Von Elm nach Vättis über den Muttenthalergrat
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Von Elm nach Vättis über den Muttenthalergrat

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Tob Pfr. P. H. Kind ( Section Tödi ).

Von Elm nach Vättis über den Muttenthalergrat Schon manches Jahr hatte ich im Plan, von Elm aus in 's Kalfeuserthal hinüberzusteigen. Hatte doch dieses zwischen seinen gewaltigen Bergen, Gletschern und wilden Schluchten verlorene Thal in seiner geheimnißvollen Abgeschlossenheit von jeher eine besondere Anziehungskraft für mich! Wer einmal in dem fürchterlichen Schlünde der Taminaschlucht hinter dem Pfäverserbad gewesen ist, dem drängt sich unwillkürlich die Vorstellung auf, es müsse hinter derselben nicht minder schrecklich aussehen; man denkt sich, die junge Tamina komme aus einem wahren Thal der Schrecken hervor. Und wahrlich, wer hinter Vättis in das Kalfeuserthal eindringt, wird diese Erwartung nicht getäuscht finden!

Schon einmal, 1885, war ich der Erfüllung meines Wunsches nahe, als ich eine officielle Excursion der Section Tödi auf den Piz Segnes ( 3102 m ) mitmachte. Wir beabsichtigten nämlich, über den Sardonafirn in den Hintergrund des Kalfeuserthales hinunterzusteigen und nach Vättis hinauszuwandern. Allein auf der Höhe des Segnes empfing uns ein rasender Sturm und das ganze Gebirge war in wogende Nebel ge hüllt, die nur zuweilen vom Winde auseinander gerissen wurden und dann einen kurzen Blick in die Tiefe von Kalfeusen gestatteten. Unter diesen Umständen und weil ohnedies ein Mitglied der Partie nach Flims wollte und auch die Führer sehr wenig „ Schneid " für den Abstieg über den Sardonafirn zeigten, standen wir von demselben ab.

Seitdem war ich entschlossen, es einmal und zwar ohne Führer mit dem Uebergang über den Muttenthalergrat zu versuchen. Die Ausführung des Entschlusses verzog sich aber von Jahr zu Jahr, bis das Erscheinen der Clubkarte für 1888/89, die ja wenigstens ein Stück des Kalfeuserthales enthält, einen neues Anstoß zur Verwirklichung des Planes gab. Denn mit Blatt 407 S. ( Elm ) und der Excursionskarte in der Hand konnte nunmehr die Reise gewagt werden.

Ich gewann dafür zwei junge, liebenswürdige Begleiter, die nur den Fehler hatten, daß sie dem durch mich vertretenen Alter etwas mangelhaften Respect erwiesen. Aber wie selten wird doch die natürliche, vernünftige und einzig kameradschaftliche Regel be- folgt, daß eine Gesellschaft von Reisenden sich nach dem Schwächern richten muß, der langsamer geht!

Wir trafen uns am Abend des 2. September im Elmer'schen Gasthaus zu Elm ( 982 m ). Der Abend war wundervoll und föhnwarm. In der Nacht aber brach ein Gewitter los, und um die Stunde, da wir aufbrechen wollten, goß der Regen in Strömen. Es schien, als ob überhaupt nichts aus der Wanderung werden sollte. Doch wider Erwarten hörte der Regen

