Wir suchen... und finden den Weg
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Wir suchen... und finden den Weg

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

( Aus dem Buche « On High Hills », 1927. ) Deutsche Fassung von Henry Hoek.

Mit 1 Bild.Von Geoffroy Winthrop Young.

Einen Tag später verliessen wir zwei, wieder Levi und ich, die Weisshornhütte und überschritten einen Pass in der unteren Hälfte des Weisshorn-Ostgrates. Wir fanden guten Schnee, und der Pass schien ein ganz vernünftiger Übergang zu sein. Viele Jahre später erst erfuhr ich, dass wir als Erste diesen Weg gingen, und dass man dem Pass den Namen des einen von uns gegeben hat. Wir stiegen ab in das obere Becken des Biesgletschers, wirklich eine einsame Gegend in dieser Eiswelt; bei unserem Versuch auf die Weisshorn-Nordwand sollten wir sie später noch genauer kennen lernen. Ein entzückender Nachmittag führte uns durch diese arktische Einsamkeit, über den Biespass und von da über den Col de Tracuit nach Zinal; ein wundervoller, langer Tag mit durchgängig gutem Schnee. Hier konnten wir nur noch lachen während jeder Rast auf den einzelnen Pässen, wenn wir der elenden Schinderei gedachten an jenem Tage auf dem Alpbubeljoch auf der anderen Seite des Tales.

In Zermatt waren wir immer noch nur flüchtige Gäste; aber in Zinal verband uns Freundschaft und Dankbarkeit mit den Führern. Mit Louis Theytaz traversierten wir das Rothorn in umgekehrter Richtung wie das erstemal. Wir hatten eigentlich vorgehabt, den ganzen Grat hinab zum Triftjoch zu begehen. Aber bös vereiste Plattenschüsse und ein wilder Südweststurm gestatten uns nur den Gipfel und den gewöhnlichen Abstieg. Es ist bemerkenswert, wie selten wir in jenen Jahren mit dem Wetter zu rechnen hatten. Für eine gute Tour konnten wir gutes Wetter beinahe als Selbstverständlichkeit annehmen. Am meisten litten wir und waren wir behindert durch die glühende Hitze auf dem Schnee. Natürlich gab es auch wohl schlechtes Wetter, wie an diesem Tage; aber das war die Ausnahme und kümmerte uns daher wenig.

Vielleicht war es dieser Südweststurm in den Penninischen Alpen, der mich hinübertrieb nach Beiaip. Dort tauchte auch Clague wieder auf als mein einziger Gefährte. Wir unternahmen einige kleinere Fahrten, und dann schien das gute Wetter sich wieder überall festgesetzt zu haben.

Nachricht kam von Louis Theytaz, dass, wenn je, jetzt die Gelegenheit wäre für unseren Versuch auf die Westwand des Weisshorns; dieser Aufstieg sollte unser Programm vollenden, unmittelbar von Zinal aus einen Weg zu finden auf jeden der grossen Gipfel, die das Tal beherrschen. Und die gute Fee des Märchens hielt ihre segnende Hand noch einmal über uns, obwohl es Ende September war und die zwölfte Stunde für Bergtouren schon geschlagen hatte.

Zwei Nächte und zwei geisttötende Tage schlugen Louis und Benoît Theytaz und mich in und in der Nähe der hochgelegenen Arpitettaalp irgendwie tot. Die Tage vergingen, indem wir zusahen, wie nasse Nebelfetzen uns um die Beine zogen, indem wir « Fangen » spielten mit den vor Schüchternheit sprachlosen Hirtenbuben und auch einmal eintauchten in den kleinen See gerade unter der Hütte — ein noch kälteres Vergnügen als selbst ein Sprung in den Märjelensee. Die Nächte brachten wir hin mit Schlafen und Dösen, auf dem Lehmboden liegend, mit vergeblichen Versuchen, dem Tropfenfall, der durch das Dach kam, zu entrinnen, und mit dem Kauen von schwarzen Brotkrusten, die wir mit scharfriechenden Käseklumpen belegten, nachdem wir diese über einem rauchigen Holzfeuer halb zum Schmelzen gebracht hatten. Einen anderen Tag, an dem es endlich ein wenig aufklarte, verbrachten wir hoch oben in der westlichen Bucht des Weisshorngletschers, unter der Westwand, und schlugen Stufen durch den Eisbruch, um so den Weg für den endgültigen Angriff vorzubereiten.

