Wesen und Wirkung der Staublawinen
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Wesen und Wirkung der Staublawinen

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Ernst Gerber und Ernst Rohrer

( Zürich ) Zu diesem Thema haben wir zwei Zuschriften erhalten, die uns das « Medium der Staublawine » zu erklären suchen, deren Wirkung auf die Umgebung und Einwirkung auf den Menschen im besondern. Wir geben sie unsern Lesern bekannt, weil sie zum Überlegen anregen und für alle Fälle eine Reihe von Erscheinungen zu erklären vermögen. M. Oe.

Ernst Gerber, Zürich, schreibt:

In den sehr verdienstlichen Ausführungen von E. Rohrer in der März/April-Nummer von « Die Alpen » 1955 vermisse ich eines: die Inrechnungstellung der Tatsache, dass man es bei Staublawinen nicht mit reinen Luftströmungen zu tun hat, sondern mit Bewegungen von Luft-Schnee-Mischungen. Diese Gebilde sind schwerer als Luft und deshalb auch in der Lage, stärkere Wirkungen auszuüben als Luft. Die von der Staublawine eingehüllten oder berührten Gegenstände werden zum Teil oder sogar ganz gewichtslos und können in diesem Zustand leichter umgeworfen, fortgetragen oder ausgerissen werden. Das erklärt die von E. Rohrer berichtete Feststellung, dass Bäume bisweilen nicht von der Lawinenspitze umgelegt werden, sondern erst nachdem sie vom Schneestaub eingehüllt worden sind. Damit verlieren diese Bäume eben ihr relatives Gewicht und können dann leichter « wegrasiert » werden.

Analoge Feststellungen gelten auch für das Wasser, das als strömender, schlammiger Fluss auch bei nicht sehr grosser Geschwindigkeit ungeheuerliche Wirkungen vollbringen kann, die nur erklärlich sind durch Anerkennung der Tatsache, dass man es nicht mit Wasser vom spezifischen Gewicht 1 zu tun hat, sondern mit einer Flüssigkeit, deren spezifisches Gewicht ungefähr doppelt so hoch sein kann. In diesem Medium ist ein Felsblock verhältnismässig leicht, und so erklärt es sich, dass von einem solchen Strom nicht nur Sand, sondern auch Steine bis zu grossen Blöcken mit Leichtigkeit befördert werden. Auch die Uferverbauungen sind, wenn zufolge Unterspülung dem Auftrieb ausgesetzt, gefährdet, weil fast gewichtslos geworden.

Beim Katastrophenhochwasser der Ilfis ( 1891 ) stand ich bei Trubschachen staunend am Ufer des trüben Stromes. Der Boden zitterte fühlbar, unablässig knallten und donnerten die unter der Wasseroberfläche aufeinanderprallenden Blöcke. An zahlreichen Stellen stürzten die Uferverbauungen zusammen. Was auffiel, war die verhältnismässig nicht sehr hohe Geschwindigkeit der Strömung und der Umstand, dass das viele Holz, das mitgeführt wurde, kaum in die Flüssigkeit einzutauchen schien, sondern gewissermassen obenauf schwamm, eine Folge des hohen spezifischen Gewichtes des Stromes. Auch konnte man sehen, wie das Treibholz sich schneller fortbewegte als das Wasser.

In Gotthelfs « Wassernot im Emmental » ( 13.August 1837 ) finde ich den folgenden Passus über « die zornmütige Emme und die freche Ilfis » von der Gewalt der Wassermasse, « geschwängert mit fetter Erde und darum doppelt so schwer und doppelt so gewaltig » ( von mir hervorgehoben ). Gotthelf hat das Moment der Wirkungssteigerung zufolge höheren spezifischen Gewichtes der strömenden Masse richtig erkannt.

