Walliser Haute Route
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Walliser Haute Route

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON PIERRE BAILLOD, NEUCHÂTEL

Wer Haute Route sagt, denkt an breite weisse Einsamkeiten unter einer wunderbaren Sonne, an kilometerlanges weiches Gleiten auf von anscheinend unzugänglichen hohen Gipfeln umgebenen Gletschern. Eine solche Skiwoche vorzubereiten, das heisst vor allem träumen, und träumen, das bedeutet leben. Und intensiv leben heisst die Walliser Hochalpen entlang zu wandern, in der Gesellschaft gleichgesinnter Kameraden, und wenn man sich daran zurückerinnert, durchlebt man alles noch einmal. Merkwürdig, welche Quelle des Vergnügens eine Skiwoche sein kann!

In der ersten Aprilwoche 1962 hatte es reichlich geschneit. Unerwartet, als man sich schon im Frühling glaubte, wurden plötzlich 80 cm Pulverschnee im Jura gemeldet. In den Alpen war die Lawinengefahr so gross, dass man sich dorthin überhaupt nicht wagen sollte. Wer eine Woche weisser Ferien vor sich hat, der geht aber trotzdem!

Am Sonntag ist der Walliser Himmel klar, und die Strasse nach Saas Fee soll angeblich offen sein. Zu unserer grossen Überraschung ist sie sogar schneefrei, auf ihrer ganzen Länge, und die Neuschneeschicht in dieser Gegend misst kaum 20 cm. Man kann sich beim Essen auf der Terrasse des Restaurants mit Wonne sonnen. Bald zergeht man fast vor lauter warmem Ferienglück, man streicht sich eine dicke Cremeschicht auf das Gesicht, legt Pullover und Windjacke ab und streift die Ärmel zurück. Die Armbanduhr am Handgelenk wird zu einem nutzlosen Gegenstand. Trotzdem heisst es, noch heute bis zur Britanniahütte aufzusteigen. Schon fliegt die Kabine der Luftseilbahn über die Piste mit ihren bunten Skikanonen, die, je nachdem, mit einem Schneeschweif Kometen spielen, schwingen, zögern oder am steilen Hang Abrutschen. Ihr Vergnügen, aus der Vogelperspektive gesehen, erscheint uns lächerlich. Wir aber, die wir den Blick zum luftigen Täschhorn oder zum Weissmies heben, fühlen uns von grösstem Glück erfasst! Während wir an der Zwischenstation auf die nächste Kabine warten, sehen wir, wie die Skifahrer auf dem sonnigen Hang auftauchen und, eine Schneewolke nach sich ziehend, in schönen Kurven hinuntersausen. Nachgerade werden auch wir ungeduldig diesen Sport zu kosten. Wie wir die Endstation Längfluh erreichen, machen sich die letzten Skifahrer zur Abfahrt bereit, und die Schneekatzen haben ihren Motor abgestellt. Unsere sechs SAC-Mitglieder steigen im Gänsemarsch gemächlich den Gletscher hinauf, während die Schatten immer länger werden. Der Berg ist keine Skipiste mehr. Alle mechanischen Verkehrsmittel hinter uns lassend, sind wir wieder auf uns selbst gestellte Menschen, allein im Schnee. Herr unsrer Zeit, nur uns selbst verantwortlich, meistern wir unsre Wegstrecken mit ruhiger Beharrlichkeit. Kaum aber schnallen wir die Seehundsfelle für die Abfahrt zum Egginer ab, weicht der Bergsteiger wieder dem Skifahrer. Das Tempo wird rascher... entlasten, zusammenziehen, schwingen, bremsen, loslassen... Der Körper bewegt sich lebhaft, tanzt, ohne aufdie Befehle eines noch trägen Gehirns zu warten. Dann kommt der steile Aufstieg zum Egginerjoch, die Nase nähert sich den Skispitzen. Während einer halbstündigen Traverse im Schatten des Allalins hinken wir auf dem linken Fuss und gelangen schliesslich zur Britanniahütte.