In der Nacht vor unserm Versuch suchten wir oben am Gletscher Schutz in einem kalten Steinloch aus grauen Blöcken. Eisige Luft zog über die Platten des Bodens, der Gletscherwind sang uns sein Lied durch alle vier Wände gleichzeitig, die Sterne sahen wir durch die Löcher des mehr als bescheidenen Daches, und ich schlief nur wenig. Das Unternehmen des kommenden Tages warf, wie so oft schon, den Schatten seines Ernstes über uns. Die drei bisherigen Angriffe auf den Berg von dieser Seite konnten uns schon zu denken geben. Sowohl Passinghams starke Partie wie die « fliegende » Kombination Farrar-Kederbacher hatten unfreiwillig eine Nacht im Freien auf den Platten der Wand verbringen müssen; Cornishs Abenteuer war mehr eine amüsante Lektüre, als dass es zur Nachfolge reizte; und des jungen Winkler fast sagenhafte Bergkarriere hatte dort geendet im Geheimnis der Einsamkeit. Noch eine andere fast belanglose Kleinigkeit kam hinzu: ich hatte so viele meiner Tage verlebt mit deutschsprechenden Schweizern, auf ihren Bergen, in ihren Dörfern, dass die schweizerischen Dialekte für mich immer die Heimatsprache der Alpen zu sein schienen. Aus dieser Gewöhnung heraus klang mir das Französisch meiner jetzigen Gefährten nie so ansprechend in ernster Stunde, noch schien es mir so gut zum « Geiste der Berge » zu passen. Das alles bewirkte, dass ich mich vereinsamt fühlte.

Beim ersten schwachen Dämmerschein brachen wir auf unter dem Lichte kalter Sterne. Trotz unserer Erkundung verloren wir viel Zeit in den Eisbrüchen. Und es war schon heller, frostiger Morgen, als wir über den Bergschrund krochen, um über eine gewaltige Eiswand das glattgeschliffene untere Ende unserer Rippe zu erreichen. Diese Rippe zieht sich vom grossen Turm im Nordgrate des Weisshorns hinab zum Gletscher und ist links und rechts begrenzt von wilden Plattenwänden. Der Vergleich mit einer riesigen Schlange drängt sich auf, die sich oben am Turme verbissen hat und ihren Schwanz auf den Gletscher hängen lässt.

Ich bestand darauf, von Anfang an zu führen; denn ich hatte den gebieterischen Wunsch, wenigstens einen Teil der Arbeit zu leisten, und wollte auch die Kräfte der Führer schonen. Eine Zeitlang kamen wir sehr schnell vorwärts. Mit dem Kommen der Sonne verschwand auch der nächtliche Reif auf den Felsen, und unsere Hoffnungen stiegen gewaltig, als wir uns nach links wenden konnten und dort ein hilfreiches Band und ein Paar Schnee- flecke fanden. Aber die ganze Anordnung und die falsche Schichtung der riesigen Platten, die diese Seite des Weisshorns verteidigen, trieb uns bald wieder auf die Rippe zurück. Je höher wir kamen, um so seltener gab es eine Gelegenheit, seitwärts auszuweichen. Und der Schlangenrücken selbst, von dem wir jetzt nicht mehr weg konnten, richtete sich immer steiler auf. Alle Augenblicke kam eine Verrenkung oder ein Bruch, der aussah, als sei er unersteiglich. Nachdem wir einige solche Stellen angetroffen hatten, wo die Hilfe des Zweiten für den Ersten unerlässlich ist, änderten wir die Marschordnung. Bei solchem gemeinschaftlichen Klettern sind Führer und Führer besser aufeinander eingespielt als Führer und Tourist; und die Brüder Theytaz verstanden sich ausgezeichnet. Wir seilten also anders an: Benoît führte jetzt, und ich ging als Letzter. Zum Troste bekam ich Benoîts Rucksack und später am Tage den von Louis auch noch. Ich kannte das schöne Gefühl noch nicht, mit einem leeren Rucksack zu gehen, wenn man Führer hat, und erwartete also ohne besonderes Missbehagen den unabweisbaren Moment, wo ihre Säcke meinen Rücken drücken sollten.

