Zermatter Bergfahrten
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Zermatter Bergfahrten

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Hans Fritz von Tscharner.

Younggrat ( Breithorn)1 ).

Um 2 Uhr früh — es war der 8. August 1932 — stiegen wir beim Laternenschein und durch das Seil verbunden von der Gandegghütte den kleinen Pfad zum unteren Theodulgletscher hinab und strebten hernach dem Klein Matterhorn-Gletscher zu, um über diesen die Einsenkung zwischen den Triftje und der Breithorn-Nordwand zu gewinnen. Es ist ratsam, bei diesem Übergang immer schön rechts zu halten, da die Verschrundung hier weniger bösartig ist.

Zwei Stunden nach unserem Aufbruch setzten wir uns auf dem Triftjesattel zum Frühstück nieder. Das Wetter sah noch immer nicht glänzend aus, namentlich die dunklen Wolken über dem Schönbühlkessel wollten uns gar nicht gefallen; auch herrschte eine unheimliche Wärme, die auf starken Föhn schliessen liess. Plötzlich meinte einer der Führer, das Hotel auf dem Gornergrat brenne. Es sah tatsächlich so aus, aber es war nur die Venus, die gerade hinter dem Hotel aufstieg und später den ganzen Tag unseren Augen als silberne Kugel sichtbar blieb. Damit konnte ich am Abend in Zermatt den Leuten beweisen, dass sie nicht Prof. Piccard, sondern die Venus gesehen hatten; auch während der zwei folgenden Tage war sie von Zermatt in ihrer Bahn von Ost nach West mit blossem Auge sichtbar.

Ein kurzer Abstieg durch ein Schneecouloir führte uns auf den Breithorngletscher, über den wir den Klein Triftje-Sattel erreichen mussten. Mit kritischen Augen musterten wir den äusserst kühnen Aufschwung des Younggrates, er sah seiner starken Verschneiung wegen wie eine Messerschneide aus. Nie hätte ich gedacht, dass der dem Breithorn vorgelagerte Gletscherkessel so gewaltig sein könnte. Diese Eisbrüche und Schründe gehören zu den grossartigsten, die mir begegnet sind, doch lassen sich alle im Bogen nach rechts umgehen. Erdrückend wirkt der Blick auf den Nordabsturz des Breithorns und auf die wilden Zacken des Gipfelgrates. Glücklicherweise war der Schnee gut, so dass unsere Uhren die fünfte Stunde zeigten, als wir den Klein Triftje-Sattel1 ) und den Beginn des Younggrates betraten. Starker Wind umfing uns, eine sehr unwillkommene Beigabe für eine so luftige Gratwanderung. Das Gewölk war jedoch verschwunden und trotz des Morgenrotes, das die Gletscherriesen überflutete, schien uns der heutige Tag gesichert. Die Steigeisen verrichteten anfangs gute Dienste, und rasch gingen wir die hier noch mässig geneigte Gratschneide hinan. Lange sollte diese Freude nicht dauern, denn je höher wir drangen, desto gewaltiger wurden die weichen Schneemassen. Von den drei Felstürmen war nicht viel zu sehen, alles lag unter Schnee.Viel kostbare Zeit ging verloren. Bevor die Tritte hergestellt werden konnten, musste der messerscharfe Schneekamm abgeschlagen werden. Um die Arbeit redlich zu teilen, wechselte von Zeit zu Zeit der Vortritt. Immer steiler wurde der Grat und immer jäher die beidseitigen Flanken. Bei den Türmen angelangt, mussten kleine vereiste Felsköpfe umgangen werden. Der letzte und höchste Gratturm bot uns einen schauerlich wilden Ausblick auf die Gletscherkessel der Schwärze und des Breithorns sowie auf die von hier aus riesenhaften Türme des Breithorngrates. Doch noch etwas sahen wir: einen Schneegrat, der uns zuerst abwärts, dann eben und zuletzt steil an den letzten Grataufschwung bringen sollte. Selten habe ich solches Gruseln verspürt wie beim Anblick dieser Schneekante. Bei normalen Verhältnissen ist sie weniger hoch und breiter. Felix Biner, der solche Stellen liebt, ging mit vielen Seilschlingen voran und « verbreiterte » die Schneide ein wenig. Jede Sicherung schien mir hier illusorisch. Das letzte steile, aber leichte Gratstück brachte uns zum berüchtigten 67 Grad geneigten Eiscouloir, bei dessen Durchquerung im Jahre 1928 die vier Franzosen hinabgestürzt waren.