auf, und, war auch der Himmel ganz bedeckt und das Wetter sehr zweifelhaft — um G14 Uhr marschirten wir über das Trümmerfeld des 4Unterthales getrost der Ramineralp zu, entschlossen, lieber eine Tracht Regen über uns ergehen zu lassen, als wieder umzukehren. Kothig, namentlich in diesem regenreichen Sommer, aber dennoch erquicklich ist der Weg unter dem grünen Laub- und Nadeldach des Camperduner-und Raminerwaldes, im Schatten dieser würdigen Vertreter der edlen Geschlechter des Ahorns und der Tanne, mit dem Blicke auf die tiefe Schlucht des Raminerbaches und auf die ungeheuren, dunkeln Wände des Segnes, Saurenstockes und der Scheibe. Aber merkwürdig still ist 's. Kaum vernimmt man hie und da den Laut eines Vögeleins. Nur einmal höre ich plötzlich schweren Flügelschlag, ohne jedoch etwas zu sehen. Es war wohl ein Birkhuhn, das wir überraschten und zur Flucht trieben. Bei den Waldhütten ( 1406 m ) wählten wir den Fußweg, der über der Hütte in die Höhe führt. Er bringt uns auf ganz schmalem, nur fußbreitem Pfade über eine glatt ausgewaschene, Itöchst interessante Schieferschlucht, durch die ein Bach, sich immer tiefer in das weiche Gestein ein-fressend, abstürzt. Am mittleren Stafel von Ramin ( 1752 mj, im Angesicht des firngekrönten Massivs des Segnes und Saurenstocks, mit dem Blick auf die abenteuerlichen Zacken der Tschingelhörner, auf die blendend weiße, ebene Fläche des Bündnerfirns, auf die mächtigen Gestalten des Vorab und des Haus-Stocks, gönnen wir uns am 9 Uhr den ersten Halt nebst Frühstück auf dem Dach der Hütte. Mehrmals ertönen in den Wänden des Saurenstockes Schüsse^ denn eben ist die hohe Jagd eröffnet worden. Vom oberen Stafel, Matt, aus erblicken wir auf einer Anhöhe unter dem Foostöckli zwei wandelnde Gestalten,, offenbar zwei Jäger auf der Pirsch. Steil geht 's nun hinan zum Foopaß, auf dessen Höhe wir bei Punkt 2222 m, den ein Steinmann ziert, um 11 Uhr stehen. Doch ohne Aufenthalt eilen wir hinab über die Matten des Heidel dem Punkte zu, wo das Muttenthal auf die obere Fooalp mündet. Auf der Karte-sehen wir, daß wir das Vergnügen haben werden,, bis auf 1880 m hinunterzusteigen, um dann durch'a Mnttenthal und Haibützli wieder bis 2500 m hinaufzusteigen. Ich gestehe, daß mir das nicht mehr recht in den Kopf wollte, um so mehr, als es schon ziemlich spät, Vättis weit, der Weg unbekannt war, da » Muttenthal, das in gerader perspecti vi scher Verkürzung: vor uns lag, gar steil and unwirthlich aussah, und sich überall um die Gräte und Gipfel verdächtige-Nebel zn legen begannen, die uns unter Umständen ganz einhüllen und irreführen konnten. Besignirt und schwankenden Gemüthes setzten wir uns um 12 Uhr zwischen zwei rauschenden Bächen zum Mittags^ mahl; links hatten wir die Hütten der oberen Fooalp; vor uns verschwand der Bach in einer engen,* finsteren Schieferschlucht, durch die der Weg nach Weißtannen führt; rechts, hoch über der Schlucht,, auf den freien, kräuterreichen Höhen von Scheibs,. zeichneten sich am grauen Himmel die Gestalten weidender Kühe. Schon neigte sich in unserer Seele-.das Zünglein, der Waage nach Weißtannen zu, womit - c "

das Kalfeuserthal wieder aufgegeben worden wäre, da erschien als Retter in der Verlegenheit ein biederer Weißtanner, der eine Kuh zu den Hütten trieb. Gemütlich kam er, von uns angerufen, näher, hob einen Fuß auf einen Felsblock, stützte den Ellen-> ftogen auf das Knie und begann die dargebotene Cigarre zu schmauchen, während er mit dem schlauen * Blick des Bergbewohners die Gäste seiner Alp musterte. „ Könnten wie heut'noch nach Vättis kommen ?" fragen wir. „ Warum nicht? Das ist leicht zu machen. In zwei Stunden ist man auf dem Muttenthalergrat und dann geht 's ja immer nidsiGut, " sag'ich, „ bin dabei, wenn Ihr uns bis auf den Grat führet und die Habersäcke traget. "

