Val Mora
VON S. WIELAND, ST. MORITZ
Mit 5 Bildern ( 38-42 ) Bei Buffalora an der Ofenbergstrasse öffnet sich das Tal der Ova dal Fuorn, bevor es bei der um 200 Meter höher gelegenen Passhöhe seinen Abschluss findet. Rechts der Strasse laden die grünen Weiden der Zernezer Alpen, welche das Kloster in Müstair anno 1577 an Zernez verkaufte, zu einem Ausflug ein, der den Wanderer auf wenig begangenen Pfaden ins Münstertal hinüberführt. Der Name « Buffalora » ist neueren Ursprungs und wurde sehr wahrscheinlich aus dem nahen Italien eingeführt. Früher hiess sie Alp « Arsura », was sicher auf die Gewinnung von Holz zur Betreibung des Schmelzofens von Il Fuorn schliessen lässt, wurde doch dort das in Buffalora und Umgebung zutage geförderte Eisen eingeschmolzen. Dieses Eisenbergwerk, genannt zu Valdera ( Ofenberg ), gehörte bis 1332 zum Bistum Chur. In diesem Jahr aber verlieh es König Heinrich von Polen an Conraden und Ulrichen Planta mit allen dazugehörigen Rechten. Die Vögte von Matsch verliehen es dann um 1347 dem Ritter Ulrich Planta. Da sich das Bistum dieser und ähnlicher Gewaltakte nicht erwehren konnte, hatten die Herren von Matsch und Reichenburg Veranlassung genug, sich im Münstertal einzunisten und gegen das Bistum, das Kloster sowie gegen Private aggressiv zu werden.
Heute schmücken saftige Alpweiden diese schon im Mittelalter wirtschaftlich erschlossene Gegend, und nichts erinnert mehr an die längst vergessenen Zwistigkeiten.
Südwärts wandernd, an den Alphütten vorbei und, durch ein lichtes Wäldchen ansteigend, gelangt man alsbald auf die Ebene von Jufplaun. Beim stattlichen Grenzerhaus, umgeben von ländlicher Ruhe, wird Rast gemacht. Ab und zu verrät der schrille Pfiff eines wachsamen Murmeltiers, dass es mit flinken Äuglein das Geschehen scharf beobachtet. Fröhliches Herdengeläut belebt dieses Bergidyll; fast könnte es dem Naturfreund schwerfallen, von diesem einsamen Flecken zu scheiden. Bald ist der flache Übergang zum Val Mora geschafft. Eine reichhaltige Alpenflora ziert die Weiden. Es ist eine Freude zu sehen, wie sich hier die unzähligen Arten von bunten Blumen und Blümchen in ihrer ganzen Pracht entfalten. Ein Beweis dafür, dass hier der grosse Touristenverkehr mit all seinen erfreulichen und unerfreulichen Errungenschaften kaum ernsthaft in Erscheinung tritt, sind die zahlreichen Edelweisse, die ungestört ihre zarten Blüten dem Lichte zuwenden.
Bevor der kurze Abstieg ins Tal beginnt, gilt es noch einen Blick in die Runde zu werfen. Nordwestlich von dem leicht erhöhten Aussichtspunkt liegen die grossen Wälder des Nationalparkes. Zu Füssen, in östlicher Richtung, entfaltet sich das lange Val Mora, im Süden begrenzt durch eine Reihe stolzer Gipfel mit steilen Wänden, von denen sich einige kleine Seitentäler herunterziehen. Nach Norden schliesslich ist es durch lange, zum Teil recht kühne Höhenzüge vom Münstertal getrennt. Der natürliche Ausgang des Tales führt in breitem Bogen nach Südwesten ins italienische Val del Gallo hinunter. Diesen Weg legt auch der Talbach Aua da Val Mora zurück. Etwas entfernt, im Osten, liegen die Höhen von Dössradond, wo das Tal seinen Anfang nimmt. Diese Höhen bilden zugleich die Wasserscheide zwischen dem Schwarzen und dem Adriatischen Meer. Die Aua S Die Alpea — 1968 -Les Alpes65 da Val Mora fliesst nämlich, wie bereits angedeutet, in italienisches Gebiet ab, erreicht bei Punt dal Gall den Spöl, tritt mit diesem wieder in die Schweiz ein und gelangt via Inn und Donau in das Schwarze Meer. Die Aua da Vau aber fliesst in entgegengesetzter Richtung, ins Münstertal hinunter, und wird mit dem Rom, der Etsch und später der Adige den südlichen Gestaden zugeführt. Bei Chioggia findet dann diese Reise ihr Ende im Adriatischen Meer. Diese beiden Wasser durcheilen verschiedene Länder mit ebenso verschiedenen Völkerstämmen und finden schliesslich an zwei weit auseinanderliegenden Punkten ihre Bestimmung in der Unendlichkeit der Meere. Im Tale selbst liegen die Alpen der Gemeinde Müstair, nämlich Alp Mora und Alp Sprella, beide inmitten dunkler Fichtenwälder. Die ganze Beschaffenheit des Tales, vor allem aber die platt-geschliffenen Hügel bei der Wasserscheide, lassen auf das Wirken eines mächtigen Gletschers schliessen, der sich heute nur mehr an vereinzelten Stellen in den Nordflanken der südlichen Grenzberge halten kann und sich vielleicht in einem letzten Aufbäumen vor dem endgültigen Untergang zu retten versucht.
