Watzmann-Ostwand
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Watzmann-Ostwand

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Sommer 1950,. _......

Von Fred Morgenthaler

Mit 1 Bild ( 122Bern ) Wunsch Es hat eigentlich schon im vorigen Sommer angefangen. An einem strahlenden Ferientag. Und mit unsern Salzburger Freunden zusammen. « Morgen gehen wir alle mal an den Königsee. Das müsst Ihr auch gesehen haben 1 » So hiess es damals.

Und so war denn damals auch der Augenblick gekommen, wo wir mitten auf dem blauen See mit Rudern aufhörten und gebannt nach der einen Seite hinüberschauten: das Bild von St. Bartholomä! Eine alte Kapelle, knapp über dem Wasser, weissgetünchte Mauern, seltsame Kuppeln, dahinter grüne Wipfel, Wald, dann ein Taleinschnitt, beidseitig von hochstrebenden Felsen eingeschlossen, im Hintergrunde aber, dieses Tal ab-riegelnd, eine gewaltige, im prallen Sonnenlichte silbergrau gleissende Riesenmauer: die Watzmann-Ostwand! Ein unvergesslicher Anblick! Immer wieder musste ich innehalten und hinaufblicken. Sicher sind bei diesem prächtigen Wetter auch Menschen dort oben, seilverbundene Menschen! Aber nichts war zu entdecken von blossem Auge. Zu gross einerseits und zu klein anderseits! Volle zweitausend Meter hoch thront der stolze Gipfelgrat der Südspitze über dem Königsee.

Dieses Bild von damals habe ich in mir mitgenommen. Und ich habe oft davon geträumt.

So kam es, dass ich dieses Jahr von Salzburg wieder nach St. Bartholomä fuhr. Diesmal allein. Und voller Wünsche. Wird schon ein Führer da oben sein, dachte ich. Aber der Mann am Schalter der Schiffslände schüttelte auf meine Frage nur den Kopf: « Die sind doch nicht hier, die sind in Berchtesgaden unten! » — « Ja, was soll ich denn nun tun? » — « Wollen Sie denn in die Ostwand? » — « Klar, deswegen bin ich doch hier! » — « Ist aber gefährlich jetzt. Hat noch allerhand Neuschnee auf den Bändern. Der rutscht dann ab, wenn die Sonne kommt! » — « Aber ich kann doch nicht warten, bis er abgerutscht ist! » — « Na gut, dann gehn Sie dort durch, gleich links nach dem Biergarten kommt das Försterhaus. Fragen Sie dort mal, Aschauer weiss alles, was mit der Ostwand zusammenhängt! » Ich ging. Aber das Försterhaus war zugeschlossen. Niemand kam auf mein Läuten. Also wieder zurück. Diesmal zur Ansichtskartenbude. « Können Sie mir sagen, wo der Förster steckt? » — « Der ist nachmittags nach dem Obersee gefahren. Kommt wohl erst in zwei Stunden wieder zurück! » — Zwei ganze Stunden! Ich trank ungeduldig einen Humpen bayrisches Bier, rannte dann noch ungeduldiger hin und her. Bald von der Schiffslände nach dem Waldrand, bald umgekehrt. Man sah so beides: den See und die Ostwand. Endlich ein Boot von oben. Unter den Aussteigenden ein hochgewachsener Mann in einheimischer Tracht, eine zierliche Frau am Arme. « Herr Aschauer! » — « Ja, was wollen Sie von mir? » — Ich stellte mich vor, erzählte. « Was, ein Schweizer sind Sie? Und in die Ostwand wollen Sie? Da sind Sie wohl der erste, kann mich wirklich nicht entsinnen, dass da schon jemals Schweizer durchgestiegen sind! Na, kommen Sie gleich mit nach Hause, wollen sehn, was sich tun lässt! » Die Stunden, die nun folgten, waren aufregend. Auch für Aschauer, der sich grossartig für mich einsetzte. Einmal fluchte er am Draht: « Himmel-sakra — nun ist mal ein Schweizer da, der in die Ostwand will, und nun kriegt man nicht mal einen Führer! » — Aber eben, es war schon später Nachmittag eines schönen Sonntages. Wo er auch auf läutete, hiess es « Abwesend », « Nicht erreichbar ». « Kann leider nichts ausrichten! Kommen Sie um 8 Uhr nochmals her, die Bergwacht wird dann aufläuten !» — Er drückte mir einen Schlüssel in die Hand: « Sie können jedenfalls in der Schlaf statte über- nachten, in dem kleinen Häuserl dort drüben! Ist nur für Ostwandbegeher benutzbar! » Ich ging hinüber. Es war eine kleine Alphütte. Oben ein dunkler Raum, Schlafpritschen mit Heu und Wolldecken, ein Tisch, Bänke, von der Decke herunterhängend eine Kerzenlaterne. Ungefähr so, wie man es gewohnt war. Ich stellte den Rucksack in eine Ecke, trat wieder vor die Türe hinaus. Was nun? Wohl das Eisbachtal anschauen. Und die Ostwand. Die Unruhe war nun wieder da, trieb mich vorwärts. Ich sprang Gräben hinunter, rannte auf der andern Seite wieder hoch, keuchend, schwitzend. Und dann stand ich vor der gewaltigen, riesigen Wand. Der Geröllkessel endete in einem steilen, weissen Dreieck: die « Eiskapelle », das Gletscherchen, das die im Frühjahr die Wand herunterrasenden Lawinenmassen immer von neuem nähren. Darüber ein Felsriegel. Ich liess die Augen langsam höher wandern: die erste Terrasse, steile Schluchten, Schroffen, Absätze, zweite Terrasse, wieder Eis, steiler als die Eiskapelle, Platten, dann Felsen, immer Felsen, gewaltige, himmelhohe Bollwerke, unterbrochen von seltsamen, in steiler Wucht nach links emporstrebenden Bänderreihen, dazwischen Kamine, Schluchten, Kulissen, endlos. Düsteres Abendgrau hing jetzt in der Wand. Nur der Neuschnee in den Bändern des Gipfelaufbaues leuchtete. Irgendwo polterte Steinschlag. Dann war wieder Stille, lautlose Stille. Den Kopf weit im Nacken, blieben meine Augen am zerhackten Grat der Südspitze haften. Welch ein Weg, dort hinauf! Welche Fülle unermesslicher Eindrücke! Und dann fiel mir plötzlich die einbrechende Dämmerung auf. 7% Uhr schon vorbei! Zurück! Noch ein Blick in die gewaltige Runde; dann drehte ich um und lief im Eilschritt wieder das Eisbachtal hinunter.

