Zweimal Passo del Rampi
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Zweimal Passo del Rampi

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

rVon Max Koenig

( Zollikon/Zürich ) In der Februaraummer ( 1949 ) der « Alpen » berichtet Giuseppe Ritter, dem wir treffliche Schilderungen seiner Tessiner Bergfahrten verdanken, über den Passo Rampi und das Val March.

Es war vor etwas über zwei Jahren, am 3. Oktober 1946. Im Albergo d' Efra hatte es sich Francesco nicht nehmen lassen, uns das Frühstück so zeitig bereitzuhalten, dass wir schon um 5 Uhr — noch im Dunkel — von Frasco weggehen konnten. Wir wollten über den Passo Rampi in Bodio den Nachmittagszug nach Zürich erreichen. Bei der Kapelle auf dem Felsen, da wo das gute Weglein fast horizontal in das Val d' Efra hineinführt, schauten wir noch den Lichtern der Sennen zu, die im Talboden zum frühen Melken in die Ställe gingen.

Durch das anmutige Val d' Efra bin ich oft gegangen. Von der Val Nadro her über die Bocchetta und den Pizzo Cramosino oder von der Val Cramosina her über den Passo di Treccio und den Madone grosso. Auch hin zum Passo Gagnone nach Personico, zum Lago d' Efra oder an ihm vorbei zum Pizzo Scaglie und zum Cima di Gagnone. Wieder umfing uns sein Friede, und fast unvermerkt und rasch kamen wir zu den Hütten der Alpe d' Efra in die milde, weisse Sonne eines klaren Herbsttages. Der Rückblick von dieser Terrasse ist schön. Hinter dem unmittelbaren Vordergrund der jenseitigen, westlichen Begrenzung des Verzascatales, vom Pizzo Piancaccia zum Monte Zucchero und zur Corona di Redorta, leiten Sihouetten um Silhouetten zum fernen Horizont des Monte Rosa und der Walliser und Berner Riesen. In die Unendlichkeit gewölbt, beschliesst ein südlich blauer Himmelsdom die Erhabenheit des Bildes.

Lange geht es dann hinauf an der Flanke der Poncione d' Efra. Hoch über uns ziehen schwarze und weisse Ziegen, in der Wärme des Südabhanges, langsam zum Gipfel. Hin und wieder zittert der Ton ihrer Glöcklein zu uns. In der Mulde zwischen Basal und Cima d' Efra zeichnet sich offen und einfach die Passeinsattelung ab, und aus ihrem Einschnitt wachsen beim Näher- und Höherkommen die Berge im Osten. Zur Rechten der Pizzo Claro, uns gegenüber die dunkle Cima di Biasca und hinter dem Val Pontirone und der Val Blenio die edle Adula.

Die Kuppe des Basal vermittelt auch willkommenen Einblick in die Formen und Zusammenhänge der nahen Berge und Täler der Verzascagruppe. Dem suchenden raschen Auge folgen sinnend die Gedanken unvergänglichen Wanderglückes. Habe ich vor zwei Jahren, dort drüben, wirklich den richtigen Passo Gagnone überschritten, oder wäre es besser gewesen, statt den Krachen hinunterzusteigen, weiter hinüber bis zum Sattel unter den Cima di Gagnone zu gehen, von wo es sich breit zum Val Gagnone senkt? Und war es klug, voriges Jahr, mich im hängenden Frühlingsschnee der Bocchetta Val Nadro hinaufzuzwängen und damit auch meine Tochter zu gefährden? Warum nicht rechts über Partous zum Ostgrat des Cramosino oder über die Schneefelder am Nordhang des Basal, den Passo Rampi erreichen? Späte Weisheit aus « höherer Warte », aber es war ja herrlich, wie es eben war.

