Zwei Erstbesteigungen im Mont Blanc-Massiv
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Zwei Erstbesteigungen im Mont Blanc-Massiv

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON JOHN HARLIN

Mit 2 Bildern ( 26/27 ) Aiguille-du-Fou-Südwand Seit drei Stunden sind die ersten Cirrusstreifen im Westen erschienen. Der Himmel ist jetzt verhängt. Die Gipfel der Jorasses haben ihre Mütze aufgesetzt, und die Wolkenschleier verdunkeln sich. Konrad seilt ab. Im Moment, wo sein Fuss den Schnee neben mir berührt, hören wir über unsern Köpfen ein Grollen im Couloir zwischen Pointe de Lépiney und Aiguille du Fou. Wir erblicken herunterfallende Eis- und Felsblöcke. Sie prellen an die Wand, werden im parabolischen Flug über uns hinweggeworfen und rutschen 300 Meter tiefer den Firnhang hinunter, kleine Lawinen auslösend. Ein nervöser Pfiff entfährt mir. Aber das Vorkommnis sitzt uns im Nacken, und wir steigen mit gespitzten Ohren nach einer Beruhigungspause das Couloir ab. So endet für Konrad Kirch und mich ein erster Versuch in der Südwand der Aiguille du Fou, am Anfang des Sommers 1963.

Seit 1952 haben hochqualifizierte Kletterer von verschiedenen Ländern versucht, sich einen Weg in dieser Wand zu bahnen. Alle ihre Bemühungen waren auf einen grossen Riss konzentriert, der die Wand von rechts unten nach links oben durchzieht. Nur zwei Seillängen sind durchstiegen worden, mit einer grossen Anzahl dieser Holzkeile, die ein miserabler Ersatz der famosen Alu-minium- und Chrom-Molybdän-Haken sind, die wir in Kalifornien gebrauchen.

Später im Sommer 1963 treffen wir uns, Tom Frost, Gary Hemming, Stewart Fulton und ich für einen neuen Versuch. Das schöne Wetter lässt auf sich warten. Schliesslich machen wir uns ohne Hoffnung, Stewart und ich, unter schlechten Verhältnissen auf den Erkundungsweg. Im obersten Couloir finden wir Felsenstellen IV. und V. Grades, ganz mit Schnee bedeckt, welche dazu noch nass sind. Am Nachmittag können wir über eine schwierige Stelle des VI. Grades den riesigen Überhang umgehen, der den unteren Teil der eigentlichen Wand versperrt. Die weitere Route ist aber fraglich, und unter den ersten Regentropfen machen wir kehrt. Beim Abstieg bemerke ich eine Reihe von feinen Rissen, die sich über den Überhang direkt hinaufziehen und höher oben zu einem scheinbar besseren Weg führen.

5 Die Alpen - 1966 - Les Alpes65 Mitte Juli sind Gary, Stewart, Tom und ich für einen weiteren Versuch erneut am Bergschrund. Cirruswolken und andere schlimme Vorzeichen lassen uns beinahe umkehren; aber bald bin ich mit dem Übersteigen der etwas überhängenden Lippe des Bergschrundes zu beschäftigt, um mich um das Wetter zu kümmern. Das Glimmern unserer Stirnlampen zaubert ein seltsames Lichtspiel im Couloir hervor, in dem wir stetig an Höhe gewinnen. Vorsichtshalber und um den Aufstieg zu beschleunigen, befestige ich bei jeder Länge ein Reserveseil am eingesteckten Pickel. Mit dem Erscheinen der Sonne sind wir auf einem guten, luftigen Felsband versammelt, unter einem grossen Überhang in Form einer Sieben, der den untersten Teil der Wand abriegelt.

