an zu tönen — der verschwebende Klang macht andächtig. Vor einem Tännchen, hoch am Berg gelehnt, mache ich halt und fasse das glitzernde Band der aneinandergereihten Dörfer ins Auge. Und lasse den Blick immer weiter die nächtlichen Täler hinauf seh weif en. Allerorts Lichterbündel und leuchtende Punkte. Jetzt wird wohl überall das Christkind zu den kleinen Buben und Mädchen kommen, jetzt werden die Kerzen an den Weihnachtsbäumchen angezündet. Jetzt hängen Tausende von Augenpaaren am Lichterglanz und an den grünen Zweigen der Wald-bäumchen.

Mein Tännchen vor mir wiegt sich in seinen Zweigen, und es geht wie ein raunendes Märchen durch den Wald. Mich ergreift eine heilige Stimmung. Ich hole aus meinem Rucksack Weihnachtskerzen hervor, und in die leise säuselnden Äste des Tännchens setze ich die Kerzenlichter wahllos hinein. Ein paar verlöschen, von schmelzenden Schneetropfen gestreift. Die anderen aber glühen, flackern und blinken über das Bäumchen hin. Märchenhaft treten die verschneiten, verknorrten Wurzelgerüste der nächsten hohen Tannen hervor. Die Büsche schimmern wie mit Diamanten behangen. Tauender Schnee rollt den Zweigen entlang und sprüht in farbigem Licht. Ich stehe lange vor dem Bild versunken. Meine Blicke gehen drüber hinweg — hinauf — hinein in unendliche Weitenmein Inneres formt ein wortloses Gebet.

Phot. Meiner & Sehn, Zürich Centralcomitee des Schweizer Alpenclub. 1929-1931 E. KernDr. A. LötscherDr. H. AeppliE, Dubs SkiwesenFührerwesenVersicherungswesenHüttenchef Dr. C TäuberH. Reutener .Dr. H- SchälchiinE. Erb BeisitzerSekretärPublikationenZentralpräsident Dr. E. Denzler E. Mülle Rettungswesen Kassier M. Deck Jugendorganisation Noch lange schwang das Empfinden an die stille heilige Waldstunde in mir, als im Weiterschreiten das letzte flackernde Waldlichtlein erlosch, als ich in vorgerückter Stunde in Wildhaus in traumlosen, herrlichen Schlaf hinüberschlummerte.

25. Dezember.

Jetzt noch die würzige, warme Milch getrunken und dann den Gürtel straff und hinaus.

In weisser Fülle breitet sich das Land. Das Skivolk ist nicht mehr zu bändigen. Schon brausen wir dahin, dass die Bretter zischen und singen. Bergauf, bergab. Die Backen brennen und röten sich. Manche gelungene Fahrt wird mit prächtigem Sprung gekrönt. Wie fliessende Figuren werfen wir unsere Christianias und Telemarks in die weisse Schneefläche. Losgelöst von der Schwerfälligkeit und Schwerkraft bewegen wir uns spielend in einem leichten, beschwingten Rhythmus. Wir sind ein frohes Volk in Schnee und Bergen, weitab von der finsteren, verworrenen Problematik, die uns in der Stadt umkrallt. Wir sind freien, behenden Vögeln — Rehen — Gemsen gleich.

Und in der Nacht schlafen wir tief und ausgiebig wie die Murmeltiere.

31. Dezember.

Die Berge rauchen. Über den Säntis und die umgelagerten Gipfel fegt der Morgenwind ganze Nebelbänke. Die ziehen die Bergwand hinauf und hängen dann wie eine helle Rauchfahne weit über den Gipfel hinaus. Das Bild der riesigen, vereisten, schneebepuderten Felsbastionen ändert im Morgenlicht dauernd die Farbe. Jetzt starren die Flächen noch grau und kalt gegen den schwarzen Hintergrund, bis dann alle Farbensymphonien erwachen, durchgemischt sind und aufklingen zu einem alles übertönenden Akkord in Blau und Schneeweiss und Gold.