Mühelos ist der Abstieg zur Alp Mora. An ihrem südlichen Ende wurde am Nordhang des Piz Mon'Ata anno 1930 ein Bronzemesser, das aus der Urnenfelder-Zeit ( etwa 1100-750 v.Chr. ) stammt, aufgefunden. Ein Tal also, das bereits von den Ureinwohnern erschlossen wurde. Zwischen den beiden Alpen liegt ein kleines Wäldchen, das rasch durchquert ist. Nach einem Wiederanstieg von wenigen Minuten sind die Gebäude der Alp Sprella erreicht. Wer Zeit und Musse hat, die Eigenart und Abgeschiedenheit dieser Alpenwelt auf sich wirken zu lassen, könnte diese ruhigen Älpler, weitab vom Lärm modernen Lebens, um ihr karges und bescheidenes Dasein beneiden. Nach Sprella führt der Weg der linken Seite des Wassers entlang. Es ist die alte Transitstrasse, die von Sta. Maria durch das Val Mora nach San Giacomo di Fraéle führt, ein im Altertum häufig benutzter Saumweg, der vor allem im Winter dem um 300 Meter höher gelegenen Umbrailpass, auch Wormserjoch genannt, vorgezogen wurde. Das Holz, das an die Öfen von Bormio ging, erreichte über diesen alten Übergang sein Ziel. Die Geschichtsschreiber wollen sogar von einem militärischen Durchmarsch wissen. Das war während der Zeit des Schwaben- oder Engadinerkrieges, als es die Kaiserlichen gelüstete, für die an der Calven so schmählich erlittene Niederlage Rache an den Bündnern zu nehmen. Ihrer 12000 zogen auf Befehl des Kaisers durchs Val Mora nach San Giacomo di Fraéle und weiter nach Livigno. Über den schwach besetzten Casannapass -Pass Chaschauna - drangen sie nach S-chanf vor. Der überaus lange und schwierige Marsch sowie akuter Nahrungsmangel zehrten stark an ihren Kräften, und als sie im Engadin ankamen, wurden nur mehr abgebrannte, leere Dörfer vorgefunden, da sich die Bevölkerung auf diese Art dem Zugriff dieser Übermacht entzog. So mussten die Rächer halbverhungert und unverrichteterdinge den Rückzug über den Ofenpass antreten. Die Waffenfunde bei Cruschetta, zuunterst im Val Mora, dürften stumme Zeugen aus dieser für Land und Volk so schweren Zeit sein.
Auch wie das Val Mora in den Besitz derer von Müstair gelangte, soll hier kurz Erwähnung finden. Es wird erstmals in der Schenkungsurkunde von 1170 des Bischofs Egino zu Chur genannt. Darin wird die « alpis maior » ( wohl die heutige Alp Clastras ) nebst andern bedeutenden Grundbesitzen im Münstertal und im Südtirol dem Kloster zu Müstair zur eigenen Verwaltung übergeben. Infolge Uneinigkeiten der Talbewohner unter sich und mit dem Kloster wegen Nutzung und Abgrenzung der Alpen wurde 1466 die erste Alpteilung vorgenommen. Sta. Maria erhielt die Alpen im Val Muraunza; Müstair und Valchava wurden die zwei inneren Alpen im Val Mora zugeteilt, die diese von den Bormsern gekauft hatten. Bei der zweiten Alpteilung im Jahre 1556 erhielt Valchava die Alpen Stablinas und Champatsch zuerkannt, was zur Folge hatte, dass nun sämtliche Alpen im Val Mora denen zu Müstair gehörten. Wohl gab es noch einigen Hader über Weiderecht und Grenzverläufe, doch blieben die genannten Alpverhältnisse, wenigstens was das Val Mora betrifft, bis in die heutige Zeit wegleitend.
Gegenüber öffnet sich nun das Val da Tea Fondada, zu deutsch: das Tal der versunkenen Alphütte. Die Sage berichtet, dass hier am Weg zur Lombardei, am Eingang dieses Nebentales, einst eine schöne Alp gelegen habe. Eines Abends habe ein alter, müder Mann um Mahlzeit und Nachtlager gebeten; der böse Senn aber habe ihn vertrieben und zur Strafe dafür sei in der folgenden Nacht die ganze Alp in einem tiefen Schlund versunken. An ihrer Stelle befinde sich heute ein kleines Seelein, und rundherum wachse nur saures Gras.
