Um Haaresbreite
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Um Haaresbreite

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON ERNST OTTO MARTI, AATHAL

Nicht von meinem Leben, das zwar mehr als einmal nur noch am dünnen Faden hing, sei hier erzählt, sondern von jenem unentbehrlichen Requisit, ohne welches wir uns ja kaum einen Bergsteiger vorstellen können: von einem Rucksack. Angeschafft hatte ich ihn anfangs der dreissiger Jahre, einen Prachtskerl durch und durch, aus grünlichem Ledertuch, mit einem starken Lederboden, einem Traggestell, zwei grossen Innentaschen, drei Aussentaschen, mit Schulterriemen-polster, Riemen zum Aufschnallen von Kletterseil und Steigeisen. Noch heute erfüllt er seinen Zweck vollauf. Durch wieviele schöne, unvergessliche Stunden hat er mich getreu begleitet, im Sommer und im Winter, oft nur für Tage, aber auch wochenlang, in den Voralpen und im Hochgebirge, im heissen Sonnenschein, in kalter, stürmischer Winternacht, stets aufs beste mich unterstützend, obgleich ja ich ihn tragen und schleppen musste! In einem halben Menschenleben hat er es verdient, mein stummer Begleiter, ein « Freund » genannt zu werden.

Am letzten Julisonntag des Schicksalsjahres 1939 stieg ich, während mir das Gros der Bergsteiger schon heimkehrend entgegenkam, mutterseelenallein, aber stillvergnügt über Sämtiseralp und Furgglen nach der Bollenwies, wo ich meinen Bergkameraden, der seit Tagen im Klettergarten der Kreuzberge herumturnte, aber bereits Montag früh wieder an seine Arbeit gehen musste, nicht umstimmen konnte, wenigstens noch einen Tag meiner Kletterleidenschaft zu opfern. So war ich gezwungen, die kommende Ferienwoche ganz allein im Alpstein zu verbringen. Grosse Dinge sollten mir also versagt bleiben, was mir um so schmerzlicher fiel, als die Aussichten auf eine Reihe schöner Tage so viel versprochen hatten.

Ich verbrachte den Abend draussen vor dem neuen Berggasthaus. Die Einsamkeit dieses Sonntag-abends hatte ich nicht zu bereuen: Über dem Fählensee waltete eine tiefe Gottesstille, ein reiner Friede, die mir heute, wo ich das aus meinem Wanderbuch nachschreibe, um so klarer zum Bewusstsein kommen, als wenige Wochen später das fürchterliche Unheil des zweiten Weltkrieges ausbrach. Stille und Friede ringsum umhüllten mich ganz. Leise fiel die Nacht ein, zuerst drunten am langgestreckten Bergsee, an dessen entferntem Ende ein mildes Licht grüsste, droben dann an den steilen Felswänden und zuletzt auch am wolkenlosen Himmel, wo der erste Stern heraustrat und längere Minuten allein hernieder glimmte. Ich horchte auf die nahen und fernen Herdenglocken; nur selten war der ruhige Schritt eines fremden Menschen zu hören. Doch je mehr alle Einzelheiten der Reihe nach in der Dunkelheit untergingen, um so kühler und abweisender wurde es hier draussen. Es zwang mich hinein in die Stube, wo ich mit einigen Touristen bis gegen 10 Uhr plaudernd am Tische sass und dann mein Lager aufsuchte.

In der Nacht, gegen den Morgen hin, erhob sich plötzlich ein heftiger Wind; im kleinen Fenster-ausschnitt gewahrte ich dunkles Gewölk, das den Himmel verfinsterte. Unruhig träumend schlief ich dem Tag entgegen. Wie ich mich aber erhob, sah es ringsum wieder gut aus. So stieg ich denn reichlich früh mit meinem schweren Rucksack gegen den Hundstein hinauf, den ich seit einigen Jahren nicht mehr betreten hatte. Unter den wilden Felsen am Fusse der Widderalpstöcke weideten die Schafe, blökend und unruhig, und das schaffte mir immerhin einige Bedenken, da ich darin kein gutes Omen sah, doch hatte ich die Herde bald hinter mich gebracht. Eine kurze, steile Wegstrecke bereitete mir etwas Mühe, und meine alte Erfahrung belehrte mich aufs neue, dass ich am Morgen wenig zum Klettern aufgelegt und disponiert war. Da der Rucksack meinen Schwerpunkt bedenklich nach hinten verlagerte, atmete ich erleichtert auf, als ich diese Stelle überwunden hatte und, dem schmalen, rot markierten Weglein folgend, sichtlich an Höhe gewann, den See tief unter mir wusste und mit ihm die paar Menschen, von denen ich für lange Stunden keinen mehr erblicken sollte. Um 9 Uhr hatte ich den Gipfel erreicht. Schwarzgefiederte Bergdohlen, die mich hungrig und krächzend umflogen, suchten mir den einsamen Platz streitig zu machen. Ich hielt Lärm und Unruhe nicht lange aus, sondern entschloss mich, die nahe « Freiheit » zu erklettern. Aber dazu kam es nicht.

