Vom Säntis
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Vom Säntis

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON E. ALTHERR-WALDER, ZÜRICH

Mit 2 Bildern ( 6/7 ) Seitdem man, mit den nötigen Personenwagen-PS ausgerüstet, spielend und auf besten Strassen-belägen die Schwägalp und damit die Talstation der Säntis-Schwebebahn erreichen kann, um anschliessend in 12 Minuten mühelos zum 2500 m hohen Säntisgipfel hinaufgeseilt zu werden, muss man sich fragen, ob es sich lohnt, über eine geruhsame Säntiswanderung zu schreiben. Man wird ja heute verwöhnt durch die Schilderung von Erlebnissen nervenkitzelnder Art in den Ost- und Nordwänden unserer Alpen oder von Expeditionen mit alpinistischen Höchstleistungen im Himalayagebirge. Doch glückliche Besitzer gesunder Glieder und eines nicht managerkranken Herzens werden auch im Zeitalter des Motors die Fusstour vorziehen.

Etwas, das mich, wie wohl alle Berggänger, immer wieder auf Bergtouren beschäftigt, ist der Gedanke, wie alles gewesen sein mag im früheren Jahrhundert. Wie gestaltete sich z.B. so eine Säntisbesteigung, als das Eisenbahnnetz noch nicht ausgebaut war und die Anmarschrouten allein schon grosse Marschleistungen erforderten, als noch keine Berggasthäuser bestanden mit Unterkunftsund Verpflegungsmöglichkeiten, die heute bekannten Routen noch nicht erschlossen waren und Wege und Wegweiser fehlten? Von guten Kartenwerken, Höhenmessern und Taschenkompassen gar nicht zu reden!

So möchte ich versuchen, eine Säntiswanderung von heute zu beschreiben und dabei Vergleiche anzubringen aus einer Säntisreiseschilderung von Anno 1803. Man ersieht aus diesen 160jährigen Aufzeichnungen eines Dr. Caspar Zollinger, dass damals eine Säntisbesteigung noch etwas Ausserordentliches war und in strenger Ehrfurcht vor den Bergen und ihren Gefahren entsprechend geschildert wurde.

Wenn man heute von Weissbad aus zum Säntis gelangen will, braucht man kaum mehr vorher den Säntis-Klubführer oder die Säntis-Karte zu studieren. Man kann sich auf gut angelegte Wege, auf Wegweiser und durch farbige Kennzeichen markierte Pfade verlassen. Diese Markierungen sind schon beim Bahnhof Weissbad auf einer grossen Orientierungstafel für jeden Touristen ersichtlich, so dass er sich gleich an einen der vielen Wege halten kann. Auf dieser Tafel sind auch die Berggasthäuser deutlich genug vermerkt, die auch nicht allzuweit voneinander entfernt sind, so dass, wer nicht allzusehr auf die Ausgaben achten muss oder nur das Allernotwendigste im Rucksack nachschleppen will, reichlich Gelegenheit findet, sich zu verpflegen. Vielfach wird der Umstand, dass in diesen Höhen unerwartet tückische Wetterumschläge eintreten können, nicht beachtet, und das Gepäck beschränkt sich oft auf eine Lunchtasche.

Anders war es vor 150 Jahren. Der Chronist Dr. Caspar Zollinger, der mit zwei Gefährten und einem Führer ebenfalls von Weissbad aus startete, schrieb:

« Wer also die Beschwerlichkeiten einer Bergreise nicht scheut, und seines Kopfes sicher ist, der nehme seinen Bergstab und folge mir! » Heute verlassen wir Weissbad auf guter Strasse, wo uns bald schon ein Wegweiser auf einen durch saftige, blumenreiche Weiden führenden Wiesenweg lenkt. Nach einer knappen Stunde schon gelangen wir zu einem bescheidenen Wirtshaus auf der Eugst, dem « Ruhsitz », der im Verlauf des Nachmittags von den Sonntagsspaziergängern bevölkert wird. Dort, wo der Weg nach der Ebenalp abzweigt, gehen wir links der Felswand entgegen und erreichen so nach einer weiteren Stunde das an die überhängende Wand geklebte Wildkirchlein und das Gasthaus Äscher.