Einige Zeitlang sah ich nun nichts weiter als ein paar Quadratfuss einer grauen und ziemlich verwitterten Platte; manchmal zogen auch Louis'Schuhe und wohlgefüllten Strümpfe durch mein Gesichtsfeld und suchten am oberen Rand des Bildes nach Rauhigkeiten. Dann gab es eine Pause in der Bewegung, und ich hatte Zeit, Atem zu schöpfen und mich umzusehen.

Wir hatten die grosse « Stufe » oder den Bruch im Rückgrat unserer Schlange erreicht und standen damit, wie wir wohl wussten, vor der Schlüsselstelle.

Oft genug hatten wir sie von unten her uns angesehen durch allerlei Ferngläser! Eine grosse graue Mauer wuchs über uns empor. Die Kante unserer Rippe, die mitten in diese Mauer hineinführte, war ganz hoffnungslos. Aber im Fernrohr hatten wir geglaubt, die Möglichkeit eines Ausweges zu erkennen: zur Linken und etwas tiefer, als wir standen, in der Verschneidung unserer Rippe mit der Wand, war vielleicht ein Riss oder zum mindesten etwas wie ein Winkel, wo wir mit Glück hinaufkommen könnten. Wir schauten angestrengt hinüber; und tatsächlich erspähten wir ein Bändchen, das von der Kante weg schwach abfallend hinüber leitete in die senkrechte Verschneidung. Es war bedeckt mit eisverkitteten Gesteinstrümmern und musste erst mit dem Pickel gangbar gemacht werden. In der Mitte aber war eine gute Sicherungsstelle, ein abgesprengter Block, und es gab einen weiteren Stand dort, wo das Band in der Verschneidung endete.

Ich legte das Seil doppelt um den Block und wartete, während die beiden Brüder die Leiste weiter begingen bis in den Winkel der Felsen. Diese Verschneidung war gebildet von glatten Wänden, die sich ungefähr in einem rechten Winkel trafen; sie war einige vierzig Fuss hoch und fand ihren Abschluss unter einem überhängenden Felsblock. Die Hälfte der Höhe kam Benoît gut und vielversprechend hinauf. Dann aber fand er keine Griffe mehr.

Louis folgte nach und verspreizte sich in dem Winkel auf mir unsichtbaren Vorsprüngen; das erforderte gutes Gleichgewicht und viel Kraft — um so mehr, als er jetzt seinem Bruder den notwendigen Stand verschaffte, erst auf seinen Schultern, dann auf seinem Kopf und schliesslich auf der Haue seines Pickels; bis zu voller Armlänge schob er Benoît hoch. Der konnte gerade über den Block greifen; verzweifelt suchte er oben und in der Wand rechts davon nach einem Griff. Zweimal hob er den Fuss von der Pickelhaue, stöhnend vor Anstrengung, denn er hing nur noch an einem Arm, und beide Male rutschte er wieder zurück. Das drittemal aber schien er sich, mit katzenhafter Beweglichkeit, einfach hinaufzuwerfen. Ich sah, wie er sich mit Händen und Knien aufwärtsdrückte, und schrie beinahe vor Begeisterung auf meinem armseligen Stehplatz in diesem Theater der Berge. Er kam über die Kante des Überhanges hinweg und verklemmte seine Schultern in dem untern Ende eines Eiskamines, der nach rechts einige weitere sechzig Fuss steil nach oben führte; und dann erschien er als dunkle Silhouette vor dem hellen Himmel über unserer Rippe — oberhalb der « Stufe ». Damals war die Felstechnik, wie die Lochmatter und Knubel sie entwickelten, noch in ihrer Jugend und nicht allgemein bekannt. Und die Art, wie Benoît alle meine Vorstellungen von dem, was ich für unmöglich hielt, umwarf, erfüllte mich mit einem beinahe ungläubigen Staunen. Mit der Leistung, die ich soeben gesehen, hatte er — wie mir schien — nicht nur sich selbst übertroffen, sondern das menschliche Können überschritten...

