«Alter, immer diese Berge …»
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«Alter, immer diese Berge …» Open-Air-Schule im UNESCO-Welterbe Jungfrau-Aletsch

Eine Schulklasse verbringt eine Projektwoche auf der Bächlitalhütte. Was nach Abenteuer statt tristem Schulmief tönt, ist für manche ­Jugendliche eine Erfahrung der eigenen Grenzen - aber auch ein ­bleibendes Erlebnis.

Ein schöneres Schulzimmer könnte sich Claude Graber nicht vorstellen. Er sitzt auf einem grossen Felskopf über dem Bächlital im Grimselgebiet, neben ihm vier Schülerinnen und ein Steinmann. «Ist das nicht grossartig hier?» Es ist weniger eine Frage als eine Feststellung des Lehrers. Der Blick schweift über das Tal, hinab zur zauberhaften Schwemmlandschaft, zum Juchlistock und zu den wilden Zacken des Brüngrats und talaufwärts zur SAC-Hütte mit dem breit rauschenden Wasserfall.

«Schulzimmer» ist für diese Arena ein viel zu bescheidener Ausdruck. In den Gesteinsformationen manifestieren sich verschiedene Zeiten, es verbergen sich Einsichten über Wetter und Zeit, über Fauna und Flora und auch über die Menschen, die in dieser Welt auftauchen und wieder verschwinden. All diesen Geschichten ist Claude Graber mit seinen Schülerinnen und Schülern aus Zollikofen auf der Spur. Die neunte Realklasse verbringt eine Projektwoche auf der Bächlitalhütte im Rahmen des Programms AlpenLernen – Unterricht im Hochgebirge. Nach ihrer Open-Air-Lektion in Geologie sind die Schülerinnen auf der Terrasse der Hütte angehalten, den Gletscher und die Geländeformen zu lesen. Erinnern sie sich an die Begriffe, die sie kürzlich im Schulunterricht durchgenommen haben? Wo sind die Seitenmoränen? Das Gletschertor? «Wisst ihr noch», fragt Claude Graber, «wie der vorderste Teil des Gletschers heisst?» «Die Nase!», ruft Elisabeth unbekümmert in die Runde. «Äh nein, die Zunge!» Die Girls lachen und beugen sich wieder über ihre Papiere. Hier und dort muss etwas zurechtgerückt werden, eine Sonnenbrille, ein dicker Schal oder ein Pullover. Haare fliegen von einer Seite zur anderen.

Angst auf dem Hüttenweg

Der Lehrer will nicht nur Anschauungsunterricht vor Ort bieten und seine Klasse für die Bergwelt begeistern, die er selbst gerne mag. Er geht in Anlehnung an die vorgegebenen Materialien des Programms einen Schritt weiter und fordert die Klasse auf, sich mit den Lebenswelten verschiedener Akteure im Alpenraum auseinanderzusetzen. In einem Spiel versucht eine zweite Gruppe von Schülern, unterschiedliche Positionen einzunehmen. Was könnte die Absicht eines Mitarbeiters der Tourismusorganisation sein? Welche Ziele verfolgt er in dieser Bergwelt? Wo liegen die Interessen der Kraftwerksbetreiber? Was könnte eine Naturschützerin in der Region erreichen wollen?

Nicht alle finden Lehrer Grabers Feuer für die Berge toll. «Wir gehen nie irgendwo anders hin», hält Andreja beim Mittagessen fest. «Auf den Schulreisen, in den Lagern … Wir fahren immer nur in die Berge!» «Ja, Alter», stimmt Serhat zu, «immer. Die Berge sind zwar okay, aber wandern? Ein absolutes No-Go!» Vor Antritt der Reise waren viele aus der Klasse misstrauisch gewesen. Der Anstieg von zwei bis drei Stunden bis zur Hütte stand wie eine unüberwindbare Barriere vor dieser Woche im Gebirge. «Ich bin noch nie über einen solchen Weg gegangen», erklärt Selin, «die Steine waren so wacklig, und ich hatte das Gefühl, die vielen Felswände würden auf mich herunterstürzen. Ich musste mehrmals weinen.» Sie war lange unterwegs, ihre Beine brannten, und doch sagt sie: «Als ich in der Hüt­­te ankam, war ich der glücklichste Mensch auf der Welt!»