Eine verschneite Treppe, eine Tür, die sich nicht schliessen lässt, und schon sind wir drinnen. Zwei oder drei Kerzen schimmern im beissenden, dichten Rauch einer kalten Hütte. Im Halbdunkel gewahrt man etwa zwanzig Personen, die beinahe ersticken. Draussen zieht sich das Quecksilber zusammen: minus 15 Grad! Allem Rauch zum Trotz zieht man doch vor, sich in einer Hütte zu befinden. Nach Durchsuchung aller Winkel bringt man einige Kistenresten zusammen und findet sogar eine Schaufel voll Kohlen. Mit den zur Verfügung stehenden improvisierten Mitteln gelingt es Willy, uns « Filets mignons » zuzubereiten, welche die übrigen Hüttengäste vor Neid blass werden lassen. Man spricht den Hüttenabenden oft ihre Gemütlichkeit nach; diesmal aber zieht man vor, unter den Decken etwas Wärme zu suchen und dem beissenden Rauch zu entfliehen.

Am Montag stehen wir vor Tagesanbruch auf. Eine rassige Abfahrt auf den Hohlaub- und Allalingletscher eröffnet die Aktion. Ein leichter Pulver auf einem festen Grund, eine strahlende Sonne -was für ein Anfang, was für eine Begeisterung! Jubeljauchzen und lautes Lachen, als Ausdruck einer hellen Freude, sind Zeichen eines vielversprechenden Tages. Wir befinden uns auf 2900 m. Vor uns, in südwestlicher Richtung, schliesst der Adlerpass mit seinen 3800 m Höhe den Horizont. Das bedeutet 3 Stunden Aufstieg. Der erste Teil ist angenehm. Dann erhebt sich der Westwind, verstärkt sich, wird wütend, stürzt sich durch das weit offene Tor des Adlerpasses. Eine vom Allalin fallende Pulverschneelawine wird buchstäblich in die Wolken hinaufgeblasen. Man verbirgt das Gesicht in der Kapuze, allein die Nase bleibt draussen und bekommt etwas ab. Tief nach vorn gebeugt schreiten wir in gutem Tempo weiter. Gerald, der am Vorabend in der Britannia aufgenommene Benjamin, spurt mit Mut und Ausdauer, trotz seines übermässig schweren Sacks und des langen Aufstiegs. Von den Felsen auf der Passhöhe geschützt, nehmen wir uns Zeit für einen Imbiss und besprechen den weiteren Ablauf unseres Programms 400 Meter höher kämpft das Strahlhorn mit einem Sturm. Es zittert in Schneewirbeln, und keiner von uns sehnt sich nach einem Aufstieg, obschon das Strahlhorn auf unserem heutigen Programm steht. Sobald einer von uns auf die andere Seite des Passes sehen will, wird seine Nase mit Schnee verstopft. Man sieht gar nichts. Jedoch, gerade dort ist die Abstiegsroute! Zum Glück ermöglicht eine Schneerinne den Fuss der Felsen ohne grosse Schwierigkeiten zu erreichen. Jeder behilft sich auf seine Art, rückwärts absteigend oder am Doppelseil, rutschend oder mit Steigeisen. Dann werden die Ski angeschnallt. Zuerst, seitwärts abrutschend, getraut man sich bald mit wachsender Sicherheit zu schwingen, zu gleiten, und schliesslich fährt man drauflos. Wir versammeln uns unten am Abhang. Betempshütte oder Zermatt?