Benoîts Seil war ausgelaufen, bevor er noch ganz aus dem Eiskamin heraus war; nach einer aufgeregten Unterhaltung in ihrem heimischen Dialekt musste Louis also nachkommen. Ich setzte mich auch wieder in Bewegung bis in die Verschneidung und bis auf den guten Stand. Dann half ich Louis in halber Höhe — wie er seinem Bruder geholfen hatte — mit Schultern und Kopf. Ich musste etwas gebeugt stehen, und zwischen meinen Knien durch sah ich den Platten beiderseits der Verschneidung entlang hinunter in die Tiefe, in das Nichts — und hatte dasselbe unangenehme Gefühl im Magen, das uns beim plötzlichen Hochgehen eines Fahrstuhls manchmal überkommt. Louis sprang von meinem Kopfe ab und hätte mich beinahe aus meinem Stand geworfen. In wenigen Sekunden war er oben, zappelte wild mit den Beinen, und dann gelang es ihm, das obere Drittel seines Körpers in den Eiskamin zu zwängen.

In diesem Augenblick kam ein wilder Schrei von Benoît. Ich schaute auf und sah vor einer weissen Wolke eine Felsplatte durch die Luft fliegen — wohl vom Seil losgerissensie kam hochkant und, welch ein Glück! streifte gerade Louis'Rücken. Er hatte nicht einmal eine Schürfwunde davon getragen! Aber alle Flaschen in seinem Rucksack waren zerschlagen. Schön — ich hatte von Anfang an protestiert gegen die Anzahl Flaschen, die man für diese Tour als unumgänglich notwendig bezeichnet hatte. Und wie nun eine hübsche Flüssigkeitsmischung, rot und gelb, in kleinen Bächlein die Felsen herunterrann, konnte ich wirklich kaum ein Kichern der Befriedigung unterdrücken über die Enthaltsamkeitsmoral des Schicksals. Aber das Instrument dieser Moral, der fallende Felsblock, ging blind seines Weges weiter. Louis, wie gesagt, nur streifend, kam er mit einer Wendung herunter: die Kante der Platte traf meinen Arm, riss mir eine tiefe Wunde auf dem Handrücken und prellte meine Schulter.

An einen Notverband war zunächst gar nicht zu denken; und als Louis mir zuschrie, ich möchte doch endlich nachkommen, tat ich das — nicht gerade im besten Stil — ohne weitere Diskussion, aber auch ohne Schulter und Kopf, um mich zum Überhang zu heben und, vor allen Dingen, ohne meinen rechten Arm. Irgendwie kam ich bis unter den Block. Doch mich hinauf und in den Kamin zu ziehen, das konnte ich nicht; ich wagte es einfach nicht, mich meinem halb gelähmten Arm anzuvertrauen. Schreiend erzählte ich Louis, der für mich unsichtbar im Kamin steckte, von meiner schwierigen Lage. Die einzige Antwort, die ich bekam, war, dass ich hinauf müsste, und dazu die Warnung, dass er mich wohl halten könnte, aber nicht so fest stände, dass er mir ziehend helfen könnte.

