Wunder überall
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Wunder überall

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Helga S. Paasche

( Zürich ) Als ich heute morgen — sehr früh — über die vom tränkenden Schnee der letzten Tage befreiten Alp ging, trugen alle die unzähligen Frauenmänteli in jeder der Falten ihres grünen Umhangs eine silberne Kugel. Die Tautropfen, die in ihren Schalen dalagen und zu mir heraufschauten, waren wie aus feinstem venezianischen Silberglas geblasen — duftig, klar, durchsichtig und von schönstem Ebenmass. Jeder Schritt vorwärts bedeutete einen Vorstoss in die Unendlichkeit, denn feuchter, sammetgrauer Nebel wogte rings um mich her. Aber jeder Schritt vorwärts bedeutete auch ein Zusammentreffen mit neuen Scharen geschmückter Frauenmänteli, die ganz sicher diese Gelegenheit ergriffen hatten, um auch einmal so schön und strahlend zu erscheinen wie die beständig mit weichem Glanz umhängten Silbermänteli!

Was man alles lernen kann hier oben! Dass alles Grüne, dass Gräser, Blättchen und Halme sich innerlich sträuben, wenn genügend Feuchtigkeit für den nächsten Bedarf in ihre Poren und zu ihren Wurzeln vorgedrungen ist, so dass der Überfluss sich eben als Festtagsschmuck auf ihnen absetzt. Dass Nebel und Wolke das gleiche sind; was man immer wusste, aber nun in ihrer ganzen dahinstreichenden Weichheit erlebt. Dass all die vielen Absätze, die wie Stufen die steilen Alpwiesen hinaufführen, nicht durch die Natur gestaltet wurden, sondern von den unermüdlich weidenden Kühen herrühren und in vielen Jahren, allein durch den Tritt dieser uns so wohlgesinnten Lebewesen, zustande kommen. Dass die überall sichtbaren Erdröhrenmuster die « Laubengänge » sind, in denen die Mäuse im Winter unter dem Schnee lustwandeln. Dass — wussten Sie esdie einen Schlüsselblümchen anders aussehen als die andern — und nicht zuletzt sieht man auch ein, dass neben der überzeugenden Intensität der vom Schöpfer über die grünen Alpen hin getupften Farben all unser eigenes Bemühen, sei es malerischer oder nur färberischer Natur, immer nur ein bescheidenes Nachahmungsmanöver bleiben wird!

Irgendwo hinter dem dichten Nebelvorhang sang gurrend ein Schneehuhn, das nun bald von hier fortziehen und mit seinem Gefährten einen neuen Siedlungsplatz suchen muss, bei dem es mit der vollen Grazie seines Fluges geschickt landen kann.

Und da bin ich auch schon hoch genug gestiegen, um die Sonnenscheibe greifbar nah in der grauen Wand hängen zu sehen. Plötzlich ist Sonne ringsumher, warme Frühlingssonne, vor der der Nebel in gebührendem Abstand und höflich knicksend wallt. Wie angewurzelt muss ich stehen bleiben, denn der Silberschmuck meiner Gräser und Halme hat sich wie auf ein Zauberwort in einen gewirkten Prunkteppich verwandelt, in dem es von Edelsteinen flimmert. Vom sanftesten Olivgrün, über die unbeschreibliche Farbe der Flamme bis zum sattesten Burgunderrot sprüht und glitzert es um mich her. Ich muss nur sorgsam mein Eigengewicht von einem Fuss auf den anderen verlagern, um denselben Edeltropfen alle nur denkbaren Töne der Farbenskala durchlaufen zu sehen. Mitten im Staunen wird mir klar, dass dies das Prisma ist, von dem ich in der Schule vor langen Jahren gehört habe. Was nützt uns das Hören ohne das Erleben?

Ich werde aus dem gleissenden Bann erst befreit, als der wogende Nebel seine feuchte, labende Hand wieder über alles legt, farbenfrohe Buntheit und Pracht für diesmal in seinem Märchensack versorgend.

Ja, wir haben das Schauen verlernt, wir dort unten in den Städten. Das Schauen und Horchen auf die kleinen Dinge, in denen alles Grosse verborgen liegt. War nicht auch der bedeutendste Mensch einmal so klein wie ein Sandkorn, und wird er es nicht auch wieder, wenn er seine Aufgabe erfüllt hat? Sollte uns dies Wissen nicht aufmerksam machen?

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