Oben wütet immer noch der Sturm, und Nebel streicht über den Gletscher. Sollen wir mit unsern schweren Rucksäcken dem Wetter trotzen, wo einige von uns schon müde zu sein scheinen? Im Tal scheint die Sonne und lädt uns ein, nach unten zu fahren. Wir folgen der Verlockung. Nach einem Gletscherabbruch geht es in einer 6 km langen glatten Abfahrt auf einem weichen und führigen Schnee den Findelengletscher hinunter. Schliesslich, am Ende einer Moräne, halten wir vor zwei schaufelnden Arbeitern an. « Sie können nicht weiter fahren, Sie sind auf dem Dach der Baraken! » Wir hoffen, hier übernachten zu können, aber es gibt keinen Platz. So fahren wir in einem über-raschungsvollen und lustigen Slalom weiter bis zum Grund der Schlucht wo Lärchen und Bach anfangen. Eine Rast am Bach ist nicht überflüssig, denn der Motor mangelt an Treibstoff, und die Muskeln werden steiff. Die Schönheit der Gegend und die rasche Abfahrt haben uns berauscht.

Wir sind lustig und witzig! Schliesslich kommt die Waldabfahrt, eine Abrutscherei auf hartem Schnee, welche Knie und Knöchel auf eine harte Probe stellt. Am späteren Nachmittag geraten wir in Zermatt mitten in die Menge der sonnverbrannten Wintergäste. Ski und Rucksäcke werden am Strassenrand liegengelassen, und, die Hände in den Hosentaschen, gehen wir auf die Suche einer Unterkunft für die Nacht.

Der Dienstag ist Ruhetag. Nach den 2200 m Abfahrt des Vortages begnügen wir uns mit 1000 m Aufstieg. Unser Ziel ist die Schönbielhütte. « Vier Stunden », steht im Clubführer von Kurz. Also braucht man sich nicht zu beeilen. Wir brechen gegen neun Uhr auf, wohl die einzigen, die mit geschulterten Ski den Fusspfad nach Zmutt einschlagen. Alles fährt mit der Luftseilbahn zum Schwarzsee. Im Weiler rät man uns, den weniger lawinengefährlichen Weg nach Staffelalp einzuschlagen. Wir befolgen diesen weisen Rat. Jedoch müssen wir so die Ski bis Mittag tragen, denn der lange, lange Weg ist ganz frei von Schnee. Wie wir Stafelalp erreichen, legen wir die Ski nicht ab, sondern lassen sie ganz einfach fallen und setzen uns in den Schnee. Nach langen Verhandlungen in Kauderwelsch mit einem diensthabenden Italiener erhalten wir schliesslich die Erlaubnis, auf der Gondel einer Luftseilbahn Platz zu nehmen. So steigen wir bis zum linken Ufer des Zmuttgletschers, dem Bauplatz von Schön biel. Die Fahrt ist einfach phantastisch. In eine Decke eingewickelt, sitzen wir auf einer Plattform und können in aller Ruhe das Matterhorn, das gleichzeitig imponierend und luftig erscheint, bewundern. Es ist aber ziemlich kühl. In der Kantine machen wir einer Unmenge Suppe und Tee den Garaus, bis unsre entwässerten Körper ihr Gleichgewicht wieder gefunden haben. Wie wir dann die Ski anbinden, bleibt uns nur noch eine Stunde bis zur Hütte.

Von der Moräne aus betrachten wir die Nebelwand, die das Stockje und die Dent Blanche verdeckt, während die ganze Gegend von Zermatt im Sonnenschein badet. Wird ein neuer Sturm kommen?

Die Hütte ist in Sicht. Eine Gruppe erreicht sie auf dem direkten Weg, während die andere den Winterweg, der einen felsigen Vorsprung umgeht, einschlägt. Ein leichter Schneefall setzt ein. Die nigelnagelneue Hütte ist leer. Wir machen einen Rundgang und nehmen die Küche in Besitz.B.ald knistert das Feuer, und das Thermometer steigt rasch auf 16 Grad. Unser Koch schafft wieder Wunder, und wir verbringen einen angenehmen Abend. Im Schlafraum aber müssen wir unsere Decken erwärmen, bis wir uns wohl fühlen. Um Kalorien zu sparen, legt sich jeder in voller Bekleidung nieder, mit Windjacke und Kapuze. Wegen der Wetter- und Schneeverhältnisse von morgen verlassen wir uns auf unsern Glückstern. Am Mittwoch haben wir eine lange Etappe zurückzulegen.