Nun aber wieder zurück in die Gegenwart! Kurz vor La Stretta führt der Weg auf die Alp Praveder hinüber, die heute noch Eigentum des Klosters ist. Bei La Stretta selbst steht ein heimeliges Hüttchen, das eine ideale Basis für ein mehrtägiges Ferienunternehmen darstellt. Das ganze Tal bietet abwechslungsreiche Wanderungen sowie einige sehr lohnende Bergfahrten von verschiedener Schwierigkeit: der Piz Schumbraida, 3124 Meter, ist ein grossartiges Ausflugsziel mit wunderbarem Tief blick zur Südseite hinunter. Aber auch die Fernsicht, von den Ötztaler Alpen bis zum Ortler hinüber, ist einzigartig. Die Hügel bei Dössradond bilden mit 2234 Meter den höchsten Punkt der Talsohle.Von hier geht es den breiten Weg zu den Gebäuden der Alp Praveder und ins Val Vau hinab. Bei den Alphütten besagt ein Wegweiser, dass man von hier zum Lai da Rims hinaufsteigen kann, zum vielbewunderten, tiefblauen Bergsee inmitten eines Kranzes kühner Gipfel mit zerklüfteten Graten, die sich in windstillen Stunden in seinem Wasser widerspiegeln, als wollten sie sich selbst von ihrer Erhabenheit überzeugen. Seine Wasser stürzen sich in ungestümer Wildheit und mit gewaltigem Tosen über hohe Fälle zu Tal. Mit lockendem Gebrause drängen sie sich dem vorbeiziehenden Wanderer ans Ohr, ihm gleichsam von ihrem kristallklaren Wasser erzählend, das von einer bizarren Gebirgslandschaft umrahmt und behütet wird. Auch von diesem See gibt es eine kleine Episode zu erzählen: Es war um das Jahr 1552 herum, als es den Gotteshausleuten des Münstertales in den Sinn kam, den See hinter dem Rücken des Eigentümers, des Klosters zu Müstair, an das stolze Schloss Rotund oberhalb Taufers zu verkaufen. Der Erlös sollte zugunsten armer Leute im Tale verwendet werden. Die Tagsatzung in Zuoz entschied im Jahre 1553 aber anders. Der Handel wurde rückgängig gemacht und als ungültig erklärt. Im weiteren lautete der Entscheid dahin, dass der See für immer dem Kloster gehören solle, dies ohne jegliche Einschränkung seitens der Talgemeinden. Das Kloster musste für seinen Rechtsanspruch den ansehnlichen Betrag von 60 Gulden bezahlen.
Riesige Gesteinsmassen unterhalb Praveder zeugen von einem grossen Felsabbruch, der aber schon Jahrtausende zurückliegen dürfte. Die enormen Schuttablagerungen beim ausgetrockneten Bachbett vor Las Clastras erzählen vom Niedergang reissender Rufen und Lawinen. Das bei Dössradond noch breite Gebirgstal verwandelt sich immer mehr in ein V-förmiges Flusstal, dessen Flanken ständig zusammenrücken. Die Wiese in Vau - Pra da Vau - ist das letzte breitere Gelände in diesem Tal; danach lehnt sich die Strasse mehr und mehr an das Bachbett an. Grosse Schutt-und Geröllhaufen lassen ahnen, dass dieser harmlose Bach sich in einen alles zerstörenden Wildbach verwandeln kann. Wenn die schweren Gewitter niedergehen, wälzen sich gewaltige dunkle Wasser dem Tale zu. Wuhre und Stützmauern wurden errichtet, um Weg und Steg vor Vernichtung zu schützen und die gigantischen Naturgewalten in die Schranken zu weisen, gewiss auch im heutigen Zeitalter noch ein oft Ungewisses Unterfangen. Grüne Laubbäume biegen sich im frischen Talwind, und Sta. Maria ist nun schnell erreicht.
Für die ganze Wanderung benötigt man sechs bis sieben Stunden. Wer die Einsamkeit und die Stille in der Natur sucht, wird vollauf auf seine Rechnung kommen und für seine Mühe reichlich belohnt werden. Der Wechsel von den alpinen Hochebenen bei Jufplaun zum stillen, von breiten Eisströmen geprägten Val Mora und von da zum eng abfallenden Val Vau ist einzigartig, und die Übergänge vom herben Gebirgsklima in die geographisch südlich geprägte Zone des unteren Val Müstair sind herrliche Kostproben der Mannigfaltigkeit und Vielfalt unserer wunderbaren Heimat.