Wie die Natur Türme baut
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Wie die Natur Türme baut

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Klaus Korger, D-Stuttgart1

Erdpyramiden von Euseigne ( Wallis, Mai 1989 ) 1 Fachtechnisches Lektorat: Prof. Dr. Toni Labhart, Bern Formende Kräfte Die Geländeformen, denen wir in den Bergen begegnen, entstehen im Wechselspiel zweier entgegengesetzter Kräfte, gebirgsbil-dender und -abtragender. Eine Gebirgsbildung ist die Folge einer Jahrmillionen andauernden Kollision von Kontinental-Plat-ten. Gesteine unterschiedlichster Art und Herkunft werden unter ungeheurem Druck nahe ihrer Schmelztemperatur verfaltet, umgewandelt und aus der Erdkruste empor-gedrückt, dabei oft in chaotischer Weise in-und übereinander geschachtelt. Die Abtragung mit ihren Hauptwerkzeugen Eis und Wasser formt aus dem Gesteinspaket die uns vertrauten Gebirgsmassive mit ihrem abwechslungsreichen Relief.

Hebung und Abtragung vollziehen sich jedoch viel zu langsam für unser Zeitempfin-den. Wirfreuen uns an den vielgestaltigen Gipfeln, an Pässen und Tälern, von der laufenden Dynamik ihrer Formung merken wir wenig oder nichts. Jedoch gibt es Orte, wo uns die Natur im kleinen zeigt, was wir im grossen nicht wahrnehmen können.

An einigen Stellen der Alpen - so etwa bei Euseigne im Val d' Hérens im Wallis, am Ritten nordöstlich von Bozen in Südtirol und um den Lac de Serre-Ponçon -trifft man z.B. auffällige Gebilde, die man zutreffend Erdpyramiden getauft hat. Gestalt und Grösse dieser faszinierenden Geländeformen variieren durch unterschiedliche Bil-dungsweisen und Zusammensetzung ihres Baumaterials. Manche erinnern wirklich an steile Pyramiden, andere an wuchtige Pfeiler oder schlanke Säulen. Viele haben einen Deckstein, der sie offensichtlich wie ein Schirm vor Regen schützt, oder sie ragen spitz wie startbereite Raketen in die Luft. Einige erreichen eine Höhe von über zwanzig Metern, und mancher Deckstein ist grösser als ein Auto. Aber, ob mehr einer glatten Säule oder einer verwitterten Turmruine ähnlich, immer bestehen sie aus einem lehmigen Grundstoff, in den Steine aller Formen und Grossen sind. Wie fest das Ganze zusammenhält, zeigen weit herausragende kantige Brocken und wie angeklebt wirkende gerundete Gerolle. Ein solch unsortiertes Durcheinander von Materialien verschiedenster Beschaffenheit kann nur ein Gletscher abgelagert haben, meist während der letzten Eiszeit.

Der Gletscher schafft die Voraussetzungen Vom kleinsten Gesteinskrümel bis zum hausgrossen Block, alles, was von seiner trägen Bewegung erfasst wurde, hat der Eisstrom seinerzeit teils auf seiner Oberfläche talwärts getragen, teils an seinem Grund i... scheinen der Schwerkraft geradezu Hohn zu sprechen ) ( Le Sauze, Nov. 1991 ) mitgeschleift und sich so über Jahrzehntau-sende tiefer geschmirgelt und gehobelt, bis ihn dann die Klimaerwärmung allmählich in immer höhere Bergregionen zurückschmel-zen liess. Übrig blieb jeweils ein tief ausge-schürftes Tal mit U-förmigem Querschnitt, ausgekleidet mit einer Schicht Gletscherschutt, der Moräne.

In den Nebentälern konnten sich die kleineren Gletscher weit weniger eintiefen, so dass sich bei der Einmündung ins Haupttal eine Steilstufe bildete, über die - als äusseres Zeichen - noch heute oft ein Wasserfall hinabstürzt. Zusätzlich aber behinderte die zurückweichende Eiszunge des Hauptgletschers mit den zurückgelassenen Schuttmassen den Abtransport der Ablagerungen aus den Seitentälern, die so oft völlig aufgefüllt wurden. Nach Abtauen des Gletschers begannen auf diesen genannten Talfüllungen Pionierpflanzen Fuss zu fassen, woraus mit der Zeit ein den Boden schützender Wald entstand. Im Talgrund entstand wieder ein Bach, der sich im Verlauf der folgenden Jahrtausende zunehmend tiefer in die Schuttschicht einschnitt.