Unten im Försterhaus hing der gute Aschauer schon wieder am Draht und telephonierte nach allen Richtungen. « Wie, auch nicht erreichbarUnd der Hang RudiAch so, in der Blaueishütte obenNa gut, ich werde um zehn noch einmal aufrufen !» — Er hing den Hörer wieder auf. « Schuster ist immer noch nicht zurück, aber die Bergwacht weiss nun Bescheid und wird nach ihm Ausschau halten! » — « Ja, Herr Aschauer, ich weiss gar nicht, wie ich Ihnen danken soll? » — Er winkte ab: « Lassen Sie doch! Wenn nur der Schuster Hellmuth noch rechtzeitig anrückt! » — Schuster Hellmuth! Dieser Name fing langsam in meinem Gehirn an zu kreisen. Hängt wohl alles davon ab: Ostwand oder wieder zurück nach Salzburg! Die Heimreise aufschieben konnte ich ja nicht. « Sie haben unterdessen Besuch erhalten! » sagte Aschauer, « ein junger Mann aus Mittenwalde. Wollte noch nach der Gotzenalm hinauf, aber es ist ja schon viel zu spät. Ich habe ihm erlaubt, hier zu bleiben! » — « Das ist nett, dann bin ich nicht ganz allein. Wenn es gestattet ist, so komme ich um 10 Uhr nochmals vorbei! » — « Natürlich, kommen Sie nur! » Meinen Schlafkumpan fand ich unter einem Baume sitzend und ein Lied in die Nacht hinaustrompetend. Wir gingen zusammen nach der Schlafstätte und machten unsere Lager zurecht. Dann verzehrten wir etwas aus dem Rucksack. Die Unterhaltung war höchst amüsant. Er sprach nur einen urfidelen bayrischen Dialekt, den ich kaum verstand. Und er wiederum schien mein Hochdeutsch noch nie im Leben gehört zu haben. Aber wir redeten munter darauf los. Auch im Wirtshaus drüben. Nachher stolperten wir durch die pechschwarze Nacht wieder zum Försterhaus. Aschauer wartete schon. « Es sieht böse aus! » meinte er, « die Bergwacht hat soeben angerufen, Schuster ist immer noch nicht zu Hause. Nun muss schon allerhand Glück mit dabei sein! » — Ich machte wohl ein dummes Gesicht. « Na, na, es ist nicht ausgeschlossen, dass morgen früh noch ein Anruf kommt. Ich werde Sie dann rechtzeitig wecken. Aber nun kommen Sie doch noch eine Weile lang herein! » Ich folgte dieser Aufforderung gerne. Eine heimelige Jägerstube, an den Wänden Flinten und Geweihe, Tierbilder, darunter altvaterische Truhen. Während die Frau strickend am Tische sass, schmauchten wir unsere Pfeifen und plauderten ein bisschen von der Schweiz, von Bern, vom Berchtesgadener Land, von der Ostwand. « Es sind heute nachmittag schon drei Partien eingestiegen! » erzählte Aschauer, « sie werden nun beim Biwackblock nächtigen !» — Aber mir schien die Ostwand nun schon unerreichbar weit weg zu sein. Hellmuth Schuster ist ja nicht zurück! Wie soll er da morgen rechtzeitig da sein? Dann wünschten wir uns « Gute Nacht ». « Hoffen wir, dass doch noch alles gut kommt! » sagte Frau Aschauer, « wir halten Ihnen den Daumen! » — Aber ich glaubte nichts mehr, alles umsonst, Ostwand erledigt, futsch. Aber trotzdem schlief ich bald ein. Denn ich war hundemüde.