Die Frage nach dem Internet

Für Claude Graber und die zweite begleitende Lehrerin Rahel Guggisberg ist klar, dass die Woche für viele ihrer Kids nicht nur ungewöhnlich ist, sondern auch bedeutet, an die Grenze zu gehen.

Beide Lehrkräfte wollen die Klasse bewusst aus der Reserve locken. Rahel Guggisberg unterstreicht: «Man dreht sich so oft in den gleichen Mustern. Es tut uns allen gut, etwas anderes zu machen, ich finde, man fühlt sich dann viel lebendiger.» Die Hüttenwartin Erna Schuler hat schon mehrere Klassen in «ihrem» Zuhause auf dem Berg willkommen geheissen. Sie schlüpft gerne in die Rolle der «Grossmutter für alle», wie sie sich selbst nennt. Manche Dinge seien immer gleich. Nach der Ankunft würden jeweils alle nach dem Internet fragen, weil aber nur sie selbst Zugriff habe und die Leitung aus­serdem schwach sei, erledige sich diese Frage schnell. «Mich freut es be­sonders, dass sich bisher niemand weigerte, ein Ämtli in der Hütte zu erledigen. Die Kids machen alles», freut sich Schuler. In einem Themenblock helfen die Jugendlichen der Hüttenwartin bei den anfallenden Arbeiten und lernen dabei viel über Recycling und Energieproduktion fernab der Zivilisation.

Unerwartete Augenblicke

Als Ausgleich zu Unterricht, Rollenspielen und Hüttenarbeit machen die Jugendlichen im Klettergarten mit Bergführer Tobias Erzberger erste Kletterversuche. Für die meisten ist dies eine Aktivität weit jenseits ihrer Vorstellungskraft. Lenny murmelt mehrmals: «Niemals klettere ich da hinauf. Ich will doch nicht sterben.» 15 Minuten später lehnt er sich zufrieden und leicht erstaunt über sich selbst ins Seil – die erste Route ist geschafft. Schwieriger als das Klettern findet er das Sichern seiner Kollegin Vanessa. Doch auch sie kraxelt munter durch verschiedene Routen.

Erzberger mag den Umgang mit den Jugendlichen. «Es dreht sich nicht alles um Leistung, sondern um neue Erlebnisse», sagt er. Zudem sei es eindrücklich, zu sehen, wie schnell alle Fortschritte machten, schon nur beim Gehen in weglosem Gelände. Es sind jene kleinen Momente, in denen plötzlich etwas möglich wird, mit dem niemand gerechnet hat: eine souverän gekletterte Route, ein Bad im kalten Bergsee, ein gemeinsam erwandertes Ziel, eine Seilschaft auf dem Gletscher. Dabei wird auch klar, dass eine solche Projektwoche weit mehr ist als ein paar Tage Schule an einem speziellen Ort. Auf viele unterschiedliche Arten erkämpfen sich die Jugendlichen Ziele und Einsichten, gelangen zu neuen Standpunkten, wechseln – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick – die Perspektive. «Schwierig und dennoch toll» sei es gewesen, schreibt ein Schüler auf dem Bogen mit den Rückmeldungen: «Wie in einer alten Zeit, als es stank und gefährlich war.»

AlpenLernen – Unter-richt im Hochgebirge

Das Projekt AlpenLernen soll Jugendliche und Erwachsene für die vielfältige Themenwelt im Alpenraum ­sensibi­lisieren. Dieser Auftrag liegt nicht nur dem UNESCO-­Welterbe Jungfrau-Aletsch am Herzen, sondern auch dem Schweizer Alpen-Club. Dank der Unterstützung der Stiftungen Mercator Schweiz, education21 und Paul Schiller sowie die CSS-Versicherung konnten von ­August bis September 2017 sechs Schulklassen von der Primar- bis zur Sekundarstufe II eine Woche in der Bächlitalhütte verbringen. Für 2018 sind noch Wochen frei. Infos und Anmeldung für Lehrpersonen bei Janosch Hugi, Managementzentrum UNESCO-Welterbe Jungfrau-Aletsch, Projektleiter Bildung, 027 924 52 76, j.hugi@jungfraualetsch.ch. Weitere In­formationen zum Projekt sowie Unterrichtsmaterialien unter www.alpenlernen.ch

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