Nun ist die Reihe an Tom, unserem Kletterkünstler aus dem Yosemite-Tal. Er führt eine ganze Schlosserei von amerikanischen Haken mit, bestimmt für die zähesten Granitrisse. Sie sind nach ganz neuen Prinzipien geschaffen. Es handelt sich um Haken aus einem sehr harten Chrom-Molybdän-Stahl. Sie wirken wie eine Feder, die sich beim Eintreiben nicht verbiegt und deformiert, sondern sich elastisch der Rissform anpasst. Wieder ausgezogen, nimmt ein solcher Haken seine ursprüngliche Form wieder ein und kann Hunderte von Malen gebraucht werden. Dank der Festigkeit des Stahles kann man Haken dünn wie Rasierklingen formen. Bald ist Tom so abgedrängt, dass sein Zugseil wie ein Senkblei weit von der Wand herunterhängt. Beim Aufziehen pendelt der Rucksack zehn Meter von der Wand. Ein Granitdach von solchem Ausmass bekommt man selten zu sehen. ( Für diese Länge wurden 26 Haken benutzt - Red. ) Nach dem Überhang übernimmt Gary die Führung. Bald in freier, bald in künstlicher Kletterei erreichen wir den grossen Diagonalriss, dem bei allen anderen Versuchen gefolgt wurde. Wir sind nicht von unten in diesen Riss eingestiegen, denn er verläuft nicht direkt in dem von uns jetzt'durchstiegenen untersten Drittel der Wand. Der Riss ist mit Holzkeilen gespickt, welche unsere Vorgänger zurückgelassen haben.

Die Dunkelheit zwingt uns zum Biwak. Ein feiner Regen setzt ein, es blitzt und donnert in der Nähe. Stewart und ich haben nur eine zehn Zentimeter breite Leiste zur Verfügung; so befestigen wir eine Biwakhängematte an zwei misslichen Haken. Wie wir hineinschlüpfen, reisst sie, und wir stürzen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als eine schaurige Nacht auf Steigbügeln zu verbringen. Am Morgen seilen wir beim Regen den Diagonalriss ab, feste Seile und viel Material zurücklassend.

Das nächste Mal erreicht uns der Regen im grossen Riss, während wir mittels Prussikknoten an den zurückgelassenen Seilen aufsteigen. Wir beschliessen aber weiter vorzudringen. Die Diagonale bietet eine schwere freie Kletterei mit wenig Sicherungsmöglichkeiten. Wie sich Stewart unterhalb des grossen Daches, das den Riss unterteilt, hinaufstemmt, rutscht er ab und pendelt an dem einzigen festen Haken, den er schlagen konnte. Der Regen und eine geschürfte Hand zwingen uns zum Absteigen.

Am 25. Juli 1963, während unseres Anmarsches für unsern letzten Versuch, lässt der rote Himmel nichts Gutes ahnen. Tom und Stewart sind schon am Vorabend mit Dorene Del Fium aufgebrochen und haben am Fuss der Wand biwakiert. Mit Claude Guerre-Genton und meiner Frau Mara schlagen Gary und ich die klassische Route über den Südostgrat der Blaitière ein, um die Einstiegstelle zu erreichen. Vom ersten grossen Turm dieses Grates aus sehen wir, wie Tom und Stewart lässig aufbrechen. Die Damen bleiben am Biwakplatz, um dort die Nacht zu verbringen und von der Bresche aus unseren Vorstoss zu beobachten. Während wir den Aufstieg mittels Prussikknoten angreifen, hat Tom schon einen sichelförmigen Überhang in der Diagonale umgangen und arbeitet sich in dem ihm folgenden breitem Riss in die Höhe.Vorher hat sich Stewart bis zu einem Sicherungsplatz unter dem Dach hinaufgestemmt über eine erstklassige Passage, die für unsere Nachfolger eine Schlüsselstelle sein wird. Am Überhang selbst hat Tom ein mechanisches Meisterstück geleistet. Er hat mit dem kürzesten, zwei Zentimeter langen Haken begonnen, dem zwei Meter weiter oben ein vierzölliger Stift folgt. Dann setzte er eine Reihe von fünf Holzkeilen, gestützt oder verbunden mit grossen Winkelstäben aus Aluminium. Im labilen Gleichgewicht auf dieser Holzaluminiumkonstruktion, schlug er jeweils in Reichweite die weiteren Haken. Von einem schlechten Sicherungsplatz auf Steigbügeln fährt er in einer sehr schweren Kunstkletterei weiter und überwindet mit Hilfe von messerklingenartigen Haken den von unten gut sichtbaren schwarzen Überhang, der den Zugang zu einem Etwas versperrt, von dem wir hoffen, dass es unsere Biwakterrasse sei. ( Für diese 45 Meter wurden 28 Haken gebraucht - Red. ) Tom ist angekommen, und die Freude in seiner Stimme lässt uns annehmen, dass die Terrasse, wenn auch nicht bequem, so wenigstens genügend sein werde. Gary und ich steigen mittels Prussikknoten hinauf, mit dem Biwakmaterial auf dem Buckel, während Stewart dieses Stück enthakt, das die schwierigste Stelle in Kunstkletterei der Westalpen sein dürfte. Auf der Terrasse angelangt, mache ich mich an den obersten Riss, um den Weg von morgen vorzubereiten. Bei hereinbrechender Nacht kehre ich zum Biwakplatz zurück, und im Moment, wo ich meinen Fuss auf das Band setze, bricht das Gewitter mit einem gewaltigen Donnern los. Noch bevor wir in unsere Biwaksäcke schlüpfen können, sind wir von Regen und Hagel durchnässt. Überall zucken Blitze, schlagen in die Aiguille du Fou, und der nächtliche Himmel leuchtet wie gestreift. Das wird eines der heftigsten Gewitter des ganzen Sommers sein! Wir essen und trinken in unseren Säcken, das elektrische Schauspiel bewundernd und uns fragend, ob der nächste Schlag für uns bestimmt sei. Ich mache eine unangenehme Entdeckung: unsere grosse Feldflasche hat sich in meine Reservekleider entleert, und ich habe keine Hoffnung, eine bequeme Nacht verbringen zu können.