Erfüllung Ich erwache, reibe mir schlaftrunken die Augen. Wo bin ich denn? Ich sehe neben mir den Bayer: Ach so: St. Bartholomä, Watzmann. Was wohlDa klappt die Türe auf, Licht flutet herein. Und mit dem Licht auch der Kopf von Aschauer. « Sind Sie schon wachin einer halben Stunde ist der Führer da! » — « Was? » — Aber die Türe ist schon wieder zu. Unglaublich! Ich springe auf. Anziehen, Wolldecken zusammen, etwas Brot, kalten Tee, Ovo, Rucksack zusammengeschnürt, fertig. Im Försterhaus sitzen sie beim Frühstück. « Guten Morgen! » — Ich will für die grossartige Mithilfe danken, aber sie winken ab. « Hauptsache ist doch, dass es noch geklappt hat! Schuster ist erst um Mitternacht mit dem Motorrad von Salzburg gekommen und hat dann gleich von der Bergwacht Bescheid erhalten. Dort kommt er ja schon! » — Sie begleiten mich. Vor dem Garten treffen wir mit Schuster zusammen. Aschauer macht uns bekannt. « Freut mich! » — Einen Bruchteil lang bleiben seine Augen musternd auf meinem Gesicht, dann: « Das Wetter scheint gut zu sein. Was meinst du, Georg? » — « Bestimmt, das hält sich bis morgen! » — « Na gut, dann kommen Sie. Auf Wiedersehen! » — « Bhüet di, Hellmuth! » — Ich verabschiede mich rasch von den liebgewordenen Menschen.