Nach einigen Einwendungen und Bedenken siegt die Aussicht auf einen unverhofften Taglohn. Zwar'ist noch nicht alles Mißtrauen entschwunden, denn er hat schon schlimme Erfahrungen gemacht. Ein Engländer, dem er einst seinen Küherbuben mitgab bis auf den Foopaß, schickte ihm diesen ohne einen Rappen Lohn zurück. Trotzdem scheinen wir ihm, wie ja nicht anders zu erwarten war, einen guten Eindruck zu machen. Kurz, er wollte es mit un » wagen, band unsere Habersäcke auf sein Reff, und um 1 Uhr brachen wir auf gegen das Muttenthal.

Auch hier hat sich am Ausgang desselben der Bach, der es durchströmt, ein tiefes „ Runstel " mit glatten Wänden in den weichen Schiefer gehöhlt. Während wir nun am Rand der Kluft emporstiegen, bemerkten wir etwa 50 Schritt über uns an unserm Weg ein Murmelthier, das gemüthlich, vor seiner Höhle saß und das Männchen machte. Bald fand es für gut, in derselben zu verschwinden, aber wir hatten dieselbe noch nicht erreicht, so sahen wir schon wieder links unten im Bachbett einen anderen „ Mungg " eiligst gegen die Tiefe der Kluft zu retiriren. Wir hatten ihn überrascht, da er vor dem Rauschen des Wassçjîjg-unser Nahen zu spät gehört und ihm dort in der Tiefe seine feine Nase nichts genutzt hatte. „ Jetzt ", meinte der Führer, „ könnte man âèn gut fangen, denn dort unten kommt er nicht-weiter. " So kamen wir denn auf das Capitel der Mtmggenjagd und bedauerten nnr, daß wir ganz unbewaffnete Spaziergänger waren.

Daß unser biederer Senntenbauer das Wildern gerade für keine große Sünde hält; konnten wir ans seinen Jagdgeschichten bald merken. Unser Weißtahner war überhaupt ein ganz unterhaltender Begleiter. Seine Familie soll, wie er uns sagte, von einem Eimer abstammen, der als Hirtenbnbe nach Weißtannen kam und den Bauern daselbst so wohl gefiel, daß er eine Tochter des Thales heimführen und sich bei ihnen einbürgern durfte. Auch ging es ihm so gut, daß seine Familie bald drei große Bauerngüter erwarb, die noch in ihrem Besitze sind. So hat unser Führer auch Antheil an der Fooalp, die Corporationsgut ist, und er betreibt die Alpwirthschaft daselbst für die ganze Corporation.

Während wir plaudernd thalauf steigen, eilt eine große Schafheerde vor uns her den östlichen Abhängen des Muttenthales zu, wo, an eine Felsstufe gelehnt, die elende Schäferhütte sich befindet. Das wilde Thal mit seinem spärlichen Pflanzenteppich dient nur als Schafalp.