Auf der schattigen Westseite waren Boden und Gras auffallend nass und schlüpfrig, und im breiten Kamin, der « Hundstein » und « Freiheit » voneinander reisst, traf ich nassen, faulen Schnee an, dem der Sommer noch nicht Meister geworden war. Jäh verwarf ich mein Vorhaben, die « Freiheit » zu besteigen; ich wusste nicht recht warum, wahrscheinlich aber doch, weil ich Bedenken hatte, es allein zu tun. So stieg ich also, zum zweitenmal in meinen Absichten behindert, vorsichtig gegen den Bötzel hinab. An einer kurzen, an und für sich leichten Stelle, wo ich mich rücklings um etwa drei Meter steil hinunterlassen musste, wurde mir der Rucksack ausgesprochen hinderlich. Ich schlüpfte aus dem einen Tragriemen und wollte den Sack vorsichtig abstellen, um ihn nach Möglichkeit an der Hand mitnehmen zu können. So hoffte ich, das kurze Kletterstück besser zu bewältigen, und schon hatte er, immerhin gegen 20 Kilo schwer, den etwas abschüssigen Absatz glücklich erreicht, als er sich gerade in dem Augenblick, wo ich ihn gesichert und in Ruhestellung wähnte, selbständig in Bewegung setzte, sich ganz langsam unter meinen Augen auf seine schwerere Seite legte, um dann -o Einfaltsich kurz nacheinander zwei-, dreimal zu überschlagen, wobei er eine abenteuerliche Reise antrat, vor deren Verlauf und Ende mir graute. Jetzt sprang er, als sei er beflügelt, in hohem Bogen in die Luft, klirrend und lärmend vor hämischer Schadenfreude und mit all seinem Inhalt ein Abschiedstheater aufführend, das mir den Schrecken aus allen Poren jagte, dass ich lächerlich zu schwitzen begann. Und mit der gleichen Unverfrorenheit, wie er sein Unternehmen begonnen hatte, hüpfte er noch einmal in die Luft, bis er ein Erbarmen hatte und um eine Bergnase meinen Augen entkam...

Und ich? Von allen guten Mächten und Geistern zwischen Himmel und Erde scheinbar verraten und verlassen, hing ich bebend am Fels, unfähig, vorerst etwas zu tun. Wie lang das dauerte, weiss ich nicht. Endlich kletterte ich zitternd hinab, erreichte festen Boden, ruhte mich aus, suchte vergeblich das entschwundene Gepäck und verlor mich in die trübsten Befürchtungen, er sei viele Kirchtürme tief unter mir mit all seinen Köstlichkeiten und seinem unentbehrlichen Inhalt an den Bergen zerschellt. Ich musste ja aufs Schlimmste gefasst sein, um so mehr, als ich bald darauf auf eine halb-geleerte Büchse stiess, die obenauf gelegen hatte und deren verstreuten Inhalt ich bruchstückweise auf dem losen Geröll zusammenzulesen versuchte, Bruchstücke eines von fürsorglicher Frauenhand bereiteten, frisch gebackenen Kuchens, den ich in regelmässigen Achtelstücken zuletzt noch oben auf dem leider mangelhaft verschnürten Gepäck versorgt hatte, um mir von Zeit zu Zeit eine Portion munden zu lassen.