Eine Weile lang laufen wir schweigend nebeneinander her, dann blickt Schuster zu mir herüber — « Ja, Herr ich weiss nun eigentlich gar nicht, wer Sie sind. Und wir gehen doch immerhin zusammen in die Ostwand! » — Ich kann das gut verstehen, mitten in der Nacht ein Anruf: Am Königsee oben wartet einer, der in die Ostwand will. Einfach! Aber wer ist derjenige«Ja, ich bin nicht ein schlechter Berggänger. Ich glaube, ich werde Sie bestimmt nicht enttäuschen! » — Die Antwort scheint ihm zu gefallen. Wir kommen ins Gespräch und beschleunigen unsere Schritte dabei immer mehr. « Welche Route haben Sie sich vorgenommen? » — « Ich glaube den Keder-bacherweg. Die Ostwand wird für mich doch eine einmalige Sache bleiben! » — « Das ist richtig! Der Berchtesgadenerweg ist schöner, aber für das erste und vielleicht auch das letzte Mal würde auch ich der alten, klassischen Route den Vorzug geben! » — « Wie lange rechnen Sie bis zur Südspitze? » — « Gute Gänger und gute Verhältnisse vorausgesetzt, durchschnittlich acht bis neun Stunden! » — « Da haben wir noch allerlei vor uns! » — « Ja, ja, und wir sollten um diese Zeit schon hoch über der Eiskapelle sein! » Wir hasten schweigend weiter, den steilen Waldweg hinauf. Die Luft ist feucht und kalt. Dicker Nebel hängt in den Tannen. Ringsum lautlose Stille. Da sind schon die Gräben, dann die Umkehrstelle von gestern. Von der Ostwand sieht man nichts. Aber ich ahne sie. Ein Bach gurgelt unter uns. Hinunter. Sprung. Wieder hinauf. Anstieg. Beidseitig Geröll. Vorne milchiges Weiss, durch Grau schimmernd. Es wird immer lichter. Und plötzlich ist blauer Himmel über uns, Sonne. « Sehn Sie, wir tauchen schon aus dem Nebel hoch! » — Der steile Firnhang der Eiskapelle liegt vor uns. Links unten ein gähnendes Loch, aus dem der Bach sprudelt. Schuster sieht nach der Uhr. « Genau eine halbe Stunde! Das nennt man gut gegangen! » — Er streift den Rucksack von den Schultern. « Wollen kurz rasten und etwas essen. Hier ist nämlich der Weg zu Ende! » In der einen Hand die Feldflasche, in der andern ein Stück Brot halte ich kurz Umschau. Eine unerhörte Landschaft: Tausendneunhundert Meter Fels über dir! Und kilometerbreit! Vor der Nase die Ostwand, zur Rechten die Südwand der Watzmannkinder, zur Linken die Hachelköpfe. Und dann blicke ich zu Schuster hin, der schon das Seil bereit macht: schlank, sehnig, gebräunt, scharfe Züge. Ja, zu dem kann man schon Zutrauen haben! In meinem Magen ist kein beklemmendes Gefühl; eher geladen bin ich, wie eine Sprungfeder. Ich schnüre den Rucksack wieder zu. Er gibt mir eine Brustschlinge, dann den Karabiner mit dem Seil. Nachher noch ein prüfender Blick — « Alles in Ordnung? » — « Ja! » — « Also, geh'n wir. Immer gleichmässig, und keine hohen Schritte. Wir müssen Kräfte sparen! » Und nun steigen wir. Ich mit einem wilden Freudentaumel in mir: Du gehst die Ostwand an! Dein Traum! Wer hätte das gestern nacht noch gedacht! Und dann helles Wetter, nach fünf Regentagen in Salzburg! Der Firn ist nicht allzu steil, und die Vibrams fassen