Welche Aufregung am frühen Morgen! Der Himmel ist tiefblau, von Wolken keine Spur. Die Kälte ist bissig, wir stecken mitten im Winter. Wieder einmal haben wir das Vergnügen vor der Anstrengung. Die Arabesken unserer Spuren im Pulverschnee und die imponierende Aussicht versetzen uns in eine helle Freude: das Matterhorn, die Dent d' Hérens, die Wandfluh und die Dent Blanche, mit frischem Schnee bedeckt, heben sich vom blauen Himmel ab. Die Photographen sind an der Arbeit.

Unten auf dem Gletscher schnallen wir die Seehundsfelle an; Ruedi übernimmt die Führung im bewegten Gelände des Tiefenmattengletschers. Um Abstiege zu vermeiden, Spalten zu umgehen, die sicheren Schneebrücken zu finden, muss die Spur mit Umsicht und Sachkenntnis angelegt werden. Auch ist am Steilhang mit möglichen Lawinen oder Seraceinstürzen zu rechnen. Die Sorge um unsere Sicherheit ganz unserem Führer überlassend, geniessen unsere Augen den herrlichen Anblick von Dent d' Hérens und Col de Tiefenmatten und können sich kaum satt sehen. Der Horizont ändert und öffnet sich je näher wir dem Col de Valpeline ( 3560 m ) kommen Diese 1000 Meter Aufstieg bleiben eine der schönsten Erinnerungen unserer Tour. Bevor wir den Kessel von Zermatt verlassen, rasten wir bei dem Felsen der Tête Blanche, nahe der italienischen Grenze, und machen uns auf die Abfahrt über den Glacier de Tsa de Tsan bereit. Anstelle des Pulvers der Zermatter Seite finden wir hier jedoch windverharschten Schnee.

Wir fahren in langen Bögen und schwingen möglichst selten in diesem Tellerhaufen, der unsere Muskeln auf eine harte Probe stellt. Auf halbem Weg finden wir Steinblöcke, die uns sehr geschätzte Sitzplätze bieten. Das Wetter ist schön und die Luft beinahe warm, so dass wir uns ein Schläfchen an der Sonne gönnen. Tief unten auf dem Gletscher entdecken wir drei schwarze Punkte, die sich zu bewegen scheinen. Wäre denn noch jemand in dieser Gegend? Später, bei der weiteren Abfahrt, nähern sie sich uns. Obschon es auf dem weiten Hang an Platz nicht fehlt, fallen drei unserer Kameraden gerade der aufsteigenden Karawane vor die Füsse und sogar in sie hinein. Allgemeines Lachen. Die drei schwer beladenen Bergsteiger sind Deutsche, die nun unseren Spuren folgen, während wir die ihrigen benützen.

Es wäre zu lang, von allen Etappen zu sprechen: Aufstieg zum Col du Mont Brûlé, Abfahrt auf dem Glacier d' Arolla, Wiederaufstieg zum Col Collon und Col de l' Evêque und Abfahrt bis zum Glacier de Chermontane bei untergehender Sonne. Man muss das alles selber erlebt haben: die weiten Flächen, auf denen sich der Blick verliert, den an den Ski pappenden Schnee, die lange Gipfelreihe am Rand des Glacier d' Otemma, der Rausch des letzten Schusses im Pulverschnee!

Der Hüttenwart von Les Vignettes ist eben dabei, die ihm abgeworfenen Holzscheiter einzusammeln. Das Erscheinen unserer Mannschaft ist für ihn ganz unerwartet. Freundlich macht er sich sofort ans Kochen. Da die Butanflasche gefroren ist, stellt er sie ganz einfach auf die Flamme. Etwas beunruhigt schauen wir uns gegenseitig an; aber es geschieht nichts. Zum Glück ist die Hütte auch mit Wein versorgt, was uns gar nicht missfällt und zur Fröhlichkeit des Abends beiträgt.

