Zweimal Einshorn
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Zweimal Einshorn

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Mit 2 Bildern ( 87, 88 ) und 1 TafelVon Eugen Wenzel

Weit hinten im Rheinwald, zwischen den beiden ersten grösseren, südlichen Bachzuflüssen des Hinterrheins, steht das Einshorn. Jedem Wanderer, der dieses Bündner Tal betritt, komme er durch die enge Rofnaschlucht gegen Splügen herauf oder vom St.Bernhardin-Pass gegen Hinterrhein und Nufenen herab, wird die formschöne Berggestalt sofort auffallen. Von Medels, dem kleinen etwas abseits liegenden Dörfchen aus, ist der Anblick des Einshorns vielleicht am eindrucksvollsten. Der scharfzackige Nordgrat hebt sich bestechend schön vom Himmel ab. So stark das keck aufragende Horn unter den Splügener Bergen hervortreten mag, so selten wird der Gipfel aufgesucht. Dies wird seinen Grund nicht zuletzt darin haben, dass die vom Tal aus sichtbaren Wände und Grate viel zu schroff abfallen, als dass man dort einen Aufstiegsweg suchen würde.

Als wir eines Tages von der Gemsschlucht im Südkamm des Guggernülls aus Einblick in die Südostflanke des Berges bekamen, hatten wir nicht nur die « schwache » Seite des Horns, sondern zugleich auch die Möglichkeit eines Winteranstiegs entdeckt. Aber da uns der verwegene Gedanke einer sommer- Die Alpen - 1945 - Les Alpes26 lichen Überkletterung des Nordgrates nicht mehr los liess, sahen wir uns unversehens zwei verlockenden Aufgaben gegenüber. Dem Dilemma, welchem Weg wir nun den Vorzug geben sollten, entwanden wir uns schliesslich kurzerhand so, dass wir entschieden: einmal durch die Südostflanke im Winter und einmal über den Nordgrat im Sommer! Von diesem Tag an beschäftigte uns das Doppelproblem « Zweimal Einshorn » so lange, bis es durch die Verwirklichung von zwei schönen Bergfahrten gelöst war.

Die Winterfahrt. 22. März 1940 1 1/2 km vor Nufenen lassen wir uns um 5.30 Uhr von einem Mietwagen absetzen. Während dieser schon wieder Splügen zurollt, machen wir uns noch wenig begeistert auf den Weg. Er führt auf einem bald ziemlich steil ansteigenden Alppfad auf der rechten Talseite ins Areuetal hinauf. Nach mehrmaligem Ab- und Anziehen der Ski bringen wir dieses unangenehme Waldstück hinter uns und erreichen eine Art Terrasse, welche wenig ansteigend den ganzen Westabhang des Guggernülls an seiner Basis quert. Schon der Hang selbst ist infolge seiner Neigung lawinengefährlich, aber die tiefen Furchen blankgefegter Bachrunsen lassen erkennen, dass weiter oben noch gefährlichere Sammelgebiete lauern. Es bedarf eines geringen Ein-bildungsvermögens, um sich vorzustellen, welchem Zweck diese Bahnen dienen. In höchster Eile hacken wir uns jeweilen durch die mit Eis gepanzerten « Kanonenrohre » und queren so rasch als möglich die unheimliche Flanke. Erst kurz vor der Alp di Roggio kommen wir auf ebeneres Gelände.

Die Alphütten sind halb verschneit und liegen noch im Schatten. Die geplante Rast wird also verschoben. Seit unserem Aufbruch haben wir erst 300 Meter Höhe gewonnen und haben noch 1100 zu bewältigen. Die Hänge sind überall so steil, dass es fast gleich ist, wo wir zum Anstieg ansetzen. Zuerst steuern wir südwärts gegen den vom Passo Vignone herabkommenden Bachlauf, um dann nördlich davon die ersten Kehren zu schlagen. Hier führt auch der Sommerweg empor. Da wo dieser scharf nach Süden abbiegt ( ca. 2300 m ), wenden wir uns nach rechts und halten nordwärts gegen einen von P. 2803 m abzweigenden Kamm. Auf einer schon von unten ins Auge gefassten Gratverflachung lassen wir uns endlich zur längst fälligen Rast nieder. Bevor wir uns jedoch über Brot und Wurst hermachen, vergewissern wir uns über den weiteren Aufstieg. Dieser liegt nun in seiner ebenso eindeutigen wie Respekt einflössenden Offenheit vor uns. Wer dort mit Ski hinauf will, für den gibt es nur einen Weg: die direkte Südostflanke. Der zur Zeit sicheren Schneeverhältnisse gewiss, lassen wir uns von ihrer Steilheit nicht weiter beeinflussen und machen uns von allem befriedigt über das Frühstück her.