gut. Überall sind eingefrorene Steintrümmer und kleine Rillen. Wir halten schräg rechts empor und stehen fast plötzlich vor der Randkluft. Schuster deutet hinunter. Himmel, wer hätte das unten gedacht: ein grundloser, blaugrünschimmernder, dann in finstere Nacht übergehender Schlund! Wasser plätschert irgendwo in der Tiefe. Links von uns bildet ein mächtiger Eisbrocken eine Brücke. Schuster mustert ihn abwägend. « Könnte gehen, liegt auf beiden Seiten gut auf. Aber sicher ist sicher. Noch ein bisschen nach rechts absteigen! » — Dann: « Hier geht es. Schultersicherung und gut aufpassen! » — Er verschwindet vor mir hinter einem Eisbuckel, erscheint auf der andern Seite bald wieder, die steilen, aber gut gestuften Felsen hochklimmend. Nun holt er das Seil ein. « Nachkommen! » — Der Übergang ist hier nicht schwierig, und ich stehe bald neben ihm. « Weiter — Halt, lassen Sie die Schlinge aus der Hand! Sie dürfen während der ganzen Fahrt keine Schlinge in der Hand behalten! Nicht eine! Versprechen Sie mir das! Sonst habe ich kein Gefühl, was hinter mir vorgeht! » — « Ist gut! Es geschah aus Gewohnheit, ich gehe manchmal auch vorne! » — Zwei Seillängen geht es steil empor, dann stehen wir über dem Felsriegel. Ich werfe einen kurzen Blick zurück: die Randkluft der Eiskapelle sieht von hier imposant aus. Wir schlagen nun ein gehöriges Tempo an, folgen einem in hohem Gras ausgetretenen Steiglein, das in Richtung Kleiner Watzmann emporführt. Eine kleine Plattenverschneidung wird überklettert. Auf einer eingelassenen Gedenktafel lese ich den Namen « Schwaighofer ». Wir halten auf die zuäusserst rechts gelegene der drei Rinnen, die den Abbruch des Schöllhornkars durchziehen, zu, folgen dann eine Weile ihrer rechten Begrenzung, halten wieder etwas links. Oben wird eine tiefe Schlucht sichtbar. Dieses Stück erscheint mir wie ein verzwickter Irrgarten. Man hat keinen Überblick. Über ausgewaschenen Fels, bauchige Platten und Wülste geht es hoch. Dann folgt eine enge Rinne, die in Richtung Watzmannkinder steil emporführt. « Aber nur gute zwei Seillängen folgen, dann die Rinne scharf nach links verlassen! » Schuster deutet nach einer Weile auf Nagelkratzer im Fels. Wir ersteigen die Begrenzungsrippe zur Linken. « Nun kommt der Quergang! » — Eine abschüssige, von Rasenpolstern und brüchigen Felsabsätzen durchsetzte Schroffenwand liegt vor uns. Ziemlich ausgesetzt queren wir sie nach links aufwärts und erreichen den Randabbruch des Schöllhornkars. « Damit hätten wir den Sockel hinter uns, nun kommt das Herz der Ostwand!»Schuster hält einen Augenblick inne und weist mit der Hand nach links hinüber: « Drüben liegt der Biwakblock! » — Ich hatte davon gelesen: ein riesiger Block, der eine Überdachung bildet. Die Begeher der Ostwand hatten im Laufe der Jahre aus Steinen Windschutzmauern gebaut und Gras heraufgeschleppt. Es soll sich dort ganz gut nächtigen lassen. « Rechts dahinter setzt der Salzburger Weg an. Eine schwierige Fahrt! » — Ich glaube es gerne.Von unserem Standpunkt aus sieht es ungemütlich aus.