Welch angenehme Überraschung! Das Couloir war nicht vereist und der Schnee von so guter Beschaffenheit, dass wir unter diesen Umständen beschlossen, den üblichen Quergang nach rechts zu lassen und direkt durch das Couloir zum Breithorngrat aufzusteigen. Bei weichem Schnee oder völliger Vereisung wäre diese Stelle wirklich zeitraubend und bei der ungeheuren Steilheit auch äusserst gefährlich. Andreas Biner wurde am längsten Seil vorausgeschickt und konnte gerade einen Felskopf unter der Grathöhe erreichen, von wo aus er uns alle der Reihe nach glänzend sichern konnte. Zwanzig Minuten später waren wir oben beisammen und schauten voller Bewunderung das fürchterliche Couloir hinab. Nach Überwindung der Gratwächte brachte uns eine kurze Kletterei um 11 Uhr auf den Mittelgipfel unseres Berges.

Kein Wölklein trübte den Himmel, und die Luft war von einer seltenen Reinheit. Ich weiss nicht, welchen Blick ich als den schönsten bezeichnen soll, ob den nach Norden hinab über die fürchterlichen Wände oder den nach Süden über die anfangs steil, dann aber sanft geneigten Schneefelder, die sich allmählich in die Gebirgstäler Italiens verlieren, in jene Täler, deren Namen wie Musik klingen. Wahrhaftig, eine tolle Gipfelrast mit allerhand Trinksprüchen. Und als die Uhr die Tagesmitte zeigte und unsere Gesänge verklangen, stürzten wir uns in die Schneemassen des Südhanges und erreichten bald darauf die « Heeresstrasse », die uns nach der Gandegg zurückführte.

Monte Rosa-Ostwand.

Von Domodossola führte uns ein Wagen durch das wilde Anzascatal nach Macugnaga. Den ersten Anblick der Ostwand, der grössten Eismauer Europas, werde ich nie vergessen. Mit offenem Munde stierten wir die Wand an, an der ein Hinaufkommen unmöglich schien. Unglaublich hoch oben zartgeschwungene Gipfellinien: Nordend, Grenzgipfel, Zumsteinspitze und Signalkuppe. Eine Reise über den Ozean würde sich lohnen, um den Anblick dieses Aufschwunges in weltenferne Höhen zu geniessen! Leider konnten wir unsern kommenden Weg nicht betrachten, da ein Nebelgürtel den unteren Teil der Wand verhüllte.

Im Hotel Monte Moro speisten wir inmitten einer eleganten Damenwelt. Schade, dass man gleich weiter musste. Einen Blick in die prächtige Kirche und auf die Erinnerungstafel an die siebente Besteigung der Ostwand durch Achille Ratti, heute S. H. Papst Pius XL, gestatteten wir uns dennoch.

Rasch wurde der Weg zum Belvedere unter die Füsse genommen. Welche Hitze! Ich finde in meinem Wortschatz keine Steigerungsmöglichkeiten, die ein gerechtes Bild der irrsinnigen Temperatur wiedergeben könnten. Schon im Schatten von Macugnaga waren es 42 Grad gewesen. Langsam stiegen wir die vielen Schleifen hinan und freuten uns auf einen kühlen Trunk. Aber auf Belvedere steht nur ein Signal, doch keine Wirtschaft! Betrogen standen wir da und sagten, dass so etwas in der Schweiz nie passieren würde. Doch hurtig erspähten unsere durstigen Blicke jenseits des Gletschers die kleine Alp Fillar, und eine halbe Stunde später hätten wir in den grossen Milchtöpfen, von vielen Schweinen umringt, beinahe ertrinken können.

Inzwischen hatte sich das Wetter gehörig verschlechtert, aus schwarzen Wolken rieselte feiner Regen. Über Geröll und Gletscher gelangten wir um 6 Uhr an den Fuss des Jägerrückens und über diesen zwei Stunden später zum Rifugio Mannelli. Ergreifend, fast atembeklemmend der Blick von der Hüttentüre auf die Signalkuppe und den Colle del Loccie. Und erschauernd betrachten wir den Weg, den Lagarde und Devies letztes Jahr gegangen waren. Obwohl der Regen aufgehört hatte, sah das Wetter bitter bös aus, denn zu einem tüchtigen Gewitter wollte es nicht kommen.

Ruhe und Schlaf fand wohl keiner. Das Wetter beschäftigte unsere Sinne. Immer wieder kamen mir Sätze aus Kugys unvergleichlichem Bergbuche in den Sinn. Darin heisst es über die Ostwand: Es war nach Güssfeldt ein Griff in eine Urne mit gleicher Anzahl weisser und schwarzer Kugeln, von denen jene Sieg, diese Tod bedeuten. Ferner heisst es noch: Auf den Kühnen, der sich an die Ostwand wagte, blickte man, als poche er mit seinem Pickel in donnernden Schlägen an die schwarzen Pforten des Todes. Das Grollen der Lawinen, die die ganze Nacht hindurch die Wand hinunterfegten, hörte sich an wie die donnernden Pickelschläge an den Pforten des Todes. Allerdings schienen beinahe alle Eisbrüche von der Punta Gnifetti her zu kommen, und das liess uns noch nicht verzweifeln.