Muttenthalergrat.4'.t Aber, was ist das? Ein kalter Windstoß fährt uns in den Nacken und schwarze Wolkenmassen wälzen sich über den Foopaß her. Bald zucken Blitze daraus und der Donner hallt mächtig durch die Berge. Zugleich senken sich die grauen Nebel immer tiefer herab von den zerrissenen Kalkgräten, die links und rechts unsere Thalsohle nur um 2 bis 300 m überragen. Ein heftiges Gewitter in dieser Höhe zu erleben, den Blitzschlägen und Regengüssen schutzlos preisgegeben, wäre kein Spaß. Aber was ist zu machen V Zurück zu gehen nützt nichts, die Schäferhütte liegt schon zu weit abseits, vorwärts eilen hilft auch nichts. wir werden doch nicht vor dem Gewitter über den Grat kommen. Wir müssen es geduldig über uns ergehen lassen. Und es ist gnädiger, als wir erwartet hatten. Zwar hat es uns rasch erreicht; brausend und rauschend stürmt die Gewitterwolke hinter uns her und über uns hin, einen tüchtigen Regen über uns ergießend, während zu beiden Seiten die Blitze in die Gräte schlagen und der Donnerschlag dem unheimlichen Leuchten auf dem Fuße folgt. Wir kauern uns an den Boden und warten das Ende ab. Unterdessen erzählt Schneider, gestern Abend um 's Zunachten, während er vor der Hütte die Kühe molk, sei ein ganz anderes Gewitter losgebrochen. Da seien die Wolken bis auf die Alp nieder gehangen, es sei geworden wie Nacht, und als es gar zwischen dem Vieh .geblitzt habe und das Feuer am Boden hin- und hergefahren sei, da habe es ihm wirklich nicht mehr recht gefallen und er habe gedacht, es könnte „ bim Tender " einschlagen. Wir mußten darüber lachen, 4 daß es so viel brauchte, um ihn ein wenig aus seiner Gemüthsruhe zu bringen. In einer Viertelstunde war das Gewitter vorüber; es zog sich dem Muttenthalergrat entlang gegen die Grauen Hörner hin, bald verhallte auch der Donner in der Ferne und der Himmel heiterte sich auf.

In Kurzem, es war halb 3 Uhr, hatten wir den letzten steilen Anstieg zum Furkeli zwischen dem Muttenthal und dem Haibützli bei Punkt 2438 hinter uns und schauten hinab in diesen runden Kessel, an dessen südlichem Rande ein kleiner See aus seinem klaren Spiegel die Wände und zackigen Gräte seiner Umgebung zurückwirft. In reicher Fülle bedeckte hier die hochalpine Flora Rasen und Felsenritzen. Ich muß aber beschämt gestehen, daß ich gar nicht botanisirte, wozu mir übrigens auch meine jugendlich eilfertigen Kameraden keine Zeit gelassen hätten. Vom Furkeli aus schlugen wir uns nun rechts dem mit Kalkgeröll bedeckten Abhang unter Spitze 2615 entlang dem Joch entgegen, das zwischen letztgenanntem Punkt und dem Gipfel 2542 liegt. Zuletzt hatten wir noch über eine Felsstufe von hellgrauem oder schmutzig-weißem Marmor zu klettern, welche derselben Bildung anzugehören scheint, die Professor Heim an der Ringelspitze namhaft macht, und schon um 3 Uhr standen wir auf der schmalen, berasten Felsenkante, die das Haibützli von dem Kalfeuserthale trennt.

Ein prächtiger Ausblick ward uns hier zu Theil. Ueber das Haibützli hinaus fiel der Blick auf die weiten Weideflächen von Scheibs und erquickte sich jenseits des tiefen Einschnittes des Weißtannenthales an dem frischen Grün der Berggüter am Ringgenberg. Von Südosten her schimmerte durch Wolkenschleier die Kette der Grauen Hörner mit ihrem Haupte, dem Piz Sol; nach Osten aber glitt der Blick an den Zacken und Gipfeln unseres Grates hin, ohne daß es uns jedoch gelungen wäre, uns gehörig über die einzelnen Gipfel zu orientiren. Ganz prachtvoll war der Blick auf das Kalfeuserthal zu unseren Füßen mit seinen grünen Matten und dunklen Wäldern, mit dem silberblinkenden Fluß in seiner Tiefe, der mächtigen Firnmauer in seinem Hintergrund, mit den krönenden Gipfeln des Segnes und der Sardona und vor Allem dem ungeheuren nördlichen Absturz der uns gegenüber breit hingelagerten Wand des Ringelberges mit seinen hellen Firnlagern und den kühn aufgesetzten, abenteuerlich geformten Thürmen, Pyramiden und Kegeln der Ringelspitze, des Glaserhorns, des Piz da Sterls und so mancher namenlosen Spitze auf seinem fast wagrechten Rücken. Dieser Anblick steht dem der Glärnischwände über dem Klönthalersee um nichts nach.