Vom « Äscher » schreibt der Chronist:

« So gelangt man bis zum Scheidepunkt, wo ein Weg rechts sich trennt, und in die Felsen gehauen, über ein schmales Brückchen, nach dem Wildkirchlein führt. Gleich hinter dieser Stelle, in einem Winkel, der durch die Felswand gebildet wird, liegt ein Raum, kaum einige Klafter gross, der Äscher genannt, grösstenteils mit den Trümmern heruntergestürzter Felsmassen bedeckt.Hier stand vor wenigen Tagen noch eine niedere, enge Hütte, der Aufenthalt einer zahlreichen, dürftigen Familie, die sich aus dem Ertrag einiger Kühe, die an dieser Bergseite weideten, ernährte. Aber auch bis an die Alpen verfolgt den Menschen das Unglück! Eine ihrer Kühe verfiel, nach dem Ausdruck der Hirten, d. i. sie stürzte todt über einen Abgrund hinunter; ein Unglücksfall, der alle Jahre mehreren Stück Vieh begegnet. Der Hausvater, um das Fleisch zu benutzen, zerschnitt es in grosse Stücke, brachte es in seine Hütte und suchte es am angezündeten Feuer zuräuchern und zu dörren. Mittlerweile verliess er die Hütte wieder, um in der Ferne mit der Heuernte sich zu beschäftigen, und übergab die Aufsicht des Feuers und die Sorge für das weidende Vieh einem seiner Kleinen. Dieser, nur mit letzterem beschäftigt, sah auf einmal Flamme und Rauch aus der Hütte hervorbrechen; er eilte hinzu, aber schon hatte das Feuer alle Seiten der Hütte gepackt, und er konnte nicht mehr zur Türe hereindringen, um etwas zu retten. Drinnen hörte er das Winseln seines kaum jährigen Bruders, und schnell entschlossen steigt er durch das Fenster herein, und - rettet jenen durch dieses, er selbst, nur ein achtjähriger Bube! Bald darauf ist die Hütte in einen Aschen- und Steinhaufen verwandelt. Ein Zug, der nebst vielen andern beweisst, dass das Alpenleben Kinder schon an kühne Unternehmen in Gefahr und kaltblütige Entschlossenheit gewöhne. » Wir heutigen Wanderer besuchen noch die Wildkirchlihöhle und fassen bei einem Glas Milch in der Wildkirchliwirtschaft den Vorsatz, bei nächster Gelegenheit das Heimatmuseum der Stadt St. Gallen zu besuchen, um das Höhlenbärenskelett sowie andere Zeugen tierischer und menschlicher Bewohner der Wildkirchlihöhle aus der Steinzeit zu besichtigen. Nach einer weiteren Stunde gelangen wir auf gutem Weg der Äscherwand entlang zur Altenalp mit herrlicher Aussicht auf den tief unten liegenden, grünschimmernden Seealpsee.

Der Chronist schreibt über dieses Wegstück:

« Unser Weg führte uns längs der Felsenwand nach Altenalp. Zuerst ist es ein ebener Pfad; dann aber verliert sich dieser, und nur noch hie und da ein Fusstritt zeigt, dass Menschen hier wandeln. Am Rande des Abgrundes, den Seealpersee immer in schwindelnder Tiefe unter sich, tritt man bald auf schräg gegen den Abgrund sich neigende Steinplatten, bald in die vom Regen ausgehöhlten Risse und Löcher des Felsens, und so gelangt man endlich nach einer halben Stunde mühseligen Marsches nach Altenalp. » Die Altenalp ist noch nicht bestossen. Vor der geschlossenen Hütte zeigen herumliegende Plastiksäcke, Orangenschalen, ein Papierlunchsack und ein halbverdorrter Blumenstrauss an, dass vor kurzem hier Leute zum Picknick sich niederliessen. Sonderbar, dass unartige, nicht an Sauberkeit gewöhnte Menschen auch auf die Berge steigen. Sie sollten im Tal bleibenWir wenden uns von der Altenalp westwärts Richtung Steckenberg, um dann auf wenig begangenem Pfad durch unwegsames Geröll die vordere Wagenlücke zu erreichen. Rechts recken sich die Altenalptürme dolo-mitenähnlich in den Himmel, und, nach links uns wendend, gelangen wir in die vordere Öhrligrub. Zwischen Geröll und haushohen Blöcken, zum Teil Zeugen geologischer Vorgänge in grauer Vorzeit, steigt der gut markierte Weg hinan zum Öhrlisattel. Wir lassen es uns nicht nehmen, dem Öhrli einen Besuch zu machen. Kaum 100 m leichte Kletterei, vom Grat weg, werden mehr als belohnt mit einem Blick auf die im Norden fast 1000 m tiefer gelegene Potersalp und einer Fernsicht bis zum Bodensee und darüber hinaus. Zurück zum Öhrlisattel und auf teilweise mit einem Drahtseil gesicherten Weg gelangen wir zum Hochniederesattel. Von hier aus wäre in ca. 2 Stunden unser Ziel, der Säntis, erreicht, wenn man den heute bestehenden normalen Weg benützen würde. Wir folgen aber dem Chronisten Zollinger, dem damals noch keine Route über den Blauschnee offenstand. Er schreibt angesichts der Hütten vom obern Messmer:

« Bald entdeckten wir nun die Feuer von den Hütten des obern Messmers und erreichten sie endlich nach einem 6-stündigem Marsch vom Weissbade unter fröhlichen Zurufen der Hirten und ihren freundlichen Händedrücken. Kaum waren wir in die Hütte getreten, in der wir zu übernachten gedachten, so bereitete uns der Eigenthümer, ein junger flinker Alpensohn, mit der diesem Volke eignen feinen Physionomie, in gastfreundlicher Eile warme Milch und die sogenannte Rahmzonne, ein Gericht aus Rahm, Mehl und Butter, das in diesen Alpen als der Triumph der Kochkunst angesehen wird. Sodann war die Lagerstätte, ein Haufe Alpenheu aus gedörrten aromatischen Kräutern und Blumen bestehend, zugerüstet, und nach unterhaltenden Gesprächen über die sichere und friedliche Wirthschaft der Hirten in diesen Gebirgen, und die unsichere und feindliche Wirthschaft der Mächtigen der Erde, ward sie uns mit der ganzen Hütte zur Ruhe überlassen, und der Besitzer suchte in einer andern sein Nachtlager. » Heute gelangt man zum Gasthaus Messmer, welches von Weissbad aus gut erreichbar ist, am herrlichen Seealpsee vorbei undzuletzt auf steilem Weg. Man kann da gutes Nachtlager und beste Verpflegung finden. Vom « Messmer » aus kann man über die Fehlenalp zur hintern Wagenlücke aufsteigen und diese in zwei Stunden erreichen. Bis dorthin trifft man vom Frühsommer bis in den Herbst hinein kaum Schnee an. Das Zurückweichen der Gletscher und das Höhersteigen der Schneegrenze machte sich auch hier bemerkbar. Grünbewachsene Moränenkämme und vereinzelt an den Felsen erkennbare Gletscherschliffe lassen noch ahnen, wie es früher ausgesehen haben mag. Der Chronist schreibt über den Weg vom « Messmer » zur hintern Wagenlücke: « Zuerst ging der Weg über losgerissene Felsenstücke und Steinmassen, womit die Alpen des Messmers vorzüglich häufig bedeckt sind, und die von grossen gewaltsamen Zerrüttungen auf diesem Gebirge zeugen; zwischen denen aber die schönsten Alpengewächse in üppiger Fülle sich hervordrängten. Dann gelangt man zu zwey elenden Hütten, auf den Sprüngen genannt, wo der Boden nur noch wenige Gewächse hervorbringen kann, und wo ganz in der Nähe die ewigen Schnee-und Eisfelder, die sich gegen den Säntis ziehen, beginnen. Gleich neben diesen Hütten hebt eine solche Schneewand an, die beynahe perpendikular emporsteigt, und die daher nur in diagonaler Richtung erstiegen werden kann. Wir liessen unsere Gefährten voran, um uns einen Pfad in den Schnee zu bahnen; aber da der Schnee noch hart und gefroren war, konnten sie nur kleine Tritte in denselben eindrücken, und jeder musste suchen, so gut er konnte, seinen Fuss in dieselben zu setzen, und sich mit dem Bergstock zu unterstützen, um nicht in den Abgrund herunter zu gleiten. Mit vieler Anstrengung erreichten wir endlich den Grath, da, wo er einen Einschnitt in die Gebirgsmasse, die den Messmer von Mäglisalp trennt, bildet, und der von den Sennen die hintere Wagenlücke genannt wird. Auf dieser Stelle hat man einen furchtbar imponierenden Anblick: vor sich und hinter sich sind Abgründe, die mit