Auch wenn es auf den ersten Blick den Anschein hat, als ob die sich an den Hängen unter bestimmten Bedingungen zu Kegeln, und Säulen entwickelnden Erosionsformen irgendwie vorgebildet sind, ist dies doch in keiner Art und Weise der Fall. Sie bestehen aus genau demselben Material wie ihre Umgebung. Kriterium ist dabei nur, wo dieses Material vor Nässe geschützt und wo ihr ausgesetzt ist. Während es nämlich in trockenem Zustand hart und druckbestän-dig ist, wird es bei genügender Durchfeuchtung weich und fliessfähig.

Am westlichen Hang ( SO-exponiert ) bilden sich scharfkantige Schuttschneiden. ( Théus, Nov. 1991 ) Menschen gaben den Anstoss Die Rittener Erdpyramiden sind auch ein frühes Beispiel für die Folgen eines Eingriffs in ein empfindliches Gleichgewicht. Nichtsahnend begann man hier im 13. Jahrhundert, den Wald auch in steileren Lagen für Äcker und Viehweiden abzuholzen. Damit aber löste man einen in seiner Art typischen Zerstörungsprozess aus, der, einmal in Gang gesetzt, unaufhaltsam seinen Lauf nimmt: Am Steilhang des seit der Eiszeit tief eingeschnittenen Baches kommt es zu einem kleinen Erdrutsch, der den Boden blosslegt, einem . In der Folge vergrössert jedes Gewitter, jeder Landregen und jede Schneeschmelze die Hangwunde: Der Bergschlipf frisst sich seitwärts und hangaufwärts weiter. Seiner schützenden Pflanzendecke beraubt, wird der Hang vom abfliessenden Wasser in ein baumartig verzweigtes System von Tälchen zerschnitten. Durch eine solche Abfolge von Rippen und Rinnen entsteht schliesslich ein bizarres Landschaftsbild, das an die amerikanischen badlands erinnert.

Ein entscheidendes weiteres gestaltendes Element bringen dann die sog. Decksteine. Sie können sich aus grösseren Gesteinsbrocken entwickeln, die sich auf einer Rippe nahe der Oberfläche befinden. Diese gün- stige, d.h. mit nur relativ geringem Abtrag verbundene Position wird bei einem flachen Stein noch weiter gefördert, indem er das Wasser seitwärts ableitet und damit das darunterliegende Material trocken und stabil hält. Auf der entwickelt sich deshalb nach und nach eine Erdsäule. Oft hat sie sogar weiter Bestand, wenn der ihre Entstehung begünstigende Grat längst abgetragen und selber zur Rinne geworden ist. Dies ist im übrigen ein Hinweis auf die relative Trockenheit des Gebietes, denn häufig fliessendes Wasser würde die Säule durch Unterschneiden zum Einsturz bringen. In der Tat findet man Erdpyramiden und ähnliche Erosions-Skulpturen vor allem an Orten mit eher trockenem Klima: im Regenschatten höherer Berge, auf wasser-durchlässigem, porösem Untergrund, in sonniger Lage.

Im Finsterbachtal ( Ritten ) bildet sich eine von einer Platte gekrönte Erdsäule aus, in die eine deutliche Karrenspur eingegraben ist. Diese Platte war Bestandteil eines bereits in römischer Zeit angelegten Weges, der inzwischen grösstenteils der das Tal ständig weiter ausräumenden Erosion zum Opfer fiel.

Während eines verheerenden Unwetters im Jahr 1410, 200 Jahre nach den ersten Rodungen, verschlang der Bach den Finster-hof samt Wiesen und Äckern; die Rittener Pyramiden sind also nicht älter als 500 bis 600 Jahre. Etwas Vergleichbares ist im Schanfigg ( oberhalb Chur, GR ) zu beobachten, dort noch in einem frühen Stadium: Seit der Jahrhundertwende entstehen im Gründjitobel Erdsäulen, die zum Teil schon über 10 Meter hoch sind.