Unserem Rastplatz gegenüber erhebt sich mit nahezu 1500 Meter Wandhöhe das Tambohorn. Dieser stolzeste und höchste Splügener Berg, der schon mehrmals Winterbesuch von uns hatte, macht auch von Westen gesehen grossen Eindruck. Wir erhalten jetzt auch zum erstenmal Einblick in die einsame Bergwelt der Val Curciusa, deren Erforschung wir für einen späteren Zeitpunkt vormerken.

Jetzt wenden wir uns wieder dem Einshorn zu. Vorerst geht es leicht abwärts in die Mulde am Südfuss des Gipfelstocks. Unter einer vom Südgrat abwärts verlaufenden. Felsstufe hindurch beginnen wir in der stotzigen Halde anzusteigen. Nachdem einige kleine Felsen umgangen sind, ist der Weg offen. So wie uns während der folgenden halben Stunde zumute ist, so muss es ungefähr einem Seiltänzer auf dem hohen Seil auch sein. Immer wieder prüfen wir den Schnee und seine Dichte bis auf den Grund. Wenn hier etwas in Bewegung käme, dann nur der ganze mächtige Hang, das wissen wir. Nach jeder Kehre nimmt die Steilheit zu, aber jedesmal, am Ostgrat angekommen, glauben wir einen weiteren Schlag in die Südostflanke wagen zu dürfen. Gerade wie wir dies aufregende Spiel auf die Spitze getrieben haben, wird der Skispur durch eine kleine Felsstufe eine Ende gesetzt. Wir stecken die Hölzer in den Firn und stapfen die letzten paar Meter zu Fuss zum Gipfel hinauf.

Das Einshorn beherrscht das gesamte Rheinwald und gewährt einen umfassenden Ausblick auf seine Dörfer, Wälder und Berge. Wenn wir den eben ausgeführten Winteranstieg auch nicht jedermann empfehlen dürfen, so muss ein Sommerbesuch auf dem gleichen Weg sicher sehr viel bieten. Einer mächtigen Wächte zufolge können wir nicht so weit gegen den Nordgrat hinaus, um dessen oberste Felsen beurteilen zu können. Wir möchten gar zu gerne wissen, ob eine Durchstiegsmöglichkeit besteht.

Um den Südosthang nicht allzulang den mittagswarmen Sonnenstrahlen ausgesetzt zu lassen, bevor wir ihn durchfahren haben, machen wir uns startbereit. Erst werden zaghaft ein paar Schwünge versucht, aber dann, wie wir die gute Beschaffenheit des Schnees festgestellt haben, schiessen wir immer frecher in den Steilhang hinab. Immer der Aufstiegsspur folgend, geben wir uns ganz dem Genuss der tollen Abfahrt hin, ein Vergnügen, das nur zu bald in der Talmulde bei der Alp di Roggio seinen Abschluss findet. Bei der Erkundung der Hütten auf ihre Eignung für einen Aufenthalt im Winter verlieren wir zu viel Zeit und müssen überstürzt aufbrechen.

In höchster Eile treten wir die Heimfahrt durch die Schlucht an. Der Schnee ist im Laufe des Tags auch an jenen Stellen, welche von den Lawinen blankgescheuert wurden, nicht mehr so hart wie am Morgen. Dort wo der Sommerweg weiter an der Guggernüll-Westflanke hinauszieht, fahren wir wie gehetztes Wild auf einem holperigen Lawinenkegel ganz in die Schlucht hinab und wechseln auf die linke Talseite. Wir versprechen uns dort einen sicherern Ausgang. Zu unserer Überraschung finden wir hier Pulverschnee, aber in solchen Mengen, dass er uns zum schweren Hemmschuh wird. Über Stock und Stein und durch zeitraubende Bachrunsen arbeiten wir uns vorwärts, bis wir, allerdings erst kurz vor Nufenen, in offeneres Gelände vorstossen. In letzter Minute erreichen wir das abfahrtsbereite Postauto und sind eine Viertelstunde später in Splügen zurück.

Die Sommertour. 28. Juni 1942 Zwei Jahre mussten verstreichen, ehe auch der zweite Teil unseres Eins-hornproblems seine Lösung fand. Wohl war uns in der Zwischenzeit eine mehrtägige Winterfahrt in der Val Curciusa gelungen, wobei wir den ganzen Bergkranz vom Einshorn über Pizzo Lumbreda und Pizzi dei Piani bis zum Tambohorn erforscht hatten, aber immer noch blieb der Nordgrat am Einshorn und spukte in unseren Tourenplänen herum. In Georg Weber, dem von den vielen Splügener Touren gerade auch noch dieser Berg fehlte, fanden wir einen begeisterten Gefährten für diese neue Kletterfahrt.