Wo aber mochte sich mein Rucksack befinden? Hatte er sich entschlossen, den Weg der « Freiheit » bis an den Fuss der Nordwand einzuschlagen, oder war er in aufrührerischem Galopp über die Felswände gegen das obere Ende der Bötzelalp hinausgeraten? Was dannSo sehr ich nach ihm oder nach einem seiner Überreste ausblickte, nirgends war auch nur die geringste Spur zu erblicken. Was hing nicht alles ab von seinem gänzlichen oder auch nur teilweisen Verlust? Und meine Ferienpläne? Ich hätte heulen oder fluchen mögen - seltsamerweise war ich weder zum einen noch zum andern imstande. Als ich mich eben mit seinem endgültigen Verschwinden abzufinden versuchte und mich damit tröstete, dass ich wenigstens noch meinen Geldbeutel auf mir trüge, einen bedenklich mageren zwar, dass ich aber, immerhin selber heil und ganz, zu Fuss oder mit der Bahn nach Hause zu gelangen vermöchte, mir dabei auch die fragenden Gesichter meiner Lieben vorzustellen begann, das verzeihende und bemitleidende Lächeln der Hauswirtin, da, im nächsten Augenblick nahm ich ihn wahr, ein Dutzend Schritte unter mir, im Steilhang, auf einem nicht einmal quadratmetergrossen Schneefetzen. Ich wagte kaum meinen Augen zu trauen. War er es wirklich? Vorsichtig, gewitzigt durch meine noch nicht einmal viertelstündigen Erfahrungen, pirschte ich mich näher und näher, aber etwa gar nicht wie ein grimmiger Bösewicht, nein, wie ein « Lieber-jelieberhaber », der seine « Angebetete » überraschen will. Wirklich: da lag er, anscheinend unversehrt, heil und ganz! Doch wie viele und wie schwere « innere Verletzungen » mochte er sich zugezogen habenIch hob ihn mit der letzten List eines Käfersammlers auf, packte ihn, rettete mich mit einem kühnen Sprung auf eine weniger gefährliche Stelle; dann drückte ich ihn an mich und verschlang ihn beinahe mit den Augen. Erst jetzt öffnete ich ihn, mit immer noch bangem Herzen.Man denke sich: obschon er doch gegen hundert Meter tief gestürzt war und wohl einige Male hart aufgeschlagen sein musste - alles, rein alles war da und ganz bis auf einige Tomaten, welche die tollkühnen Sprünge nicht überlebt hatten. Die Kleider heil, die Lebensmittel bis auf Kuchen und Tomaten vollzählig; selbst Trinkgeschirr, Kochapparat, eine kleine Glasflasche Tschamba-Fii meldeten sich auf den genauen Appell. Wie glücklich ich ihn auf meinen Rücken lud!

Behutsam, Schritt für Schritt, als wäre ich ein appenzellisches Eiermannli, stieg ich zum Bötzel hinab, mit einem Frohgefühl im Herzen, als hätte ich einen Viertausender bezwungen.

Ist es nicht verständlich, dass ich mich an diesem Tage auf keine grossen Künste mehr einlassen mochte? Ich wandte mich gegen den Bötzelsattel und gelangte, gemütlich vor mich hinsummend, zu den Hütten auf der Widderalp, wo ich blieb. Auf der besonnten Wiese gab ich mich unbeschwert der wohligen Wärme hin und schaute mit zufriedenen Augen hinunter gegen die ausgedehnte Sämtiseralp, hinüber zur Furgglen und Staubernkette. Weit droben auf der Marwies weideten und glöckelten die weissen Berggeissen, während eine wohl gegen sechzig Stück zählende Rinderherde das fette Gras dieses niederschlagsreichen Sommers äste.

Heute, bald dreissig Jahre später, kann ich mich beim Rückblick auf das Erlebnis eines leisen Lächelns nicht erwehren. Aber noch immer mischt sich Freude und Dank in die heimliche Selbst-verspottung, und wenn ich irgend etwas auf der Hausdiele suche, geschieht es selten ohne einen kurzen Blick nach ihm, der dort am Nagel hängt, etwas bergmüd geworden wie ich selber. Zünftige Berg- und Kletterfahrten sind ihm und mir verwehrt, er fristet dort ein beschauliches Leben auf dem Altenteil; noch immer aber besteht zwischen uns eine treue, beinahe menschliche Beziehung, die nie erkalten wird.

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