Wir steigen wieder forsch bergan.

Zurückblickend weiss ich nun: Die Watzmann-Ostwand hat vier Etappen, die jede ihren besonderen Charakter in sich trägt. Dies ist nun die zweite. Über Geröll und schuttbedeckte Platten steigen wir einer weissen Fläche entgegen, die über uns steil in einen Felswinkel emporführt. Die Wandfluchten im Halbrund scheinen immer gewaltiger und erdrückender. Es fängt an ernst zu werden! Ich kann mir sehr gut Steinschlag vorstellen, der aus dieser ungeheuren Höhe herunterprasselt. Schuster vor mir hält plötzlich: « Da ist jemand oben! » — Ein ferner Ruf erreicht uns. « Dort sind sie, vor der Zellerhöhle! » — Ich folge seinem ausgestreckten Arm, sehe hoch oben eine steile Rampe, die in einem schwarzen Loch endet. Vier winzige Gestalten gleiten eben davor vorüber und verschwinden wieder hinter vorgelagerten Felsen. « Sind noch nicht weit, die Herrschaften. Haben doch beim Biwakblock genächtigt! » meint Schuster beim Weitergehen.

Dann erreichen wir bald den Schöllhorngletscher. Er ist bedeutend steiler als die Eiskapelle. Und auch zerrissener. In der Mitte gähnt eine mächtige Längsspalte. An ihrem linken Rande emporsteigend, geraten wir auf Blankeis, das den Vibrams keinen Halt mehr bietet. Schuster holt den Pickel vom Rucksack und lässt mir eine Weile lang die Eissplitter vor den Bauch spritzen. Dann geht es wieder ohne Stufen weiter, immer schräg rechts empor. Bis wir wieder vor einem gähnenden, schwarzen Schlund stehen: die berühmte Randkluft unter der Schöllhornplatte. Die Totengruft der Ostwand I Ich muss unwillkürlich an den jungen Schöllhorn denken. Und an die vielen andern, die ihm nachfolgten. Ja, wo wir stehen, ist sie unüberschreitbar. Anderthalb Meter breit, auf der andern Seite glatte Plattenwand. Schuster deutet nach rechts: « Müssen ein bisschen absteigen, im Winkel dort geht es meist am besten! » — Wir finden bald die Stelle, die unsere Vorgänger zum Übergang hergerichtet haben. Stufen führen noch zwei Meter hinunter. Und Griffe für die Hände. Schuster ist rasch auf der andern Seite und klettert dort vorsichtig die glatten Platten hoch. Dann holt er, hinter einem Felsbuckel sitzend, das Seil ein. « Nachkommen! » — Ich bin bald unten, spreize über achtzig Meter unsichtbare Tiefe, arbeite mich an kleinen Vorsprüngen und Unebenheiten hoch. Dann stehe ich neben ihm. Er deutet nur nach oben. « Weiter, ist steinschlaggefährdet! » — Wir hasten die Felsen hinauf, erreichen eine Rampe. Ich sehe einen mit roter Farbe hingeklecksten Pfeil, der nach links weist. Schuster erklärt schnell, auf eine nach rechts sehr steil emporführende plattige Verschneidung zeigend: « Hier haben sich viele verstiegen. Anfangs geht es gut, aber die Verschneidung endet oben in ungangbaren Platten, wo es kein Vorwärts und kein Zurück mehr gibt. Was dann folgt, ist Absturz in die Randkluft! » — Wir verfolgen die Rampe ein paar Meter nach links und gelangen um eine Kante herum, dann wieder schräg ansteigend auf einen Absatz, dessen schmäler werdende Fortsetzung zur Linken in einem von senkrechten Abbruchen gebildeten Winkel endet. Durch eine sehr steile, schluchtartige Rinne, die vom Fusspunkt des Winkels abbricht, sehe ich direkt in den weitgeöffneten Rachen der Randkluft hinunter. Ich ahne, wo ich bin. « Das ist wohl die Schöllhornplatte? » — Schuster nickt: « Ja, ist ein bisschen heikel. Bleiben Sie hier, bis ich oben rufe. Und gut sichern! » — Diesmal steckt er den Kletterhammer und ein paar Haken zu sich. « Brauchen tue ich sie wohl nicht, ist nur für alle Fälle! » — Während ich, in einer Nische verspreizt, das Seil ablaufen lasse, klettert er in der Verschneidung hoch, langsam und bedächtig, aber sicher. Keine Bewegung ist da, die hätte widerrufen werden können. Unter dem Überhang angelangt, quert er vorsichtig nach links. Ich sehe, dass die Tritte und Griffe nach abwärts geschichtet sind und dass alles vor Nässe und Glätte glänzt. Nun ersteigt er schon das abschüssige Dach des Bollwerkes, verschwindet einen Augenblick hinter Felsen, taucht auf dem Kopfe des Pfeilers wieder auf und winkt: « Nachkommen! » — Ich stehe auch bald dort, wo es nach oben nicht mehr weiter geht und beginne zu queren. Auch diese Stelle liegt verhältnismässig schnell hinter mir.

Aber ich weiss: Wenn das Seil, das einen mit dem Kameraden verbindet, nach oben weist, ist alles einfacher. Für den Vorauskletternden ist die Schöllhornplatte bestimmt heikel, besonders die Stelle nach der kurzen Querung, wo man zwischen den Beinen hindurch in die tiefe Randkluft hinuntersieht. Schuster nickt anerkennend, wie ich bei ihm anlange. « Sie machen Ihrem Lande alle Ehre! » — Dann geht es sogleich weiter. Wir folgen dem Felsbande nach links bis zu einer grossen, steil nach rechts emporführenden, linkerhand von Überhängen begrenzten Verschneidung und gelangen über vom Steinschlag glatt polierte, aber gut begehbare Platten bald zur Zellerhöhle, wo wir eine verdiente Rast einschalten. Ich will sogleich in den Rucksack greifen, aber Schuster langt mir ein feuchtes, vergilbtes Buch. « Bitte, erst eintragen. Ist wichtig, es kann geschehen was will, die Bergwacht weiss dann immer Bescheid: Bis hierher sind sie gekommen oder nicht gekommen! » — Nachher trinken wir Tee mit Ovo und kauen etwas dazu. Der Ausblick ist einzigartig: vor den Fussen steiler Fels, ins Leere abbrechend, tief unten das Eisbachtal, in der Ferne der Königsee. Was man bei dieser Rast besonders angenehm empfindet, ist das Gefühl absoluter Sicherheit vor Steinschlag.