Am nächsten Tag nehmen wir den mühsamen Aufstieg zum Pigne in Angriff. Die Sonne scheint ganz schön warm auf den steilen Hang, so dass in uns einige Befürchtungen aufsteigen; wenn wir schwitzen, ist es jedoch auf die Anstrengung zurückzuführen. Allmählich verflacht sich der Hang. Mit etwas Geduld und viel Begeisterung gelangen wir schliesslich auf das oberste Plateau. Wir lassen die Säcke zurück und steigen zum Gipfel hinauf. Dort verweilen wir längere Zeit und versuchen, all die bekannten und neuen Gipfel zu erkennen. Aus der Richtung Cabane des Dix erscheinen in der Ferne einige Seilschaften. Von dieser Höhe von 3800 m aus werden wir über Col und Glacier de la Serpentine bis zur Cabane de Chanrion ( 2460 m ) hinuntergleiten können. Das Steilstück von Tsidjörnove erfordert einige Vorsicht, aber vom Col de la Serpentine bis zum Glacier de Breney geben wir uns einer tollen Abfahrt hin. Im wundervollen Pulverschnee wenden wir all das an, was wir je in der Skischule gelernt haben. Die Abfahrt scheint kein Ende nehmen zu wollen. Stufenweise erreichen wir den Glacier de Breney, dann die Moräne, und immer noch geht es weiter! Vor uns sehen wir die Gemsen fliehen. Bald biegen wir nach links ab, die Hütte kommt in Sicht, und in einem letzten Schuss geht es hinunter.

Die Hütte ist leer. Wir sind allein. Es ist immer angenehm, sich daheim zu fühlen. Schnell machen wir Türen und Fenster auf, und die tiefstehende Sonne leuchtet herein. Obschon es schon frisch ist, kann man auf einem Rasenfleck ein Ruhestündchen halten. Ringsherum ist alles weiss. Tausend Meter höher, zwischen dem Mont Gelé und dem Combin sehen wir den Sonadon. Wie kommen wir dort durch, sollte das Wetter umschlagen? Da fällt es uns ein, wir könnten einen Abstecher auf die italienische Seite machen. Der Plan wird sofort allgemein gutgeheissen. In diesem Fall brauchen wir nicht mit dem Essen zu sparen, und wir geniessen es reichlich. Die Hütte ist wirklich gemütlich. Wir führen die dringlichsten Reparaturen durch, wie zum Beispiel das Wiederinstandstellen eines arg mitgenommenen Metallskis.

Trotz interessanter philosophischer Diskussionen landen wir bald auf den Pritschen neben der Küche. Morgen erwartet uns das Abenteuer eines improvisierten Abstechers nach Italien! Was wird uns die nächste Etappe bringen? Das wird uns der Abend des nächsten Tages zeigen!

Wir liegen bewegungslos im Schlafraum. Auch beim genauesten Hinhören vernehmen wir weder das Ticken einer Wanduhr noch Windstoss, Bach oder Motorengeräusch. Still schweben die Sterne und die Stunden, unvermerkt wird der Donnerstag zum Freitag, und beim Tagesanbruch sind wir ganz überrascht, wieder in der Wirklichkeit aufzutauchen. Nach einigen Tagen Bergfahrt hat man gewöhnlich etwas Mühe, am Morgen aufzustehen, aber heute reisst mich die Begeisterung der Kameraden mit. Das Frühstück zuzubereiten und die Hütte in Ordnung zu bringen, ist uns schon zur Gewohnheit geworden. Allem Appetit zum Trotz scheint sich aber unser Rucksack nicht merklich erleichtert zu haben.

Lebewohl, einsame Chanrion! Noch einmal beginnt der Tag mit einer Abfahrt, das heisst, es ist vielmehr ein Abflug auf dem harten Schnee, denn kein Hindernis zwingt uns, die Geschwindigkeit abzubremsen. Schön, aber kurz!