Ueber dem Thale, dessen Tiefe sich schon in die Schleier der Dämmerung zu hüllen begann, strahlte ein herbstlicher Föhnhimmel von wunderbarem Glanz, in dessen tiefes Blau die scheidende Sonne von Westen her goldene Lichtmassen und Strahlenbündel warf. Scharf hoben sich von diesem leuchtenden Luftgewölbe die Häupter der Berge ab, und nur der Saurenstock steckte sich eine gewaltige, goldumsäumte Wolkenfahne auf, die im Föhnwind über das Thal her flatterte.

In schrofFem Gegensatz zur freudig warmen Färbung dieser lichten Höhen stand der schwarze, schrecken- hafte Schlund, durch welchen das Thal zwischen himmelhohen Wänden hindurch sich auf Vättis öffnet.

Doch wir haben nicht Zeit, das schöne Bild allzu lang zu betrachten. Noch ist es weit bis Vättis nnd der Abend rückt heran. Unser Führer eilt schleunigst wieder seiner Hütte zu, nachdem er zufrieden geäußert hatte, er sei schon manchmal über diesen Grat gestiegen, aber heute zum ersten Mal habe er dabei etwas verdient. Wir aber steigen nach halbstündiger Rast mögliebst rasch, erst über steile Rasenhänge und Tobel hinunter, dann über weitgestreckte, ebene Terrassen, auf welchen sumpfige Rieder mit kräuterreichen Weiden wechseln, der Malanseralp zu, da wir erst unterhalb derselben den Thalboden gewinnen wollen. Wir haben dabei den Vortheil, noch länger über freie Höhen zu wandern und den Ausblick über 's Thai zu genießen. In den Geröllfeldern, die Anfangs noch zu passiren sind, stören wir noeh manchen „ Sfungg " aus seiner behaglichen Ruhe und nöthigen ihn zu schrillem Pfiffe; zwei große Exemplare mit schönem, tief braunem und schwarzgeflecktem Pelze, die wir zwischen ihren Steinblöcken überraschten, bekamen wir auch noch zu Gesichte.

Sonst herrschte weit und breit die tiefste Stille; nur von ferne her klang leise das Geläute von Heerden. Einst war das Thal belebter; auf den mattenreichen „ Böden " hin und her zwischen den Wäldern nnd Töbeln standen die braunen, niederen Häuser seiner Bewohner, ein jedes auf der Heimstätte seines Besitzers. Die Bewohner gehörten einer Ansiedlung freier Walser an, welche ihre Güter vom altberühmten, .Vv-.

Benediktinerkloster Pfävers, dem Landesherrn des ganzen Gebietes von Ragaz, Pf*vers, Vättis und Valens sammt dem Kalfeuserthale, vom Calanda bis zur Sardona und vom Kunkelspasse und Ringelberg- bis zur Sar, die von den Vilterseralpen her sich in den Rhein ergoß, zu Lehen trugen.

Urkundlich finden wir die „ freien Walser " des Kalfeuserthales zuerst im 14. Jahrhundert erwähnt. Durch eine Urkunde von 1346 wird bestimmt, daß die Walser vom Gute Sardona einen dreifachen Hofzins zu zahlen haben: der St. Martinskapelle in Kalfeusen, dem Gotteshaus Pfävers und der Herrschaft Freudenberg ( bei Ragaz ). Durch eine Urkunde von 1379 sodann überläßt das Kloster das Gut „ Wald " am Tersolbach an freie Walser als Erblehen. 1436 kaufte dies Gut Jäckli Giger von Kalfeusen, von welchem es den Namen „ Gigerwald " erhielt. Bekanntlich sind diese Walser, wie nunmehr von der historischen Forschung allgemein anerkannt wird, eingewanderte Walliser, die aus den deutschen, oberen Centen des Walliserlandes stammten und sich an zahlreichen Orten Graubündens, des oberen st. gallischen Rheinthals und Vorarlbergs angesiedelt haben. Weß-halb sie auswanderten, bleibt dunkel, da hierüber in Wallis selbst keine geschichtliche Ueberlieferung besteht. Es mögen verschiedene Ursachen zusammengewirkt haben. Sicher ist, daß diese Auswanderung schon im 12. Jahrhundert begann, da z.B. die Gemeinde der freien Walser im Rheinwald in einer Urkunde der Freiherren von Vatz vom Jahre, 1277 als ein längst bestehendes Gemeinwesen dargestellt wird.