« Nun kommt die dritte Etappe! », sagt Schuster beim Aufbruch, « der Weg bis zur Gipfelschlucht. Bleiben Sie hier, bis ich rufe, und sichern Sie gut! » — Er verschwindet nach links aus der Höhle. Das Seil läuft langsam ab. « Drei MeterNoch zwei Meter! » — « Gut — Nachkommen! » — Es wird gleich luftig: über eine steile, ungegliederte Plattenflucht muss man auf die Überdachung der Höhle kommen. Griffe sind keine da. Und von Schuster ist nichts zu sehen. Der sitzt höher oben irgendwo hinter einem Vorsprung. Also dem Seil nach. Plötzlich geht es nicht mehr weiter. Ich stehe zu tief, muss wieder zurück — « Das Seil loseNoch mehr lose. » — Auf kleinen Unebenheiten links empor, um eine Kante herum turnen, dann stehe ich wieder bei ihm. Er deutet nach oben: « Sofort weiter. Hier ist die gefährlichste Stelle! » — Man ahnt es: der Fusspunkt eines gewaltigen Trichters, ringsum im Halbkreis ungeheure Wandfluchten, auf der Plattenflucht, wo wir stehen, keine Handbreite ohne Steinschlagspuren. Wir hasten keuchend durch die Gefahrzone, immer scharf links aufwärts haltend. Einmal blickt Schuster kurz zurück und grinst: « Sie soan a Luder! » — Es klingt freundschaftlich. Auch ich grinse. Plötzlich bleiben wir beide stehen: hoch oben ein fremder Ton, kurz, hart, dann Prasseln. « Steinschlag. Dort! » — In wahnsinniger Höhe pfeilen schwarze Flecke in die Luft hinaus, werden grösser und grösser, sausen in pfeifendem Fluge hinter uns die Wände hinunter. In der Tiefe Poltern, dann wieder Stille. « Das war noch gnädig. Manchmal sind es ganz grosse Brocken, die beim Aufschlagen wie Granaten zersplittern! » Wir hasten weiter, nun fast horizontal, über geröllbedeckte Platten, bauchige Wülste und dann einen schroff igen Rücken hinauf. « Der Beginn des Dritten Bandes !» — « Ist gut. Unglaublich, wie ich schnaufen muss! » — « Geht mir nicht besser. Kein Wunder, wir steigen ja wie toll! » — Der Rücken endet im « Horn », einem spitzen Aufschwung. Das Band führt rechts davon weiter, erst schmal, dann breiter. Plötzlich hört es auf. « Die Unterbrechungs- stelle, bei uns .Kaserer Eck'genannt. Wollen wieder sichern I » — Schuster klettert rechts hoch, quert nach links, turnt um eine Ecke, verschwindet. « Nachkommen! » — Wie ich auch um die Kante bin, sehe ich ihn sichernd in einem Winkel stehen. Er deutet mit dem Zeigfinger: « Hinuntersehen ». Himmel: achtzig Meter senkrecht in der Tiefe das schwach ausgeprägte « Zweite Band », weitere achtzig Meter tiefer die breite, geröllfreie, steilansteigende Felsterrasse des « Ersten Bandes » und dann sind neunhundert oder tausend Meter Luft dazwischen bis zur Eiskapelle. Ein unerhörter Tiefblick«Ist die ausgesetzteste Stelle der Wand! » — Ein brüchiges Gesims führt uns zur schmäler werdenden Fortsetzung des Bandes. Dort treffen wir bald auf die, die uns von der Zellerhöhle zugerufen haben, im ganzen sieben Mann in drei Partien. Nach der Begrüssung erfahren wir, dass sie schon am Vortage eingestiegen sind und beim Biwakblock genächtigt haben. Im unklaren über den einzuschlagenden Weiterweg hatten sie hier auf uns gewartet. « Ist es erlaubt anzuschliessen? » fragen sie. « Natürlich, schaut 's nur zu, dass ihr nachkommt! » — Wir schlagen wieder ein gehöriges Tempo an. Es geht nun in südlicher Richtung weiter, immer über Bänder und steiles Schroffengelände ansteigend. Bis wir vor einer breiten, plattigen Mulde stehen, in der noch Schneereste liegen und die nach oben hin die ganze Wand als Schlucht zu durchfurchen scheint. « Die Gipfelschlucht! » — Schuster schaltet eine kurze Rast ein. « Nun haben wir noch siebenhundert Meter Höhe über uns. Ungefähr tausendzweihundert Meter Wandhöhe liegen hinter uns! » — Ja, ich fange es langsam an zu spüren: « Habe manchmal im rechten Oberarm und in den Schenkeln ein Gefühl wie beginnender Krampf! » — « Das ist typisch für das erstemal Ostwand! » lacht er nur. Dann: « Bis zum Pfeiler ist es nun nicht mehr schwierig, es heisst nur Höhe gewinnen! » Steiles Gehgelände folgt nun: kurze Aufschwünge, Schroffen, Geröllbänder, Platten. Wir folgen der rechtsseitigen Begrenzungsrippe der Schlucht, steigen Schritt für Schritt, wortlos, keuchend. In meinen Beinen ist nun plötzlich bleierne Müdigkeit. Es braucht Überwindung, das Tempo durchzuhalten. Die Pulse hämmern. Und alles schmerzt: die Rucksackriemen, der Nacken, die Arme, die Beine. Ja, der Weg, der hinter uns liegt! Und das Tempo! Ich muss mich zusammenreissen, um nicht immer nach den Watz-mannkindern zu schauen. Sie überragen uns noch um etwas. So geht es endlos höher. Endlich eine flache, schwachgeneigte Plattform. « Die Dabelstein-platte. Ist gleich hoch wie die Watzmannkinder. Aber wir wollen gleich durchsteigen bis zum .Massigen Pfeiler '. Sind nur noch hundertfünfzig Meter. Geht es noch? » — « Ja.Nur weiter! » — Und wieder Schritt für Schritt, wortlos, verbissen. Und dann Neuschnee, tiefe Lagen Neuschnee. Die Füsse verschwinden in der haltlosen Masse. Manchmal sacke ich bis zu den Knien ein, stemme mich keuchend wieder hoch, fluche. Eine elende Schinderei! Und dann eine hohe Wand vor uns. Eine schwarze, überhängende Wand. Schmelzwasser tropft von oben wie Regen. Der « Massige Pfeiler! » An seinem Fusse eine breite, tiefe Nische. Endlich Rast! Ich lasse mich langsam zu Boden gleiten, streife sitzend den Rucksack ab. Nur eine Minute lang stille liegen, nicht steigen! Dann wühle ich im Rucksack nach der Feldflasche.