Am nächsten Morgen erwachen wir in einer grauen Wolkenpackung. Gary beendet rasch meine gestrige Seillänge. Wie ich die Führung übernehme, lösen sich die Wolken auf, und man erblickt die phantastische Umgebung von Granit und Eis rings herum. Heftig pulst in mir das Leben, wie ich meine Haken schlage und mich an den seltenen Griffen dieser grossen, glatten Wand hoch-ziehe. Ich schaue nach links und nach rechts; ich erblicke Stufen am Eisgrat der Aiguille de Lépinay. Am Ende der 50-Meter-Seillänge fehlen mir noch etwa sechs Meter in freier Kletterei bis zu einer Sicherungsstelle. Ich lasse Gary nachkommen, damit er mir die nötige Länge freigibt, so dass ich Zeit habe, diese luftige Welt zu bewundern, während uns Wolken umschweben, die hie und da einen Sonnenstrahl durchlassen.

Endlich habe ich Seil genug, um weiterzuklettern. Die Sicherungsstelle ist weniger gut, als ich mir von unten vorgestellt habe. Ich befestige ein Seil für die Prussikknoten; Tom steigt auf, Photoaufnahmen machend; Gary sammelt die Haken ein, dann überwindet er den nächsten Überhang und entdeckt, dass die weitere Route weniger schwer, aber noch viel schöner ist. Zwei Stellen V. Grades gehören zu den schönsten, die je einer von uns gemacht hat.

Schliesslich hissen wir uns auf die Gipfelplatten. Der Gipfel des Fou schwebt gleichsam in den Wolkenballen, die uns in gleicher Höhe umgeben. Es ist, als ob wir in einem Flugzeug wären, mit dem Unterschied, dass wir hier die Elemente im Griff haben und zu ihnen gehören. Die sich ständig verändernden Wolkenformen geben unserem Fou etwas Drolliges. Die Südwand der Aiguille du Fou ist vielleicht die schwerste Kletterei der Westalpen.

Pilier Dérobé du Frêney Bemerkung: Harlin und Frost waren die zwei amerikanischen Vertreter am Rassemblement international de Chamonix. Bei dieser Gelegenheit gelang ihnen am 1. und 2. August 1963 die Erstbesteigung des Pilier Dérobé du Frêney, an der italienischen Seite des Mont Blanc. Dieser Westpfeiler ist direkt links vom Pilier Central, wo vier Begleiter Walter Bonattis 1961 an Erschöpfung gestorben sind. Mangels eines Berichtes erachten wir es als für die Spezialisten und Historiker interessant, die Angaben Harlins über dieses ausserordentliche Unternehmen wiederzugeben - Red.