Noch ein anderes Ereignis, das mich seinerzeit sehr beeindruckte, unterstrich die gewaltige Kraftsteigerung von durch suspendierte schwerere Teilchen belasteten flüssigen Medien, diesmal wiederum von Luft: der 1902 beim Ausbruch des Vulkans Mont Pelé auf Martinique aufgetretene Sandsturm. Dieser war so furchtbar, dass er in kürzester Zeit die Stadt St-Pierre mit der gesamten Einwohnerschaft von 26 000 Personen völlig vernichtete. Die Auswirkungen waren derart, dass sie sich durch noch so schnelle Windbewegungen nicht erklären liessen.

Nach dem Gesagten glaube ich, dass man beim Studium der mit Staublawinen zusammenhängenden Fragen der Tatsache Rechnung tragen sollte, dass man es nicht mit reinen Luftströmungen zu tun hat, sondern mit Bewegungen eines Mediums von einem manchmal erheblich höheren spezifischen Gewicht als das der Luft. Auch dürfte die « Turbulenz » der Staublawinen mit der örtlich und zeitlich verschiedenen Dichte, d.h. dem wechselnden Schneegehalt im Innern, zusammenhängen. Die Dichte steht wiederum in einem gewissen Zusammenhang mit der Bewegungsgeschwindigkeit. Wo Ruhe eintritt, fällt der Schnee aus.tErnst Rohrer berichtet:

In jeder Staublawine wird ein Körper sehr verschiedenartig beansprucht. Dabei ist nicht nur der Bereich der Hauptströmung für die Gesamtwirkung verantwortlich, sondern auch seitlich davon ist die Zerstörung meistens gross. Gerade diese Bezirke sind für das nachträgliche Studium von besonderem Interesse. Bei der Auswertung von beobachteten Einzelheiten an einer zur Ruhe gekommenen Lawine kann man aber nie vorsichtig genug vorgehen. Vergleichung des effektiven Ablaufes ( z.B. im Film festgehalten ) mit nachträglichen Rekonstruktionen führen nur selten zur gleichen Ansicht. Vorstellung und Wirklichkeit widersprechen sich meistens und dies vor allem deshalb, weil das Schlussbild, welches zurückbleibt, auch nur die Schlussphase festzuhalten vermag.

Die Staublawine hat meistens eine sehr grosse Tiefe, ihre Wirkung ist keineswegs nur auf die Front beschränkt, und ausserdem werden ihre Züge häufig durch nachströmende Locker- oder Naßschneemassen, die sogenannten Sekundärlawinen, überdeckt. Ein Übergang von der Staublawine in eine andere Lawinenart findet nie statt. Entweder fegt die Schneemasse in grosser Geschwindigkeit und turbulenten Wirbeln selbst zu Tal - verpufft über eine Terrasse oder weitet sich derart aus, dass ihr die zerstörende Wucht genommen, sie ihren Flug verlangsamt und ausschneit. Häufig kann nach Auflösung der primären Staublawine eine Schneemasse als sekundäre Lawine vom Lockerschnee- oder Schneebrett-Typus weiterfahren. Diese ist dann langsamer und in ihrer Wirkung von anderer Art.

Der Anriss der zweiten Lawine ist nicht immer deutlich zu finden, vor allem nicht, wenn es sich um eine Lockerschneemasse handelt - besser bei Schneebrettlawinen. Ein typisches Beispiel für die Auslösung einer grossen Sekundärlawine durch eine Staublawine haben wir in Airolo im Jahre 1951 kennengelernt. Die Erhebungen in den Anrissregionen haben das folgende ergeben:

Vom Pos Meda über P. Canariscio bis P. 2429,6 war der Grat mit einer einzigen, weit ausladenden, durchschnittlich ca. 8 m hohen Wächte geziert, ebenso auch der vom P. Canariscio nach Süden verlaufende Grat. Wenig westlich des genannten Gipfels, also unmittelbar oberhalb des Laghetto, konnte deutlich das Fehlen eines langen Stückes der Wächte erkannt werden. Zwar war nicht das ganze Wächtenstück herausgerissen, sondern nur ein grosser Teil der überhängenden Partien abgebrochen. Spuren einer Rutschung oder gar ein Anriss konnten nicht beobachtet werden. Als eine Staublawine fegte vom P. Canariscio herkommend der Schnee über den Laghetto hinweg, hinunter über La Valetta gegen Stabio delle Pecore und von hier die Richtung beibehaltend an die gegenüberliegende Seite, über Motto di Cassinarolla hinaus und stiess dann dort, das feste Terrain verlassend, in die Leere des Val Canaria. Nicht nur zeigten die umgelegten und ausgekämmten Bäume dies mit aller Deutlichkeit, auch die Struktur der obersten Schneeschicht im Walde unterhalb Pontino di fuori stand mit dieser Beobachtung in Einklang. Diese genannte oberste Schicht bestand aus äusserst feinpulverigem, kompaktem, sehr druckempfindlichem Material und hatte eine Dicke von rund 30 cm. Daneben waren nur hier in einem grösseren Umkreis sämtliche Bäume mit solch feinem Schnee verkleistert, und dies nicht etwa nur einseitig, sondern überall gleichmässig. Die Tannzweige glichen eisigen Stäben, von Nadeln war nichts mehr zu erkennen. Hier hat sich die Staublawine ausgeschneit.

Bei Piotta di Abramo und von hier hinüber gegen Cassino del Buco, auf einer Höhe von ca. 2100 m, war der Anfang von Furchen und wenig ausgeprägten Rutschbahnen, die sich alle im Vallascia-Tobel sammelten. Östlich La Valetta und in der Gegend von Löita del Pizzo hingegen waren schöne Anbrüche von Schneebrettlawinen zu sehen. Die höher liegenden Schneeschichten keilten nach oben aus, und 100 m über diesen Anbrüchen trat praktisch der apere Boden zum Vorschein. Ganz ähnliche, doch verschwommenere Bilder konnten im Hauptzuge der Lawine, in der Gegend von La Valetta, beobachtet werden. Hier lag auch eine sehr ausgeprägte Grenzzone in der Schneeschichtung. Bis auf diese Höhe waren zum Teil dicke Eislamellen im Profil vorhanden, in höheren Regionen nicht mehr. Hier begann der Lockerschnee eine Tiefe von 230 und mehr Zentimeter einzunehmen, während er weiter unten, z.B. auf der Alpe di Pontino, nur mehr knapp 50 cm ausmachte.

Diese genannten Anrisse sind von den Fliegerbeobachtern auch dahin ausgelegt worden, dass es sich um die eigentlichen Anrisse der Schadenlawine handle. Dies stimmte tatsächlich, aber ihre Schlussfolgerung, dass in den Regionen oberhalb dieser Anbrüche noch viel mehr Schnee bereitliege als schon abgerutscht sei, war ein Trugschluss. Wie wir durch zweimalige Patrouillen durch Vallascia und von der Alpe Scipscius her, wie auch durch eine andere auf den P. Canariscio einwandfrei feststellen konnten, war im ganzen Einzugsgebiet dieser grossen Lawine aller gefährliche Schnee abgefahren. Die Möglichkeit eines weitern Lawinenganges ohne neuerlichen Schneefall war praktisch ausgeschlossen. Selbst durch die Sprengung der riesigen Wächte auf dem Grat zum P. Canariscio auf über 200 m Länge konnte keine grössere Schneemenge mehr, weder oberhalb des Laghetto noch in Loitascia, in Bewegung gebracht werden.

Wir können in diesem Falle erkennen, dass primär eine Staublawine talwärts stürmte, in der Luft verpuffte, dass sie aber in ihrem Laufe eine Schneebrettlawine loslöste, welche dann ihrerseits die Katastrophe von Airolo verursachte.