51P. H. Kind.

Wahrscheinlich wnrde die Einwanderung and Ansiedlung dieser Leute von den rhätischen Dynasten und geistlichen Stiftern begünstigt, indem dadurch abgelegene und früher nur als Sommerweiden benutzte Hochthäler für die Cultur gewonnen und dadurch für die Lehnsherren bedeutend ertragreicher wurden. So kam es, daß die ersten Ansiedler andere nachzogen und daß die älteren Colonien auch wieder jüngere Ableger hier und dort hin entsandten. Daß auch Kalfeusen ursprünglich den romanischen Unterthanen von Pfävers als Sommerweide diente, beweisen romanische Ortsnamen, wie Sardona, Tamina, Ancapan, Schräa, Panära, Sazmartin u.a., während die deutschen Namen Brändlisberg, hintere Ebni und vordere Ebni, Tristel, Stockboden, Husegg, Hohgang und viele andere von der späteren deutschen Einwanderung herrühren. Auch der Fürstabt von Pfävers wird die Walliser in Kalfeusen angesiedelt haben, um aus dem Thale bessere Einkünfte zu ziehen. Daß diese Walser hauptsächlich Alpwirthschaft betrieben, geht aus der Natur ihrer Abgaben hervor, die größtentheils in Käsen geleistet wurdeu. Daneben mögen sie auch als Holzer und Köhler sich beschäftigt haben, wozu sie ja in dem dichten Urwald, der ohne Zweifel zu jener Zeit das Thal großentheils bedeckte, vollauf Gelegenheit hatten. Aber es ist nicht ausgeschlossen, daß sie, als das Klima noch milder war, an den sonnigen Halden der gegen Süden gekehrten Thalseite bis hoch hinauf Roggen und Gerste pflanzten, wie 's ja heute noch in ähnlicher Lage im Bündnerland vorkommt, so daß wohl mancherorts die Aehren im Winde wogten und rauschten, wo jetzt auf Alpweiden das Vieh sein kräftiges Futter sucht.

Ihre eigenen Angelegenheiten besorgten die Kalfeuser frei nach Walserrecht; sie hatten ihren eigenen Ammann und ihr Rathhaus, woran noch heute der „ Ammannsboden " auf der Malanseralp und der „ Rath- hausbodenu in der Sardonaalp erinnern. Ihre Kirche war die noch heute bestehende St. Martinskapelle. Ihr Recht aber mußten sie „ am Anhowu zu Freudenberg suchen, wo jährlich das Maigericht gehalten ward. Die Schirmvogtei über das Kloster Pfävers und mit ihr die Uebung der niederen Gerichtsbarkeit im Namen des Abtes, desgleichen die Reichsvogtei und mit ihr die hohe Gerichtsbarkeit im Klostergebiet im Namen des Kaisers waren im Laufe der Zeit als erbliches Recht an die Herrschaft Freudenberg gekommen, die übrigens ihre Herren oft gewechselt hat. Es scheint auch, daß die Herren von Freudenberg aus diesen Rechten allmälig eine gewisse Grundherrlichkeit im Kalfeuserthale abzuleiten wußten, da die Walser laut Einzugsrodel vom Jahre 1462 der Herrschaft Freudenberg am Andreastage jeweilen einen Zins von 136 Käsen, 1 S Pfenningund 3 S Pfeffer zu leisten hatten.