Am Wald macht er halt Ein in ein Netz von Rinnen zerschnittener Steilhang befindet sich erst in einem Übergangszustand. Durch die zunehmende Abspülung ist die Hangneigung geringer und das Tal breiter geworden. Erreicht der Bergschlipf mit seiner Rückwärtserosion ein dichter bewachsenes Gebiet oberhalb der Ausräumungszone, wird sein Vorrücken stark verlangsamt. Die Pflanzen halten den Boden mit den Wurzeln fest und durch ihre Verdunstung trocken. Gleichzeitig kann das Niederschlagswasser den Untergrund der Pflanzendecke nicht tiefgründig aufweichen. An ungeschützten Stellen arbeitet das Wasser aber weiter, wodurch der Hang dort wieder steiler, oft sogar zu einer fast senkrechten Wand wird. ( Manche Erdpyramiden zeigen sehr schön die Schutzwirkung der Pflanzen: Statt eines Decksteins tragen sie eine Haube aus Buschwerk oder ein Rasenstück, Reste der ursprünglich zusammenhängenden Vegetationsdecke. ) Abgetragen wird jetzt an der Abbruchkante. Die Wand wird so ständig zurückverlegt und bleibt stabil. Auch diese fördert Blöcke aus dem Moränenschutt ans Tageslicht. Zeigt einer eine günstige flache Form und liegt nicht zu schräg, entwickelt sich eine Art . Umspült das Regen- und Schmelzwasser primär den Stein anstatt über ihn abzufliessen, so wird seine Unterlage aufgeweicht und der Stein fällt bald herunter, womit die herausragende Stelle wieder begradigt ist. Ist der Reiferer Teil des im Bild auf S. 67 unten gezeigten Hangs: Die Säulen und Kegel liegen fast immer auf dem oder rechts ( Sonnenseite !) vom Rippenfirst. {Thé us, Nov. 1991 ) Deckstein jedoch gut ausbalanciert und leitet das Wasser ab, dann wird sich durch seine schützende Wirkung die darunter entstehende Säule im Lauf der Jahre von der zurückweichenden Wand lösen. Es entsteht ein Lahnturm - wie ihn die Südtiroler nennen - mit . Solange er trocken bleibt, ist er steinhart, weshalb er mehrere Junges Erdsäulenvorkom-men auf mächtiger, sogar geschichteter Moräne mit nur geringem Anteil an grossen Blöcken [Schanfigg, Okt. 1989 ) hundert Jahre überdauern kann. Dabei wird er nicht kleiner, sondern durch die sich immer tiefer einfressende Erosion in seinem Fussbereich sogar höher.

Jedem Deckstein schlägt seine Stunde Die Sonne wird das Material viele Sommer lang trocken und hart halten, aber die Herbststürme mit ihren Schlagregen, die durch ihre feuchten Nebel das Erdreich auf- Mini-Erdpyramiden in einer eiszeitlichen Endmoräne: sehr kurzlebige Erscheinung; schon im nächsten Sommer waren sie weitgehend verschwunden. [Kalksee-bach, Feb. 1992 ) Erdsäule auf weit abgebauter Schuttrippe, auf dem Grat ein weiterer potentieller Deckstein ( Le Sauze, Mai 1989 ) weichenden Wintertage und der die Oberfläche zerbröselnde Wechsel von Gefrieren und Auftauen im Vorfrühling nagen am Körper selbst der standfestesten Erdpyramide. Über die Jahre hinweg wird sie damit immer schlanker und sogar bei schönem Wetter kann man gelegentlich einen Seiten-stein hinabpoltern hören. Hier schützt die Unzugänglichkeit oder ein Verbot nicht nur die Natur vor dem Menschen, sondern auch umgekehrt. Mancher Deckstein scheint, mit zunehmender Annäherung an das Unvermeidliche, der Schwerkraft geradezu Hohn zu sprechen. Jedoch, er bleibt so lange an seinem Platz, als sich sein Schwerpunktlot noch auf der unterstützten Fläche befindet. Irgendwann kommt dann aber eine Sturm-böe, zuviel Wasser oder gar ein übermütiger Zeitgenosse - der Himmel falle ihm auf den Kopf! -, und eine kurze Episode, der Höhepunkt ) ?), eines langen Daseins ist vorbei. Aus der Erdpyramide mit Deckstein, der Demoiselle coiffée, wird eine Erdnadel. Sie spitzt sich bald zu und bietet dem Regen nur wenig Angriffsfläche. So kann sie sich noch Jahrzehnte halten, doch wird sie dabei kleiner und kleiner...

Epilog Am Anfang dieses Zerstörungsprozesses stand ein Bach in einem schuttgefüllten Nebental; das Ende bildet ein Bach in einem ausgeräumten Nebental; es ist dies ein vom Menschen oft beschleunigter, letztlich aber vorgegebener Ablauf. Wie ein Bildhauer hat die unbelebte Natur an vielen Stellen der Erde unsere Phantasie beflügelnde Skulpturen geschaffen - in ( geologischen Zeiträumen ) und nach dem Negativ der von Architekten oder Termiten angewandten Methode des Turmbaus: Monument Valley ( USA ), der vor kurzem eingestürzte ( Finger Gottes ) in Namibia, Ciudad Encantada ( die « Verwunschene Stadt ) ) in Spanien, die Tuff-steinlandschaft Kappadokiens ( Türkei )...

Wer vor diesen Erd-Gebilden steht und sich die Zeit nimmt, nicht nur ihre bizarre Exotik zu registrieren, wird etwas spüren von der Nähe auch der nicht belebten Natur - vielleicht weil sich ihre Veränderung hier in menschlichem Zeitmass abspielt. Vielleicht erinnern sie auch an die verfallene Villa im Neubauquartier, das letzte Feld im Industriegebiet oder an die Hallig im Wattenmeer: Es sind Orte des im oder, wie Uwe George die Tafelberge im Regenwald Venezuelas genannt hat, ( Inseln in der Zeit ).

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