Bis dahin hat uns der weitere Passo Rampi nicht beschäftigt, irgendwie drängt er sich nicht auf. Im Klubführer ist er als « interessanter, aber beschwerlicher Übergang, auf kurze Strecke exponierte Kletterei » beschrieben. Einladend und natürlich scheint die östliche Paßseite zum Tal zu führen, die Karte braucht gar nicht mehr befragt zu werden. Aber was ist das? Plötzlich geht es wie abgebrochen in die Tiefe. Werden wir da durchkommen? Auch mein bewährter Führer und Kamerad, Heinrich Schmidt aus Bergün, stutzt. Nun aber die Karte her! Doch, ja es muss stimmen, vom Scheitel des Passes geht das eingezeichnete Weglein in der Fallirne weg. Wir kommen wieder zum Abbruch und sondieren in die jähe Wand. Während der Führer das Seil bereit macht, gehe ich noch einmal zur Einsattelung zurück, auf die älteren Tessiner Karten kann man sich nicht immer ganz verlassen. Entgegen der Kartendarstellung halte ich nun scharf nach links auf den schmalen Ostgrat des Basal hinaus. Wie Schuppen fällt es jetzt von den Augen. Dieser Grat ist ja der Weg und führt als kühne Brücke zwischen der Val Gagnone und der Val Nadro von der Passhöhe hinüber zum Val Marcri, das nicht bis zum Hauptkamm vordringt. Für dieses kurze, aber wesentliche Paßstück ist die Einzeichnung im Topographischen Atlas irrig, sie hat Giuseppe Ritter genarrt und uns zu zweit, bei hellichtem Tage, beinahe ebenfalls.

Den Gendarm in der Gratschneide umklettern wir angeseilt auf seiner Südseite. Dann wird es wieder ganz einfach und nach kurzem Anstieg auf den Ausläufer des Piano Forno öffnet sich fast in seiner Ganzheit das Val Marcri. In seinem amphitheatralischen Talabschluss liegt schwermütig verträumt ein kleines Seelein; wir wollen dort rasten. Die Gräte, Felsen, Wälder und die herbstlich rötlichen Grasbänder liegen im etwas unwirklichen milchigen Licht der Oktobersonne. In der grossen, eindringlichen Stille klingen auch unsere Stimmen fremd.

Vom Ticinetto bis zur Verzasca bei Gordola bin ich durch alle diese oft schluchtartigen, herben, strengen Täler und Tälchen über den Gebirgskamm ins Verzascatal gezogen. Sie alle erstrahlen in wilder, einsamer Schönheit, aber keines ist zudem auch Heblich wie das Val Marcri. Wohl sind auch seine Hütten Stein, aber sie tragen ungewohnte Stangen und die zusammengelesenen Steine auf den Matten sind wie rituell aufgetürmt. Sein Wald und seine Weiden liegen breit im Talboden und ziehen sich sanft in den Berghang hinauf. Längst sind die Sennen zu den Monti oder in den Piano zurück. Das Tal ist still und einsam, und doch hegt ein Hauch von Leben über ihm. Der malerische Eindruck einer Tiroler Landschaft wird gar stark, als in der Stufe gegen Ra-gozza — o seltenes Wunder im Tessin — kaum 30 m von uns ein grosser prächtiger Gemsbock aus einer Jungtannengruppe ausbricht und das Jägerblut meines Bündner Führers in Wallung bringt.

Doch das Val Marcri ist nicht gross. Schon sind wir am Ende des kleinen Hochtales, das, wie ein Torso von der Welt abgeschnitten, mehr als 1000 m über dem nahen Personico und Bodio liegt. Sein gewaltiger Abbruch, durch welchen das Flüsschen in tiefem Einschnitt zum Ticino stürzt, zwingt zum weiten Ausholen nach Norden. Ein rauhes, oft ganz abgerissenes Weglein führt durch Hochwald steil hinab nach den Monti Sassano, schon am Ausgang des Val Nadro. Noch wird hier letztes, saftiggrünes Gras geschnitten, und man möchte auf dieser luftigen Kanzel mit ihrem wunderbaren Tiefblick über die Leventina gerne verweilen, aber nun drängt die Zeit. Für den eiligen Abstieg über die glatten Platten, das Geröll und das trügerische Laub des Pfades muss der Geist wach, das Auge scharf und der Fuss rasch und zuverlässig sein. Wo ich auf meinen Vibram lautlos und sicher bin, höre ich oft hinter mir das Knirschen und Gleiten der Tricouni meines Begleiters. In einem Finale furioso erreichen wir Bodio noch rechtzeitig für einen Trunk und den Zug. Der Höhenunterschied vom Basal bis Bodio von über 2200 m entspricht z.B. im Engadin dem direkten Abstieg von einem 4000er.

Der Passo del Bampi ist beispielhaft für das, was die Tessiner Berge zu bieten vermögen — wer wohlfeile Bomantik erwartet, wird schwer enttäuschet sein — er ist aber auch beispielhaft für das, was sie voraussetzen. Für die Extramühe, welche dieser Pass im besonderen verlangt, entschädigt er reich durch die köstliche Beigabe des seltsamen Val Marcri.

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