Dem Landesherrn, in diesem Falle also dem Gotteshause Pfävers, waren die Kalfeuser außer dem Grund-zins nach „ Walserrecht " keine andere Leistung schuldig,. H. Kind.

abgesehen von der allgemeinen Unterthanenpflicht, wozu namentlich die Verpflichtung gehörte, „ mit Schild und Speer ", also mit der leichteren Bewaffnung ( im Gegensatze zu der schweren mit dem Harnisch ), Heerfolge zu leisten, jedoch in eigenen Kosten nur innerhalb der Herrschaftsmarken.

Wann die erste Ansiedlung der Walser in Kalfeusen stattgefunden hat, ist nicht mehr zu erkunden. Dagegen begann schon frühe wieder die Auswanderung und führte allmälig zur völligen Verödung des Thales. Verschiedene Ursachen mögen dazu beigetragen haben. Möglich ist, daß das Klima rauher ward, den Futterertrag für die Heerden verkümmerte und den Getreidebau unmöglich machte. Je mehr aber die Bewohner ihren Lebensbedarf von Außen beziehen mußten, was bei der abgeschlossenen Lage mit großen Kosten verbunden war, um so schwieriger und kostspieliger ward der ganze Lebensunterhalt. Nachdem ferner die Auswanderung einmal begonnen hatte, mußten die Grundlasten für die Zurückbleibenden immer schwerer und zuletzt unerschwinglich werden.

Die erste Auswanderung fand urkundlich im Jahr 1385 statt, wo Pantli und Martin Nufer und Konrad Nufer, dessen Bruderssohn, aus Kalfeusen vom Kloster Pfävers das Gut Vasön als Erblehen erwarben. Laut Urkunden von 1477 und 1488 waren schon damals 298 Stöße von Hintersardonen größtentheils in den Besitz von Leuten aus der March, dem Gaster und von Weesen übergegangen. Auch die bilndnerische Gemeinde Malans mag schon im 15. Jahrhundert durch Zusammenkauf verschiedener Hofgüter ihre dortige I.schöne Alp erworben haben. So loste sich diese Walsergemeinde gänzlich auf'und ihre Geschlechter sachten einzeln neue Wohnsitze, wo sie unter der übrigen Bevölkerung verschwanden.

Von Geschlechternamen werden in den Urkunden mit den schon genannten namhaft gemacht die Brandii, Banili, Nufer, Giger, Christian in der Ebni, Locher, BertSchi, Znmp, Thöni.

Das Kirchengut von St. Martin wurde an das Kapuzinerkloster zu Mels, die Pfarrpfründe zu Weißtannen nnd die Pfarrkirche zu Vättis vertheilt.

Die Erinnerung an die freien Walser von Kalfeusen lebt im Volksmund nur noch fort in Vermischung mit Sagen von alten Riesengeschlechtern, die das Thal in grauer Vorzeit bewohnt haben sollen. Noch soll man im Beinhaus von St. Martin „ Schttddelen ", d.h. Schädel, Bein- und Armknochen von ungewöhnlicher Größe sehen, die diesen Sagen Nahrung geben. Uns kritischeren Menschen können diese stummen Zeugen wenigstens erzählen, daß jene freien Walser ein großes and starkes Geschlecht waren, kräftig genug, den Kampf mit den Schwierigkeiten und Schrecken dieser Wildnis aufzunehmen.

Halb 5 Uhr mochte es sein, als wir über prächtige Weiden hinabeilend die gastliche Hütte der Malanseralp erreichten, wo wir uns an den hohen, kraftvollen Gestalten meiner Landsleute erfreaten and, eine halbe Stande ausruhend, einen Schlack kuhwarmer Milch nahmen. „ Zwei gute Stunden seien es noch bis VSttis ", sagt man ans, aber die Rechnung stimmte nicht!