Auf dem Talgrund wird wieder für einige Stunden das « Zahnrad » eingeschaltet. Wir legen unsere Spur in einem jungfräulichen Pulverschnee. Dunst lässt wohl die Sonne durchscheinen, verschleiert aber die Berge. In sanften Hängen zieht sich der Glacier de Fenêtre in die Länge. Die alles beherrschende Weissheit lässt die Gegend wie eine Feelandschaft erscheinen. Einzig das ständige Vorschieben unserer Ski gemahnt an die Wirklichkeit. So gelangen wir schliesslich doch zum Pass. Es herrscht ein heftiger Wind, der den Schnee verweht hat. An der exponiertesten Stelle kauern zwischen den Steinen einige Schneehühner, die bei unserer Ankunft eins nach dem anderen wegfliegen. Eingemummelt, vom wütenden Wind gepeitscht, nehmen wir die Felle ab, spannen die Kabel und fahren in aller Eile Italien zu. Über Grate und Täler erreichen wir Balme, Glacier und Vaud, malerische Weiler mit ihren der Sonne zugekehrten Scheunen. Wir schnallen die Ski auf die Rucksäcke und nehmen den Weg zum Tal unter die Füsse. Über Rey, ein verlassenes Dorf, gelangen wir schliesslich nach Ollomont. Das erste Haus trägt stolz das Schild « Cantina ». Es ist höchste Zeit für unsere, von der italienischen Sonne ausgetrockneten Kehlen! Drei Liter guten Rotwein bieten eine willkommene Abwechslung zum ewigen Tee, verleihen unserem Gespräch eine südliche Lebhaftigkeit und spülen das Dörrfleisch und den Käse hinunter. Es ist ein richtiges Dorfgasthaus: überwölbter Raum, die dicken Mauern, von Efeu überwachsen. In der Mitte der Stube ein Ofen. Wirtin wie Gaststube tragen zu unserem Wohlbefinden bei. Die Sprache ist hier französisch, aber die Eingeborenen sprechen einen auch vom italienischen ganz verschiedenen Dialekt. Wir finden die Gelegenheit, einen alten Wagen zu mieten, dessen Besitzer einverstanden ist, uns nach Valpeline zu führen. Weiter, oberhalb Aosta, münden wir in die St. Bernhard-Strasse ein, um bis St. Rémy zu fahren. Wir befinden uns plötzlich mitten im Frühling: frisches Grün, blühende Bäume. Wir denken nicht mehr an den Schnee, und in unserer feuchtfröhlichen Stimmung zieht es uns hinunter nach dem Süden. Aber schon hat der Wagen wieder nach Norden gewendet, Richtung Kälte und Nebel!

Lebewohl, südliche Sonne!