Schnee aufgefüllt und bekleidet sind; von allen Seiten zeigen sich nur Spuren der erstorbenen Natur, und man glaubte sich auf einmal unter den erstarrten Nordpol und in die schreckbaren Wildnisse des mitternächtlichen Spitzbergens versetzt. » Bei der Wagenlücke trifft man auf den Weg, welcher von der Meglisalp zum Säntis führt und den schon unzählige Schüler auf ihrer Reise unter munterem Gespräch gegangen sind. Dieser Weg verbindet in drei Marschstunden das grosse Gasthaus auf Meglisalp und das ebenso geräumige auf dem Säntis. Er ist der bestangelegte und bequemste von den verschiedenen Wegen zum Säntisgipfel. Um die vorletzte Jahrhundertwende schrieb Caspar Zollinger über diesen Weg: « Noch trennte ein stundenlanges, immer höher steigendes und zu beyden Seiten von Klippen eingeschlossenes Schneefeld uns von der kleinen Fläche, die die Spitze bildet. Wer beschreibt nun den majestätischen Blick, der sich hier von allen Seiten eröffnet? wer misst den Horizont, der sich in dunkler Ferne ausbreitet und verliert? wer nennt die Gebirge und Gegenden alle, die sich hier wie von einer Karte entrollen? wer kennt die Namen des bunten Gewühls von Städten, Dörfern und Schlössern, die das Auge auf sich ziehen? wer schildert den Eindruck dieses bezaubernden Anblicks auf ein für Naturschönheiten empfängliches Gemüth? und welche Sprache hat Ausdrücke und Bilder genug, um ihn würdig wiederzugeben? » Wir aber, die wir heute bei sonnigem Wetter den Gipfel des Säntis erreichen, werden die geräumige Gaststube und das Dutzend Tische im Freien voll besetzt finden. Eine Menge Leute, Vereine und Gesellschaften, mit der Säntisschwebebahn im Nu von der Schwägalp aus hinaufgehisst, bevölkern den spärlichen Platz auf dem Gipfel, der neben dem Windmesserhäuschen der Säntiswetterwarte noch frei ist. Alle Sprachen sind zu hören, wobei diejenige unserer nördlichen Nachbarn meistens vorherrscht. Erst am späten Nachmittag, wenn die letzten Kabinen zu Tal schweben und den Anschluss an die Postkurse vermitteln, wird es stiller. Zurück bleiben, neben vereinzelten hier Heilung suchenden Keuchhustenkindern, Touristen, die sich, in Gruppen zusammensitzend, über die gelungene Tour und ihre Fortsetzung am folgenden Tage unterhalten. Wir erwerben das für wenige Franken erhältliche, von Prof. Alb. Heim 1871 gezeichnete Säntis-Panorama. Hat man Glück, bei guter Fernsicht auf dem eisernen Bänklein auf dem Säntisgipfel zu sitzen, wenn der Fremdenstrom abgezogen ist, dann nehme man dieses Panorama zur Hand und schaue sich um. Man begreift dann, dass der Chronist schon vor 150 Jahren nicht genug Worte und Bilder zu finden glaubte, die Eindrücke wiederzugeben. Und wie glücklich fühlt man sich dabei, auch dem Lärm, der Unruhe und Hast der Stadt entronnen zu sein! Wird froh und innerlich zufrieden im Gefühl, auf freiem, selbst erwandertem Gipfel zu sitzen, reicher geworden durch das Erlebnis der Natur, die uns sagt, wie klein wir innerhalb dem gesamten Grossen sind und deshalb bescheiden bleiben sollen.

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