Zweimal ist es mir in den Alpen passiert, dass ich in das Seil fiel. Beide Male, es freut mich, dies sagen zu dürfen, nachdem ich vorher angekündigt, dass dies geschehen würde; und beide Male, nachdem ich zur Antwort bekommen, dass man mir nicht helfen könnte, und dass ich also nicht fallen dürfte. Ich versuchte mich mit einem Ruck hinaufzuziehen. Es krachte ein bisschen in meinem Arm, und er versagte — ich rutschte, fiel und baumelte in der Luft. Es war mir gleich klar, da mir Hilfe von oben nicht kommen konnte, und Louis mich gerade nur halten konnte, dass ich nun eben am Seil hinaufzuklettern hätte. Dies aber, möchte ich bemerken, ist ein turnerisches Kunststück, das auch für einen Mann in den besten Jahren kaum möglich ist, wenn er am Ende eines dünnen Bergseiles pendelt, das ihm um die Brust gebunden ist. Ich versuchte ein paarmal, mich mit der linken Hand hochzuziehen, und rutschte wieder zurück. Dann zwang ich meine verletzte rechte Hand mitzuhelfen und kam auch wirklich einige Zoll in die Höhe; ich nahm die Zähne zu Hilfe, um diesen kargen Gewinn nicht wieder zu verlieren. Endlich erwischten meine tastenden Füsse eine Rauhigkeit in der Wand, und das entlastete meine Arme wesentlich. Ich konnte ein paarmal Hand über Hand höher greifen, entdeckte einen Griff oben am Überhang, schwindelte mich irgendwie hinüber — und einen Augenblick später hatte ich meine Schultern im Beginn des gnädigen Eiskamines verklemmt.

Benoît stieg weiter und war bald oben; Louis und ich folgten, so schnell wie nur möglich, und ringelten und drückten uns die eisige Kluft hinauf. Dann standen wir alle oben, endlich wieder auf unserer Rippe — aber jedenfalls als Sieger oberhalb der « Stufe ». Meine Hand wurde schlecht und recht verbunden — die Narbe habe ich heute noch — und, was viel wichtiger war, der drastische Gebrauch meines Armes hatte Wunder gewirkt: er behinderte mich an diesem Tage nicht mehr.

War das ein Klettern! Gigantische Platten lagen, wie die Schuppen eines Drachen immer eine über der andern; die abgeschlagenen Kanten hingen jeweils über... aber « alle herrlich im Glanz ihres Geschmeides », nämlich ausgiebig mit rauhen Griffen und Tritten versehen.

Als wir in den Schatten des Weisshorn-Nordgrates kamen, erhob sich unsere Seitenrippe immer steiler, wurde zur Stütze für den grossen Nordturm, der über uns auf der Gratkante stand. Und diese letzte und höchste Stützmauer schien ganz unangreifbar. Unsere einzige Möglichkeit war, die Rippe zu verlassen, ein wenig nach rechts in die glatten Plattenschüsse abzusteigen und zu versuchen, von dort aus eine Einkerbung im Hauptgrat unmittelbar südlich des Turmes zu erreichen.

Unsere Rippe, wie gesagt, wurde nach oben immer steiler und ausgesprochener; und dementsprechend waren auch die Plattenschüsse rechts von uns immer mehr in die Tiefe gesunken. Die steile und schlecht « untermauerte » rechtsseitige Wand der Rippe hing sogar stellenweise über, bildete Balkone und steinerne Wächten — wenn dieses Bild erlaubt ist. Aber hinter einem Gendarm oder Grattürmchen fanden wir eine senkrechte Abstiegsmöglichkeit in der Gestalt eines Kamines. Dieses brachte uns, zusammen mit einem Teil seines losen Steininhaltes, ganz angenehm auf die Platten weiter unten.

Die Plattenwand war sehr steil. In der Form ähnelte sie einem halb offenen Fächer; und wie ein Fächer war der Fels gefaltet und leicht wellig gehöhlt, wobei die Wellenkämme wie Fächerstäbe nach oben zur kleinen Einsattelung über uns zusammenliefen. Diese Platten stiegen wir in diagonaler Richtung hinauf nach unserem Ziel: der Einkerbung im glänzenden Schneerand des Grates. Es waren aber aussergewöhnlich grifflose Platten, dazu noch mit Eis überzogen. Hier war die einzige Stelle des ganzen Aufstieges, wo auch nicht einer von uns Stand hatte, um die andern zu sichern.