Bei unserem Aufbruch um 2 Uhr sah es zwar noch bedenklich aus, und die grosse Wärme gefiel uns schon gar nicht. Sollten wir aufgeben und den langen Rückzug antreten oder doch etwas wagen? Wir entschlossen uns für den Kampf. « Auf dem Jägerrücken und auch noch auf dem Imsengrücken liegt eine ungefährdete Rückkehr noch im Bereiche der Möglichkeit, und bis dahin wird uns der Tagesanbruch einen Wink über die Wetterlage geben. » Sogleich wurde über die leichten Felsen des Jägerrückens angestiegen. Nach einer guten halben Stunde standen wir am Marinellicouloir. Wie oft hatte ich Beschreibungen darüber gelesen, und ich war mir bewusst, mit jedem Schritt historischen Boden zu betreten. Dank unserer Steigeisen und der guten Beschaffenheit des Schnees dauerte die Durchquerung dieser fürchterlichen Lawinenfurche knappe 5 Minuten. Dann rasch über die leichten, aber losen Felsen des Imsengrückens hinan. Auf dessen oberem Ende gab es eine kurze Rast, denn das Wetter war nicht wider uns. Nur unten im Talkessel von Macugnaga brodelte es noch ein wenig, und langsam stiegen die letzten Nebelfetzen zu uns empor.

Die Eisbrüche oberhalb des Imsengrückens rechts umgehend strebten wir einer Felseninsel zu. Damit gelangten wir in die Nähe des Nordend. Ein längerer Quergang nach links zum Fuss des letzten steilen Eishanges unter den Grenzgipfelfelsen stand bevor. Dieser Quergang bildete heute das gefährlichste Stück der Ostwand, da die aufgehende Sonne ihr Werk schon verrichtete und öfter kleine und grosse Steine mit unglaublicher Schnelligkeit ganz nahe an uns vorübersausten. Man brauchte sie gar nicht kommen zu sehen, schon das unheimliche Pfeifen verriet ihre Flugbahn.

Es war 7 Uhr, als wir glücklich und unversehrt den Eishang erreichten. Doch siehe, Eis gab es heute nicht, wohl aber Weichschnee, der den Aufstieg etwas erschwerte; alle drei Seile befanden sich in glänzender Verfassung, und die Laune unserer Dame war unverwüstlich. Eine Stunde später standen wir am Fusse der Grenzgipfelfelsen. Freund Glanzmann ( Triest ) war etwa 50 Meter zurückgeblieben, was ihm sehr zu statten kommen sollte. Um Zeit zu gewinnen, schlug ich nämlich meinen Führern Felix und Karl Biner vor, rechts den Felsen entlang noch ein wenig im Schnee, der hier wieder besser war, aufzusteigen und erst höher den Einstieg in die Felsen zu nehmen. So kam es, dass wir etwa 20 Minuten später — gefolgt von Fräulein Hilleprandt ( München ) und Andreas Biner — eine höher gelegene günstige Einstiegstelle fanden. Doch schon nach drei bis vier Seillängen gerieten wir auf völlig vereiste Felsen und in ein unheimlich steiles Plattengewirr, in welchem wir wiederholt kaum mehr vor- noch rückwärts konnten. Glanzmann, der gedacht hatte, wir seien wortlos zum Silbersattel ausgekniffen, war unten eingestiegen und erschien plötzlich ziemlich nahe über uns. Da er mit seinen Führern von oben herab besser einen Ausweg für uns erspähen konnte als wir, die wir an beinahe senkrechten Platten klebten, rief uns sein Führer Joseph Lerjen zu, einen Quergang nach links zu versuchen und eine Rippe, die von unserem Standpunkt aus nicht sehr einladend aussah, für den weiteren Aufstieg zu benutzen. Der Gang erheischte grössere Vorsicht, da keine Sicherungsmöglichkeiten waren. Doch gelang es uns, die Rippe zu erreichen und über eine steile Platte zu unseren Genossen zu stossen. Über anderthalb Stunden hatten wir mit dieser « Abkürzung » verloren.

Nach längerer Rast setzten wir unsere Besteigung fort und betraten nach 2 Stunden leichter, stellenweise auch anstrengender Kletterei den Grenzgipfel. Noch einmal schauten wir in diese Wand hinab, die so unbändig ins Bodenlose stürzt, noch ein Blick in den so unwahrscheinlich tiefen, jetzt nebelfreien Talkessel von Macugnaga und auf die liebliche Alp Fillar, dann wandten wir uns der Dufourspitze zu. Um 1 Uhr standen wir oben. Der Jubel kannte keine Grenzen.

Während des ganzen Abstieges über Betempshütte zum Rotenboden vertauschten wir unsere Eindrücke, und jedes dritte Wort war: « Furchtbar, gewaltig, unbändig, kolossal, grossartig » usw. Und am Abend in Zermatt schweiften unsere Gedanken zurück zum kleinen Rifugio Mannelli und an die Wand, wo unaufhörlich die Lawinen, den Gesetzen der Natur folgend, herunterdonnern, und nie war Zermatt so schön wie am nächsten Morgen!

( Schluss folgt. )

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