Und wie eine sagenhafte helle Marmorburg, hineingehoben in die Dunkel-bläue eines fernen Himmels, sieht das Observatorium vom Säntis herunter.

Wir streben heute den Churfirsten zu. Über Schwendialp und Iltios hinweg. Die Berghäuschen und später die Ställe sind fusstief mit Neuschnee zugedeckt. Die Seehundfelle angeheftet, steigen wir mit langen Schritten empor. Unsere Spuren graben sich in die weisse, geneigte Fläche und reissen das Feld hinter uns aus dem monotonen Gleichmass. Über die Iltiosalp weg ziehen wir durch den Hochwald und streben der Berghütte zu. Wie schön ist so ein Stapfen und Gleiten zwischen den Bäumen. Es nebelt noch ein wenig, und der Wald scheint zu dampfen. Wir sind von Schneekristallen ganz überhaucht, überzuckert. Die Totenstille der schneebelasteten Welt wird nur durchbrochen von den freudigen Rufen, die unsere Entdeckungen jeweils begleiten.

Da führen Wildspuren durch den Tann. Dort ist ein kleiner Wasserfall zu Eis geworden, und Eiszapfen hängen über die Felswand oder bilden eine schimmernde Grotte. Hauchzarte Gewebe aus Schneekristallen schliessen sich um junge Ästchen. Schwere Ballen Schnee drücken wieder ganze Zweige tief zu Boden und wenn unser Fuss dranstreift, rieselt es silbern herab, und die Äste schnellen leicht in die Höhe.

In rassiger Fahrt stieben wir jetzt nacheinander über die Schafböden der C. Hütte zu, in der wir Neujahr zu feiern gedenken. In unserem Rücken streben die Felszacken der Churfirsten hoch —zu unseren Füssen dehnt sich der weisse Wald bis weit ins Tal. Der Abend und die hereinbrechende Nacht da oben auf der Berghütte bleiben ein kostbares Erleben.

In der Hütte prasselt das Feuer. Wir sitzen um den Herd und erzählen von unseren Fahrten. Und Sang und Wort klingen bis tief in die Nacht. Den Übergang vom alten ins neue Jahr knüpft unser Freund mit dem Bergpsalm:

Ehre sei Gott in der Höhe, weil er die Berge so hoch gestellt und damit gab seine Weisheit kund, damit nicht jeder Lumpenhund, mit denen die Erde da drunten so reichlich gesegnet, dem einsamen Wandrer droben begegnet, Ehre sei Gott in der Höhe — Wir treten vor die Tür und lauschen eine Weile, jeder allein mit seinen Gedanken, in das Geflüster der Bergwinternacht hinein. Sie ist voll feinen Singens, diese Nacht; der Wind durchspielt sie, und man hört die Silvester-glockentöne leise aus dem Tiefland heraufschwimmen. Des neuen Jahres heller Morgen findet uns gerüstet zu grosser Wanderfahrt. Klar blitzen unsere Augen den Höhen und Weiten zu. Gestrafft ist unser Körper — unser Wille. Wir starten von der Schwelle des ersten neuen Tages in den reinen Glanz des Bergmorgens hinein. Wir treten die Fahrt mit unseren geliebten Kameraden ringsum an. Treue um Treue. Da drängt sich ein glühender, freudvoller Jauchzer in die Kehle — auf die Lippen.

Unsere Gipfel brennen in den wach gewordenen Tag. Sie verheissen unserer Sehnsucht und unserem Tatendrang neue Erfüllung. So bieten wir in rassigem Schwung dem ersten Tag des Jahres ein sieghaftes Paroli. Und wir geloben, unsere junge, schäumende Kraft mit unseren treuen Kameraden neu zu messen.

Wir erobern uns mit den zwei Brettern an den Füssen, mit Wanderschuh und Kletterseil die Schönheit, die Freiheit und das Unvergängliche.

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