Einen ähnlichen Fall hatten wir in Zernez: Durch Abschuss mittels Minenwerfers von Prümarau da Barcli aus löste sich eine Staublawine und schoss mit ungeheurer Geschwindigkeit auf uns zu, verlangsamte, stand still bzw. schneite aus. Erst nach dem Absetzen des Schneestaubes konnte man beobachten, wie durch das Tobel, im Zeitlupentempo, ein träger Strom von Schnee talwärts kroch, einige Bäume umdrückte, sich über die Strasse ergoss und dem Spöl zufloss. Die zweite, die langsame Naßschneelawine, ist in einem ganz flachen Geländestück angebrochen, an einer Stelle, wo man einen Anbruch für unmöglich gehalten hätte. Am gleichen Tage gelang es uns vielfach nicht, in steilen Runsen von gleicher Höhenlage und Hangexposition auch nur einen Korb voll Schnee in Bewegung zu bringen. So werden durch Staublawinen oft Schneemassen an Orten in Bewegung gebracht, welche an und für sich noch gar nicht « lawinenreif » sind, oder wo der Niedergang von solchen für unmöglich gehalten wird. Diese Tatsachen gehören mit zum Kapitel der Unberechenbarkeit dieser gefährlichen Lawinen. Wahrscheinlich erfolgt die Loslösung durch die enormen Schub- und Zugkräfte der Staublawine auf grösster Fläche.

Ein menschlicher Körper, der in eine Staublawine gerät, wird in der ungeordneten Strömung des Aerosols vorerst wechselnden Luftkräften ausgesetzt. Diese wirken in verschiedener Weise auf den Organismus ein.

Trifft ein Druckstoss frontal auf den Körper, so wird er speziell an den Atmungs-öffnungen als Staudruck verspürt. Von der Fliegerei her wissen wir, dass dadurch Gewebs-verletzungen nicht eintreten, solange die Geschwindigkeit weniger als 500 km/h ausmacht. Beobachtet wird hingegen schon von ca. 150 km/h an eine Behinderung der Atmung. Dieser Effekt kann am einfachsten durch die Annahme erklärt werden, dass die Kräfte der Atmungsmuskulatur, besonders die der Ausatmung, den Aussendruck nicht mehr zu überwinden vermögen.

Beim Aufenthalt an freier Luft in etwa Meereshöhe lastet auf jedem Quadratzentimeter der Körperoberfläche ein Druck von 1 kg. Dieser Normaldruck wird beim Schreiben der Druckwerte nicht berücksichtigt, man betrachtet vielmehr nur Abweichungen davon und bezeichnet sie als Unter- bzw. Überdruck.

Kein Mensch darf vom normalen Atmosphärendruck plötzlich in grösseren Unter-oder Überdruck gebracht werden, der Übergang muss allmählich erfolgen, sollen nicht Schädigungen eintreten.

Ausser der Vergrösserung des Atmungswiderstandes durch Überdruck verspürt man meistens ein den Druckkräften entsprechendes Sausen in den Ohren, das sich zu einer äusserst schmerzhaften Erscheinung verstärken kann. Auch hat man oft das Gefühl, als ob die Augen aus dem Kopfe herausgedrückt würden. Durch den erhöhten Aussendruck entsteht auf der Innenseite des Trommelfelles, in der Paukenhöhle des Ohres, ein Unterdruck, der sich nur sehr langsam auszugleichen vermag, weil der innere Gang wie ein Ventil zu-gepresst wird. Die Druckdifferenz ist gefährlich für das Trommelfell, denn dieses besitzt nur eine geringe Druckfestigkeit ( ca. 160 mm Quecksilbersäule ). Demzufolge sind Trommel-fellrisse häufige Erscheinungen bei Staublawinen-Verunglückten, selbst wenn diese sich auch etwas abseits gehalten haben. Die Geschwindigkeit der Druckstösse ist zu gross, als dass ein Ausgleich über die Ohrtrompete erfolgen könnte. Bei allmählichem Druckanstieg, wie er bei Caisson-Arbeiten erfolgt, werden Drucke von 3 kg/cm2 ohne Schädigungen ertragen.