Dieses Stück und die Umgehung der « Stufe » sind auch die beiden einzigen Stellen, wo, meiner Ansicht nach, auf dieser Seite des Berges ein « fixes Seil » vielleicht angebracht wäre — wenn man wenigstens diese Seite des Berges Bergsteigern aller Art erschliessen will. Einmal auch, als wir hintereinander über winzige Trittchen hinaufschlichen, ermahnte mich Louis leise und ein wenig ängstlich zur Vorsicht. Und in der Tat, dies war dieselbe Art aufregender und raffinierter Fussarbeit, wie wir sie, uns zur Freude und zum Spass, in den Kletterschulen von Wales kennen. Fast zu bald schon durchbrachen wir die kleine Wächte und rieben uns die Finger warm in einem frostigen Sonnenschein oben auf dem Nordgrat. Drei Stunden zuerst über den Gletscher und dann nur vier und eine Viertelstunde auf der Rippe — wirklich, wir konnten zufrieden sein!

Wir standen jetzt auf einem hohen, schmalen Kamm, halb Fels, halb gefrorener Schnee — in jener Mittelwelt, die weder der Himmel ist noch die gewohnte Erde. Zu beiden Seiten, weit unter uns, breitete sich das Tiefland der welligen Gletscher, die hier und da vorstiessen in grüne und schattige Tiefen, in denen — noch tiefer, wie wir wussten — die Täler von Zermatt und Zinal lagen, mit Menschen und mit Leben, das wir nicht sehen konnten. Die besonnten Räume um uns aber mit ihren ragenden Gipfeln, nach allen Seiten bis zum Horizonte sich dehnend, das schien dem Auge das echte Antlitz der ehrwürdigen Erde. Und das ganze Gewebe menschlicher Tätigkeit, zusammengedrängt und versteckt in jenen nichtssagenden Schattenlöchern, alles das schien der weniger realen dieser beiden Welten anzugehören; bestenfalls war es eine noch unentwickelte Form des Lebens im Larven- stadium. Diesen Eindruck hat man oft auf freier Bergeshöhe. Er trägt sein gutes Teil bei zum Gefühl, einer höheren und beschwingten Form der Schöpfung anzugehören; und das ist es wohl, warum die Bergsteiger sich gegenseitig so leicht verstehen — trotz all ihren Schwächen —, und was sie den andern Menschen so unverständlich macht — trotz all ihren guten Seiten.

Wie eine blitzende Degenklinge, die im Angriff nach vorne schnellt, so flammte das Schneeschwert des Nordgrates hinauf zur vollendet schönen Spitze der Weisshornpyramide. Mit dieser Lockung vor Augen war es schwer, ergeben auf einem rauhreifüberzogenen Block zu sitzen und dem gemächlichen Frühstück der Führer zuzusehen. Ich tröstete Louis ein wenig — ich hoffe mit den passenden Worten! —, wie er die Scherben aus seinem Rucksack leerte. Aber innerlich musste ich lachen — sehr wenig liebenswürdig, ich weissbei dem Gedanken, dass in diesem Riesensack auch nicht ein Fingerhut voll Wein mehr zu finden war.

Und dann, so leicht, als ob das Schneeschwert sich mit uns unter unsern Füssen bewegte und ohne jeden Halt, eilten wir dem Gipfel zu. Noch war keine Stunde vergangen, da standen wir, siegbeglückt, oben. Wenn auch nicht der höchste Berg, so ist das Weisshorn doch, sowohl durch den Adel seiner Gestalt wie durch seine Lage, Schneekönig der Alpen. Und königlich stolz schaut es auf sein Gefolge in der Runde. Nur das Matterhorn allein, wie der Führer einer Freischar, steht in dunkler Rüstung abseits und wahrt seine Würde.