Vom Refuge Gamba erreicht man den Pilier Dérobé über den Col de l' Innominata, Glacier du Frêney, die Rochers Gruber, den Col de Peuterey, das oberste Plateau du Frêney und ein Quer-couloir, das am Fuss des Pfeilers beginnt, unter dem Pilier Central durchläuft und am Bergschrund oberhalb des Plateaus endet. Man kann auch vom Col de la Fourche über die Nordseite des Col du Peuterey kommen. Für jede dieser beiden Routen braucht man wenigstens zehn Stunden - und noch viel mehr bei schlechten Verhältnissen, bevor man den Pfeiler selbst erklimmt. Der Anmarsch ist einer der längsten, interessantesten und gefährlichsten in den Alpen. Man soll ihn nicht unterschätzen; an und für sich ist es schon eine schwere Tour.

Am Fuss des Pfeilers nimmt man an der linken Ecke einen senkrechten Riss, der durch Einklemmen und Stemmen bis zu einem guten Sicherungsplatz erklommen wird. Von da an nehmen die Schwierigkeiten zu; aber die ausserordentliche Güte des Felsens gestattet eine freie turnerische Kletterei über zwei Seillängen. Dann lässt die Schwierigkeit nach, Kamine und Risse führen leicht nach rechts, in der Richtung eines grossen Überhanges. Mit Eis verstopfte Kamine verlangen eine äusserst heikle Kletterei bis zu einer Reihe zum Biwak geeigneter Bänder. Diese Bänder nach rechts querend und dann ansteigend, umgehen wir den grossen Überhang, um eine gute Plattform zu erreichen, welche in das Couloir zwischen Pilier Central und Pilier Dérobé eindringt. Nach fünf Metern fast senkrechter Felsen und Eis, über Risse und kleine Schuppen, stemmt man sich, etwas links haltend, über vierzig Meter schwerer freier Kletterei bis zu einer Zone von Schnee und grossen Felsblöcken, die sich zum Biwak eignet.

Von der obersten linken Ecke dieser Zone erhebt sich eine mit senkrechten, wenig ausgeprägten Rissen durchzogene, gut sichtbare rote Wand. Die ganze Wand ist senkrecht oder überhängend. Diese rote Wand ist 160 Meter hoch und bildet das Haupthindernis. Es beginnt mit acht Metern freier Kletterei, dann führt ein direkter Zug zu einem kleinen Sicherungsplatz, wo man mit einem Fuss in einem Steigbügel stehen muss. Die nächste, schwere Länge ist eine Kombination von freier und künstlicher Kletterei: links haltend erreicht man über zwei kleine Dächer eine Terrasse, wo man am späten Nachmittag Wasser finden kann. Über dieser Stelle erhebt sich ein schwach ausgeprägter Pfeiler. Man muss über den Pfeiler und die ihm folgenden Risse eine schlechte Sicherungsstelle unter einem Überhang erreichen; es ist eine äusserst schwierige Stelle in freier Kletterei auf winzigen Unebenheiten. Von der Sicherungsstelle aus überwinden wir den Überhang und eine 10 Meter lange Verschneidung, um nach links in ein stark abdrängendes, aber gutgriffiges Kamin zu traversieren, das zu einem Felsband führt. Von da steigen wir nach rechts hinauf über Eis, harten Schnee und Platten in Richtung auf das den Pilier Dérobé vom Pilier Central trennende Couloir. Man muss dann das Couloir hinaufsteigen und nahe an seinem obersten Ende einen Eisüberhang erklimmen, dann wieder nach links über gebrochene Platten den Gipfel des Pilier Dérobé erreichen. Die Besteigung geht weiter durch steilen und rutschigen Schnee, über eine Rippe, über die man die Arête du Brouillard erreicht, wo der Wind den Schnee verfestigt hat. Der Grat führt zum Mont Blanc de Courmayeur.

So ist der direkte Durchstieg der Face de Frêney die schwerste Route am Mont Blanc. Die Qualität der Felsen, die technischen Schwierigkeiten, die Höhe und die Wildnis der Gegend machen diesen Aufstieg zu einer Bergfahrt grossen Formats.Übersetzung Nina Pfister )

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