In Nufenen werden wir im Rothus nicht nur freundlich bewirtet, es werden uns ähnliche Ratschläge zuteil wie seinerzeit, als wir zum Entsetzen der guten Leute im Winter ins Areuetal wollten. Diesmal wandern wir bei einbrechender Nacht gegen das Tal hinauf. Eine halbe Stunde führt der Weg zwischen schönen Fettwiesen taleinwärts, dann nehmen wir die Abzweigung rechts des Horneralpbaches und kommen nun rasch über die Waldgrenze. Die Hütte, die wir für unser Nachtlager wählen, liegt ungefähr auf 2200 m Höhe am Wannenberg. Ein paar zusammengekratzte Büschel alten Heus müssen diesmal genügen, uns eine Matratze vorzutäuschen. Die Hütten-beleuchtung übernimmt freundlicherweise der Vollmond.

Bei unsicherem Wetter verlassen wir am Morgen lange vor Sonnenaufgang die Hütte. Ein brodelndes Nebelmeer füllt das Tal, aber der Nordgrat des Einshorns hebt sich in klarer Schärfe am grauen Himmel ab. Wir stehen bald am Einstieg. Den ersten kleinen Turm umgehen wir auf der Westseite. Seine Überkletterung würde zwar keinerlei Schwierigkeiten bieten, uns jedoch auch nicht wesentlich höher bringen. Gleich darauf müssen wir fest zugreifen. Das grosse augenfällige Felsband, das die ganze Nordflanke durchzieht, bildet hier einen mächtigen Abbruch. Das Gestein ist günstig geschichtet, doch sehr lose. Wir klettern alle zugleich und haben die erste Felsbastion bald überwunden. Es folgt ein kleiner Felszacken mit ein paar glatten Platten auf seiner Südseite. Damit ist der erste Teil des Grates überklettert. Im gleichen Zuge stürmen wir auch noch das breite Geröllband und halten am Fuss des Gipfelstockes kurze Rast. In der Zwischenzeit haben die warmen Sonnenstrahlen Leben in das Nebelmeer gebracht. Die Wolkenfetzen streichen in wilder Auflösung an den Abhängen empor und haben da und dort die Sicht ins Tal freigegeben.

Der letzte und schwierigste Abschnitt des Nordgrates steht uns noch bevor. Die Überwindung der nächsten Felsmauer des fast überhängenden Gipfelturms muss zweifellos die grössten Schwierigkeiten aufweisen. Eine direkte Gratverfolgung ist nicht möglich. Es gelingt uns zwar, ein paar Meter der senkrechten Wand zu erklettern, aber dort werden wir auf einem Bändchen nach links vom Grat abgedrängt. Ein kaminartiger Riss bietet Gelegenheit, einige stark überhängende Absätze zu überlisten. Auch die darüberliegenden Partien türmen sich in gleichbleibender Steilheit auf und bringen uns die gesuchten Kletterfreuden. Unangenehm empfinden wir einzig die lose Beschaffenheit des verwitterten Gesteins. Der Ausstieg auf ein etwa in halber Höhe des Gipfelturms durchziehendes Geröllband erfordert grösste Vorsicht, damit wir uns mit dem losen Material nicht gegenseitig erschlagen. Das Band führt uns auf den Grat zurück. Die direkte Überkletterung der Kante ist auch hier wieder nicht möglich. Nachdem wir uns mit einem Blick in die Westflanke von deren schlechter Felsbeschaffenheit überzeugt haben, wenden wir noch einmal das gleiche Manöver wie weiter unten an. Nach links haltend, erklimmen wir die brüchigen und fast senkrecht übereinander aufgebauten Felsbänder, bis wir auf einem neuen breiteren Geröllband auf die Gratkante zurückkehren können. Hart links der Schneide und die letzten 50 Meter auf der Kante selbst geht; es in ebenso lottriger wie luftiger Kletterei dem Gipfel entgegen. Unversehens stehen wir zum zweitenmal auf dem spitzen Horn.

Wieder liegen wir auf den warmen Steinplatten und nehmen das vertraute Bild der Berge um die Val Curciusa in uns auf. Unter die eben frisch aufgenommenen Eindrücke einer an spannenden Überraschungen reichen Klettertour mischen sich Erinnerungen an winterliche Skifahrten und lassen jene Stimmung aufkommen, die uns Bergsteiger jedesmal neu erfasst, wenn wir zufrieden und glücklich eine Gipfelstunde verträumen.

Während des Abstiegs durch die Südostflanke müssen wir uns beim Betrachten des rasendurchsetzten, ungegliederten Abhanges eingestehen, dass es grossen Wagemutes bedurfte, sich einer auf diesem glatten Untergrund aufliegenden Schneedecke anzuvertrauen. Bei weitem nicht so rasch wie damals im Winter auf unseren flinken Brettern, geht es heute zur Alp di Roggio hinab. Diesmal herrscht munteres Hirtenleben auf der Alp. Während uns der Senn mit frischer Milch bewirtet, erzählen wir ihm vom Einshorn und von der stillen Abgeschiedenheit seiner Alp in den Wintermonaten. Zwei Stunden später sitzen wir im Postauto und lassen uns von diesem durch die Viamala heimwärts entführen.

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