Unser Ziel ist jetzt der Col du Grand St. Bernard! In St. Rémy steigen wir aus. Von da an ist die Strasse noch mit einem guten Meter Schnee bedeckt. Ein letzter wohlschmeckender « Capucino », und wieder nehmen wir den Kummet auf. Kaum haben wir einige Schritte gemacht, da taucht plötzlich ein italienischer Zöllner auf und verlangt unsere Pässe. André hat keinen, und es fehlte nicht viel, er wäre zurückgehalten worden! Das hätte aber sowohl für uns als auch für den Zöllner so viele Komplikationen ergeben, dass er schliesslich seine Beute loslässt, nicht ohne Empfehlungen für ein anderes Mal. In diesem Land findet alles ein gutes EndeWir folgen der Strasse, dann dem Talweg. Der Schnee wird schwer, die Strecke mühsam und gefährlich, so dass wir aus dem engen Tal über einen steilen Hang heraussteigen. Wir sind am Fuss der grossen Brücke, die beim Ausgang des neuen Tunneldurchbruches das Tal überquert. Links von uns sind grosse Strassenarbeiten im Gang. Wir steigen weiter, erreichen den Eingang zu einer Galerie und werden von den durch unsere Erscheinung neugierig gewordenen Arbeitern freundlich empfangen. Einer von ihnen schlägt uns vor, den Tunnel zu traversieren. Diese Idee findet unsern Beifall. Der diensthabende Zöllner bringt uns Verständnis entgegen und gibt den Weg frei. Da erreicht unsere Begeisterung ihren Höhepunkt. Wir werden die ersten sein, die eine Woche nach dem Durchstich diesen noch jedem Verkehr geschlossenen Tunnel werden begehen dürfen! Die Maschinen darin machen einen Höllenlärm, aber was tut 's! Los! Die Nacht nähert sich, und der Col du Grand St. Bernard verschwindet oben im Sturm. Im Tunnel fühlt man sich sicherer, unter der Bedingung allerdings, dass man den mit grosser Geschwindigkeit fahrenden Verkehrsungeheuern rechtzeitig ausweicht. Wir verzichten ohne grosses Bedauern auf unseren Plan, im Hospiz zu übernachten und auf den Aufstieg zum Col Ferret und Grand Golliat. Vor uns öffnet sich ein schwarzes Loch. Daraus tauchen lärmende Ungeheuer auf. Wir legen Säcke und Ski zwischen Rohre und Balken, ziehen Pullover und Windjacke ab, denn wir fühlen uns in den warmen Eingeweiden der Erde von den stürmischen Naturelementen geschützt. Da kein Lastwagen tunnelanwärts fährt, nehmen wir unsere Lasten wieder auf und machen uns munter auf den Weg. Die Galerie ist riesig gross, und je weiter wir vordringen, um so mehr befällt uns ein Gefühl der Eintönigkeit und Einsamkeit. Lauter Glühbirnen, Rohre und Luftkanäle. Nach etwa zwei Kilometer steigt die Strasse plötzlich zum Gewölbe. Handlanger sind damit beschäftigt, durch die Sprengungen angehäufte Steintrümmer zu räumen. « Buon giorno! Ohé! les garsGute Reise! » rufen sie uns zu. Wir sind beim Vortrieb angelangt. Bevor wir nur begriffen haben, dass uns der Weg versperrt ist, rufen uns andere Arbeiter zu. Sie heben eine Bodenklappe hoch und weisen Ruedi an, die Treppe hinunterzusteigen. Unser Kamerad wäre wohl einverstanden, aber sein Rucksack ist nicht gewillt, ihm zu folgen. Also muss man sie getrennt einführen. Durch diese Öffnung gelangt man in den unteren Vortriebstunnel. Sein Profil gestattet den Feldbahnwagen kaum die Durchfahrt. Der Boden ist schlammig, überall sickert Wasser ein. Die Spriessung und die Schienen versetzen uns völlig in die Atmosphäre einer Grube. Dieser Gang scheint unendlich, und wir waten um die Wette. Schliesslich erreichen wir den Fuss eines Schutthaufens. Italienische Arbeiter ziehen uns mit Gummischläuchen hinauf. Wir sind auf dem halben Weg des Tunnels. Vor acht Tagen gab hier die letzte Sprengladung den Durchgang frei. In einem allgemeinen Freudentaumel umarmten sich die italienische und die Schweizer Mannschaft und feierten unter vielen Reden das Ereignis in einem Gewitter von Blitzlichtern.