Auf der Schneekante des Ostgrates, weit unten, sahen wir die schwarzen Punkte einiger Partien, die dort im Aufstieg oder vielleicht auch schon im Abstieg waren. Ich wäre ganz zufrieden gewesen, die Überschreitung unseres Berges damit zu beenden, dass wir ihnen bescheiden nach Zermatt folgten. Die Theytaz hatten aber andere Pläne! Erst später erfuhr ich, dass sie auf ein Engagement in Zinal für den nächsten Tag hofften. Das aber wäre ihnen durch einen Abstieg nach Zermatt entgangen. Also wurden mir die Herrlichkeiten eines Abstieges über den ganzen Nordgrat — er war bisher erst zweimal im Aufstieg und noch nie im Abstieg begangen worden — so verlockend und taktvoll vorgetragen, dass ich nachgab. Aber eigentlich hatte ich, trotz meiner Jugend, den Verdacht, dass wir alle drei schon genug an Anstrengung und Aufregung hinter uns hätten, besonders im Hinblick auf die vorausgegangenen schlaflosen Nächte.

Auf den schnellen Füssen des Erfolges hasteten wir den Schneegrat zurück und hinab zum grossen Turm. Wir erstiegen ihn bis zum höchsten Punkt, einmal aus reiner Freude am Klettern, zum andern, um einen Augenblick hinunterzusehen auf die abschreckende Steilheit unserer Schlangen-rippe. Und dann kam der lange und zinnenreiche Nordgrat... Ein schlanker Turm stand hinter dem andern, alle mit schwarzer Stirn und weisser Haube, ihre Grate und Gipfel mit Wächten behängt. Und ich fürchte, dass sowohl ihre Schönheit wie ihre Schwierigkeiten für meine müden Muskeln und für meinen befriedigten Ehrgeiz an Reiz immer mehr verloren.

Wir mussten uns beeilen; der Tag ging zur Neige. Ich sehe heute noch die sclineeummäntelten Türme unwahrscheinlich steil aus dem Grate emporwachsen vor einem mählich dunkler werdenden, veilchenfarbenen Abend- himmel. Das erhoffte Engagement zwang uns zu einem Tempo, das in keiner Weise den Schwierigkeiten dieses Kletterns entsprach. Ich wurde ärgerlich — wie es leicht geschieht, wenn man jung ist und müde. Ich war jedoch so vernünftig, meinen Ärger nicht zu zeigen. Aber mehrmals, wenn ich gezwungen werden sollte, prestissimo die Wand eines Turmes auf einem überschneiten und schmalen Bändchen abwärts zu traversieren, bewegte ich mich mit absichtlicher Langsamkeit, um meine beleidigte Würde zum Ausdruck zu bringen. Eine Erinnerung an kalte und steife Muskeln, an Gereiztheit, an das Verschmelzen des weissen Schneegrates mit dem weissen Himmel zu einem schmutzigen Grau — schliesslich sahen beide zusammen aus wie ein einziges Blatt viel benützten Löschpapieres, zerfetzt und bedeckt mit den dunkleren Klecksen der aperen Felsen —, das war die Rache des prachtvollen Nordgrates dafür, dass wir ihn sozusagen « nebenbei » zum Abstieg wählten. Und doch! Rückschauend kann ich sagen: Von ganzem Herzen wünsche ich mir, jeden einzelnen Augenblick dieser Mühsal noch einmal zu erleben. Und das ist, meine ich, die einzig stichhaltige Probe für den Wert eines vergangenen Erlebens.