In Zonen des Unterdruckes ist die Luft im Organismus bestrebt, herauszutreten. Im Ohr kann der Ausgleich gut und rasch erfolgen. Allgemein ist bei Aufenthalt im Bereiche verminderten Druckes die Wirkung von der Zeitdauer abhängig. Bei längerer Einwirkung als Sekunden treten die Erscheinungen des Sauerstoffmangels mehr und mehr hervor. Die in Staublawinen nur kurzzeitig eintretenden Unterdrucke sind aber bestimmt ohne Schädigung zu ertragen.

Bei den Staublawinen haben wir es nicht nur mit Über- bzw. Unterdruck zu tun, es findet ein sehr rascher Wechsel von Druckstössen mit Zonen des Unterdruckes statt. Man erkennt diese Tatsache aus Filmaufnahmen. Die Abbildungen zeigen, wie nahe beisammen stehende Bäume verschieden beansprucht werden, einmal durch Zug gegen die Lawine ( Unterdruck ), dann wieder durch Stoss von derselben weg. Beobachtet man einen Menschen in einer turbulenten Windströmung, so kann man sehen, dass die Atmung sakkadiert verläuft, sie ist unregelmässig, abgehackt, oberflächlich, kurz. Es macht den Eindruck, als ob teilweise das Aus-, dann wieder das Einatmen gehemmt würde. Dies ist dadurch zu erklären, dass, je nach dem Druck auf die Atmungsorgane, auf dem Reflexwege korrigierende Gegenkräfte wirksam werden. Letztere werden in erster Linie durch gewisse Nerven der Lungen-wand ausgelöst, welche die Atmungsmuskulatur steuern. Solche Atmungsreflexe bewirken, dass es bei raschem Druckwechsel, wie es in der turbulenten Strömung der Fall ist, praktisch zu einem Stillstand der Atmung kommt. Diese Behinderung der Atmung wird noch wesentlich verschärft durch die gleichzeitig wirksamen Kältereize. Kalte Luft direkt gegen das Gesicht geblasen wirkt über den sogenannten dreischenkligen Kopfnerv ( Trigeminus ) reflexartig auf den Kreislauf ein. Als direkte Folgen von solchen Kaltreizen sind ein kurzes Schlucken und Atemstillstand, Verlangsamung des Pulses und Anstieg des Blutdruckes zu nennen. Es kann zu einem plötzlichen Kreislaufkollaps kommen.

Interessant ist noch eine andere Art der Einwirkung von Staublawinen auf den menschlichen Organismus: Bei trockenem, d.h. kaltem Schneesturm kann man bei Radioantennen oft zentimeterlange Funken ausschiessen sehen. Es ist dies die sichtbare Erscheinung der elektrostatischen Aufladung. Die Elektrizität entsteht hier in erster Linie durch Reibung, und zwar hängt die Menge von der Geschwindigkeit der Eisteilchen ab. Sie steigt ungefähr mit der dritten Potenz der Geschwindigkeit. Das Maximum liegt ausserdem bei Temperaturen zwischen —6 und —10° C.

Eine daherjagende Schneewolke kann eine ganz beträchtliche Energie in sich haben, so dass längere Blitze sich bilden. Darauf hat schon Placidus a Spescha hingewiesen:

« Es pflegt auch sonst bisweilen hier, vorzüglich aber in Tschamot, so zu winden und zu wehen, dass der übereinander getriebene Schnee Feuerfunken von sich wirft... » Und die Äusserung, dass die Lawinen, d.h. eben die Staublawinen, mit « Blitz und Donner » daherfahren, ist keine Phantasie, sondern tatsächlich möglich. Die Spannungen in einer solchen Lawine, die ja praktisch isoliert gegenüber der Erde daherschiesst, macht viele tausend Volt aus und die Energiemenge etliche Milliampere. Wichtig für die Wirkung ist ausserdem, dass die Stromstärke wie auch die Spannung stark wechseln während des Durchganges einer solchen Lawine. Wir haben es also mit einem zerhackten Gleichstrom zu tun. Der menschliche Körper ist in einer Staublawine auch diesen Stromstössen ausgesetzt, und es reagiert darauf besonders der sogenannte Vagus, das ist der 10. Hirnnerv, der ja ein sehr weites Versorgungsgebiet hat. Er dirigiert Funktionen des Herzens, der Lunge, des Magens und auch von Eingeweiden. Der Vagus kann durch Stromstösse gereizt werden, und die Auswirkungen davon können bestehen in: Lungenkontraktionen, Atemstillstand, Veränderung der Herzfrequenz, des Herzrhythmus usw. Sie sind auf alle Fälle gefährlich.

Dass bei der Wirkung der Staublawinen die Orientierung des Körpers gegenüber den Druckstössen von enormer Bedeutung ist, hat man schon verschiedentlich gut feststellen können, und die Verhaltungsmassregeln bei solchen Lawinen, welche unsere Väter vor Hunderten von Jahren aus praktischer Erfahrung herausgefunden haben, sind heute noch die besten, auch wenn sie nicht mit dem Text der heutigen « Lehrbücher » übereinstimmen. Ein klassisches Beispiel über die Bedeutung dieser Orientierung gegenüber der Lawine hat uns Schädelin gegeben ( Verbauungen der Faldumalp oberhalb Goppenstein, Heft 2 der Veröffentlichungen über Lawinenverbau 1934 ):

« Eine nicht sehr grosse Staublawine stürzte sich um 19.30 Uhr durch die Züge oberhalb Goppenstein hinunter. Ihr Luftdruck ( die Lawine kam 4-5 m vor dem Hotel zu stehen x ) zerstörte das Hotel vollständig und drückte das ganze Postgebäude schief. Das Dach des Hotels wurde 50 m weit an den gegenüberliegenden Berghang geworfen, ein schweres Billard fand man später in der Lonza. Das Hotelgebäude wurde, wie gesagt, vollständig zerstört, und die Insassen lagen unter den Trümmern begraben. Die Überlebenden hatten ein furchtbares Krachen gehört, während man in geringer Entfernung überhaupt nichts von der Lawine merkte. Der gewaltige Luftdruck hatte alle Personen, die ihm das Gesicht zuwandten, mit einer einzigen Ausnahme erstickt. Von den 30 Insassen sind 12 getötet, die andern mehr oder weniger verletzt worden. Wer der Lawine den Rücken zuwandte und mit dem Gesicht voran umgeworfen wurde, konnte Mund und Nase schützen. Die Toten hatten alle weit geöffneten Mund und Augen, die Kleider waren zum grössten Teil in Fetzen zerrissen. » Es gibt ausserdem genügend Beispiele, welche zeigen, dass der Tod in der Staublawine praktisch immer plötzlich eintritt, wenn das Gesicht gegen die Strömung gerichtet ist, und dass es sich nicht um eine Art Erstickung im herkömmlichen Sinne des Wortes handelt. Auf verschiedenen Wegen wird hier gleichzeitig derselbe Endeffekt erreicht: Atemsperre und plötzlicher Stillstand des Kreislaufes.

1 Dass die Staublawine 4-5 m vor dem Gebäude zum Stillstand gekommen sei, ist höchst unwahrscheinlich, kann überhaupt nicht festgestellt werden, denn eine solche kann nur bei entsprechendem Widerstand ( Gegenhang etc. ) plötzlich stillstehen - aber sonst kann sie sich verlangsamen und schneit aus. Eine Grenze ( etwa als Staukegel ) ist nicht zu finden, die ausgeschneiten Schneemassen überdecken ein weites Gebiet. Es handelt sich hier bei dieser unmittelbar vor dem Hotel stillgestandenen Lawine um eine sekundäre Schneemasse, welche mit dem Unglück direkt nichts zu tun hat.

Die Alpen - 1956 - Les Alpes

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