Von der Durchbruchstelle aus sehen wir den schweizerischen Teil des Tunnels, ein riesiges Gewölbe, taghell erleuchtet, fertiggestellt, verlassen und still. Man hört nur das Pfeifen der aus der Leitung ausströmenden Druckluft. Es ist kühl. Das ist nicht mehr der warme Südwind sondern der harte und kalte Nordwind. Drei Kilometer weiter vorn zeigt ein weisser Punkt den Ausgang an. Während dreiviertel Stunden wird dieser Punkt immer grosser, und die vom Gewölbe hängenden Eiszapfen werden immer länger, um schliesslich riesige Ausmasse anzunehmen. Der Weg ist bald fest, bald schlammig und überschwemmt Der Schweizer Zöllner, der uns beim Ausgang erwartet, ist von unserem Erscheinen sehr überrascht, ist doch noch jeder Verkehr durch den Tunnel verboten. Er macht jedoch keine Schwierigkeiten, trotzdem wir aussehen wie Vaganten, mit achttägigem Bart, bis über die Knie kotbespritzt und beladen wie Lastesel. In der Dunkelheit und im dichten Nebel erkennen wir zwischen den Schneehaufen einen breiten Bauplatz.

Da wir einen Vorsprung auf der Marschtabelle haben, beschliessen wir, nach Bourg-St.Pierre hinunterzumarschieren. Plötzlich taucht hinter uns ein grosser Lastwagen auf und hält an. Der Chauffeur lässt uns einsteigen. Ein zweiter Lastwagen nimmt die anderen Kameraden, und so fahren wir im Schuss auf einer holprigen und löcherigen Strasse zwischen Schneemauern weiter. Da die Lastwagen nach Liddes fahren, beschliessen wir, die Nacht dort zu verbringen, um am nächsten Tag auf die Tour de Bavon zu steigen und dann Orsières zu erreichen.

Der Hotelier von Liddes erklärt uns, es sei ihm nicht möglich, uns über Nacht zu beherbergen, alles sei besetzt. Er willigt jedoch ein, uns ein Nachtessen zuzubereiten. Nach einer Woche im Gebirge nehmen wir den Vorschlag begeistert an. Die Gaststube ist voll Arbeiter. Der Jux-Box leiert ununterbrochen, während der Fendant unsere müden Gesichter aufhellt. Schliesslich wird uns gemeldet, der Pfarrer des Dorfes sei bereit, uns zu beherbergen. Draussen schneit es grosse Flocken. Durch kleine Gässchen erreichen wir die Pfarrei und werden von Hochwürden trotz unserer Schmutzigkeit und unserer verschwitzten Kleider mit einem freundlichen Lächeln empfangen. Die Pfarrei ist sehr geräumig; lange plattenbelegte Gänge bezeugen, dass sie gebaut wurde, um auch Reisende beherbergen zu können, als sie noch zu Fuss, zu Pferd oder mit der Kutsche kamen. Man stellt uns Zimmer mit sehr sauberen Betten und ein Badzimmer mit warmem Wasser zur Verfügung. Während es draussen die ganze Nacht schneit, schlafen wir ausgezeichnet. Am Morgen kehren wir auf dem weichen Neuschnee ins Restaurant zurück. Vergeblich schauen wir hinauf in Richtung Tour de Bavon, die in Schneewolken verschwindet.

Alles hat ein Ende, und Ski sind wir ja jetzt gefahren! So wenden wir uns schliesslich zum Tal hinunter. Mit geschulterten Rucksäcken und Ski machen wir uns auf den Weg nach Orsières.

Plötzlich öffnet sich der Himmel und die Sonne beleuchtet diese letzte Etappe, belebt die Bäume, die ersten Blumen, die grünen Hügel! Es ist warm. Es ist gut marschieren, und da die Strasse abfällt, fühlt man sich federleicht. Selige Stunde! Nichts ist eilig. Wir halten an, plaudern, gehen singend weiter. Uns gegenüber steigt die ganz verschneite Combe d' Orny in die Wolken. Über unbekannte und malerische Strassen traversieren wir Orsières. Kaum sind wir unter dem Vordach des Bahnhofs angelangt, fängt es an, wütend zu regnen, und es rinnt von allen Seiten. Es ist das Ende unserer Tour. So bleibt noch die Rückfahrt nach Martigny, ein Picknick und die gemütliche Heimkehr durch denÜbersetzung, nach dem französischen Text, Nina Pfister )

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