Eine Ewigkeit lang ging das so weiter, und der Schlamm meiner Gedanken nahm ägyptisches Ausmass an. Bis endlich der Alpdruck dieser endlosen Turmreihe auf der Eisschulter des Weisshornjoches sein Ende fand. Schwerfällig und widerwillig machte sich Louis daran, auf der steilen Westseite Stufen bergab zu schlagen; ein Protest sprach aus jedem Klirren des Eises, das unter seinen Schlägen zerbrach. Unsere Nerven waren bis zum Zerreissen gespannt, und jeder wusste es vom andern. Benoît, der hinter mir die Eisleiter hinabstieg, nahm mein reserviertes Schweigen verzeihlicher-weise für Erschöpfung und bestand darauf, mich am kurz genommenen Seil hinabzugängeln. Niemand unter fünfundzwanzig, der sich dazu noch genau bewusst war, dass wir stundenlang zusammen über Stellen gegangen waren, wo das Ausgleiten eines einzigen für alle das Verderben gewesen wäre, hätte mit Stillschweigen dieses letzte Quentchen auch noch auf den Buckel seiner schlechten Laune genommen. Ich jedenfalls nicht! Und die Funken eines blöden Redegewitters flogen das Seil hinauf und herunter, um bald ganz harmlos in unserer beiderseitigen Depression zu erlöschen.

Halb automatisch und mit verbissener Energie stapften wir durch den Schnee des Turtmanngletschers. Louis ging in Front, und seine Silhouette, schwarz vor der roten Scheibe der untergehenden Sonne, schwankte von einem Bein auf das andere, mit gebeugten Schultern und gesenktem Haupt — dieses Bild ist mir immer in Erinnerung geblieben als « Symbol des Müdeseins ».

Lustlos zogen wir über den Col de Tracuit; dann auf einmal, wie wir aus dem Schnee kamen und die freundlich grünen Hänge des Tales vor uns lagen, schlug plötzlich, unerklärlich, unsere Stimmung um:

« Gewiss, wir waren sterbensmüde; was kümmert 's uns nach einem langen Tag, erfüllt vom Glück der Berge? » Die Sonne warf uns voller Zorn ihre letzten harten Farben in die Augen. Aber ich wusste: das war nur eine ihrer vorübergehenden Launen. War denn unser Ärger und unsere Gereiztheit, die dieser buntwilde Sonnen- WIR SUCHEN... UND FINDEN DEN WEG.

Untergang so hübsch karrikierte, unser wirkliches Wesen? Ich musste lachen; Louis schaute zurück und grinste. Und bevor die Sonnenscheibe ganz versunken war, plauderten wir schon wieder lustig miteinander.

Noch bevor es ganz dunkel wurde, waren wir in Zinal; und zwar in sieben und einer halben Stunde, nachdem wir den Gipfel verlassen. In der Jugend mag vielleicht die augenblickliche Sprungkraft grösser sein; aber man braucht länger als im gereiften Alter, um sich von allzu grosser Anstrengung zu erholen. In späteren Jahren hätte mir ein Tag genügt; damals dauerte es fast eine Woche, bevor ich die Erschöpfung und nervöse Gereiztheit ganz überwunden hatte. Unglücklicherweise, für mich ebenso unglücklich wie für meine Mitreisenden, fiel in diese Woche der ganze Schrecken der Heimreise mit dem üblichen und skandalösen Handgemenge in Lausanne, um einen Sitzplatz zu erobern. Gelobt sei die gute Fee, die dem Kinde bei der Geburt einen Pickel in die Wiege legte...

Manchmal noch stand ich in den kommenden Jahren auf dem Weisshorn, aber niemals mehr gingen wir über unseren schönen Schlangengrat. Es gab dafür einen guten Grund. Um die Besteigung des Berges von Zinal aus « volkstümlich » zu machen, haben die Führer diesen Grat mit einigen tausend Fuss Drahtseil behängt. Und als ich einmal auf dem Gipfel meinem Freund und Führer Knubel diesen Grat als Abstieg vorschlug, da vermied er es taktvoll, ihn bei dem Namen zu nennen — schmeichelhaft für mich —-, den man ihm in Zinal gegeben hat; und ganz nebenbei liess er durchblicken, dass es nicht recht wäre, einen so schönen Tag dazu zu verwenden, um einen Abstieg zu machen, der in seinem Tal bezeichnet wurde mit den Worten: « Par les Cordes ».

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