In einer schwachen Stunde ist St. Martin erreicht, eine Gruppe alter Häuschen, die sich um das Kirchlein schaart, wo eine Brücke auf das rechte Ufer der Tamina hinüberführt. Hier verengt sich das Thal zu einer Schlucht von großartiger Wildheit, mit der sich im Alpengebiete nur wenige werden messen lassen. Gleich am Anfang derselben, wo Wald und Weide noch bis an den Fluß herantreten, brannte einige Schritte ob der Straße, d.h. dem erbärmlichen Saumpfade, ein großes, lustiges Feuer, und rings herum standen in der üppigen Vegetation, die der fruchtbare Waldboden hervorgetrieben hatte, Kühe, deren eine ihr nasses Fell an den Flammen wärmte. Daneben zeigte sieh eine malerische Gruppe von Hirtenknaben, deren einer aus einem Eimer frischgemolkene Milch trank, während die andern lachend dabei standen, mit ihren hübschen, gebräunten Gesichtern, den lustigen, schwarzen Augen und der freien, kräftigen Haltung, wahre Bilder von Gesundheit und Jugendlust, ächte Kinder der Berge.

Bald verliert sich der Fluß dumpf brausend in nächtlicher Tiefe, während der Pfad bald an steilen Felsen hin, bald über Töbel und Lawinenzttge, bald durch dichten Wald führt, wo wir vorsichtig im Finstere vorwärts tappen müssen. Bei der sogenannten Fluh ging 's über die Reste einer ungeheuren Lawine, die im Winter von 1887 auf 1888 gefallen war und jetzt noch die Schlucht auf eine große Strecke hin überwölbt. Die vom erwärmten Flußwasser aufsteigenden Dünste verdichten sich hier zu Nebeln. Durch einen wahren Höllenschlund, den ein vom Berge stürzender Muttenthalergrat.69 Bach in die Seitenwand der Lawine gebohrt, sehen wir in die schwarze Tiefe. Kurz unterhalb dieser Lawine hat die Tamina sich ihren schauerlichen Pfad unter den Felsen hindurch gegraben, und wir hätten über die so entstandene Naturbrücke auf das linke Ufer und zum Gute „ Gigerwald " gelangen können, von wo ein besserer und erheblich kürzerer Weg nach Vättis hinaus führt. Aber wir wußten nichts davon, und überdies war es so dunkel, daß wir den Abstieg durch den Wald kaum gefunden hätten. Endlich weitet sich die Schlucht; wir treten hinaus aus dem nächtlichen Tannendunkel auf eine freie Anhöhe und schauen hinab auf das Vättiserthal, dessen thauige. Wiesen im Mondlicht so eigenthümlich schimmern, daß wir nicht recht klug daraus werden, was wir eigentlich sehen. Bald aber sehen wir links auch die Lichter des Dorfes glänzen und marschiren durch die mondhellen Gassen der „ Lärche " ) zu, an deren Thüre wir um 9 Uhr stehen.

Mögen Andere weniger Zeit brauchen als wir! es bleibt immerhin ein sehr respektabler Tagesmarsch von Elm bis Vättis, und ich glaube, daß Keinem die Lust ankommt, noch bis Ragaz hinauszulaufen.

Der Abend war hell und lieblich; aber in der Nacht ging wieder ein mächtiges Gewitter über die Berge hin. Am Morgen sahen wir uns noch im Thale um, das, wie Professor Heim uns erzählt, mit denIch schreibe Lärche, weil ich vermuthe, daß mit diesem Namen nicht der Vogel, sondern der Baum gemeint ist, wie es ja auch Gasthäuser „ zur Linde ", „ zur Tanne " u. s. w. gibt.

Terrassen von Vasön und Valens ein Rest des ursprünglichen westrheinischen Stromthaies ist und einst sich nach dem Walensee hin öffnete, und machten den schönen Moränen des einstigen Kalfeusergletschers, die jetzt in liebliche, grüne, von Lärchengruppen beschattete Hügel umgewandelt sind, einen Besuch.

Eine genußreiche Leiterwagenfahrt nach Ragaz schloß würdig unsere höchst interessante Wanderung, an der wir für einmal genug hatten, um so mehr, als das Wetter sich wieder auf die schlimmere Seite ließ.

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