Leer. Ich stelle sie neben mich. Wasser tropft von oben hinein. Zucker und Ovo dazu. Wie das mundet! Auch Schuster trinkt davon. Ich rutsche neben ihn, und er erklärt mir, dass dies der vorgesehene Platz für die Biwakschachtel sei. « Nun haben wir noch ungefähr vierhundert Meter über uns. Sobald die andern da sind, gehen wir weiter. » Und nun nehmen wir das letzte Stück Ostwand in Angriff. Das Gelände wird wieder bedeutend steiler. Und des Neuschnees wegen viel mühsamer. Die Kraft, die man aus der kurzen Rast geschöpft hat, ist bald verbraucht. Schwer atmend stampfen wir höher. Felsen werden überklettert. Dann ein langer, steiler Schneehang. Schnaufen, schnaufen! Schuster blickt einmal kurz zurück. « Nun fangt 's langsam an, aufs Gemüt zu schlagen! » — Ich kann nur nicken. Wieder Felsen. Ein Vorsprung. Halt. « Nun müssen wir nochmals sichern. Zum letztenmal, es ist die Schlusswand! » — Eine etwa zwölf Meter hohe, senkrechte Wandstufe. Nach links haltend geht es noch kurze, kaminartige Rinnen hinauf; dann nimmt die Steilheit ab. Es fällt mir auf, dass plötzlich kein Schnee mehr unter den Fussen ist, nur noch grobes Geröll und Felsen. Und dann sehe ich mit einemmal auf die andere Seite hinüber: ein tiefes Tal, dahinter Berge, in der Ferne weisse Gipfel. Ich bleibe einfach stehen, schaue. Seltsam, es geht nicht mehr höher. Du bist oben! Und dann erwache ich: Schuster steht leuchtenden Blickes vor mir, klopft mir auf die Schulter: « Das ist ja unglaublich. Knapp siebeneinhalb Stunden vom Försterhaus. Das ist wirklich bisher meine schönste und kürzeste Führertour durch die Ostwand! » — Wir reichen uns die Hände. Nicht mehr als Fremde, nein: als Freunde. Und beim Verzehren des Restes unseres Proviantes beschliessen wir, nun nicht einfach nach dem Wimbachtal abzusteigen. Nein, der ganze Watzmanngrat muss noch überschritten werden, über die Mittelspitze und das Hocheck bis zum Watzmannhaus. Denn die lähmende Müdigkeit ist wieder weg.

Bevor wir aufbrechen gehe ich noch einmal nach links hinüber, an den Abbruch. Die Gipfelwand senkt sich steil hinunter, bricht dann ab. Mein Blick wandert das fast zweitausend Meter tiefer liegende Eisbachtal hinaus. In der Ferne der Königsee, an seinem Ufer ein winziger, weisser Fleck: St. Bartholomä. Und dann blicke ich wieder in die Tiefe. Zu sehen ist nicht viel, die Wand verdeckt sich selber. Aber noch einmal gleiten alle die Bilder vor mir vorüber, die der lange Weg in meine Erinnerung gezeichnet hat. Und ich weiss: eine grosse Wand und eine schöne, ernste Fahrt liegen hinter mir.

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