«Auf dem Berg bin ich Gott näher»
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«Auf dem Berg bin ich Gott näher»

Er ist ein Mann der Kirche, und er ist ein Mann der Berge: Seit 37 Jahren ist Gilles Roduit als Priester tätig, neun Mal lief er die Patrouille des Glaciers. Für ihn hat der Alpinismus immer auch eine spirituelle Dimension.

«Ich liebe die Menschen, die in die Höhe steigen und gestärkt zurückkehren, um ihre Mitmenschen zu lieben», sagt Gilles Roduit irgendwann. Er hat einen spirituellen Zugang zu den Bergen. Das überrascht nicht bei einem Mann, der 37 Jahre Priesteramt und neun Patrouilles des Glaciers (mit einer Drittplatzierung in seiner Kategorie) hinter sich hat.

Der 58-jährige Walliser mit dem klaren Blick und der umgänglichen, unkomplizierten Art ist in der Ebene von Saxon aufgewachsen. Er war eines von sieben Kindern einer Bauernfamilie. Dort wurde mehr gearbeitet, als dass man daran dachte, auf Gipfel zu steigen. Aber der kleine Gilles verehrte die Berge und schwelgte in Bewunderung für seinen Helden, den Bergführer Michel Darbellay. Und er kletterte, wo er konnte – auf Bäume oder auf das Dach des Bauernhauses – und wann immer es ging. «Sieben Mal musste ich am Kopf genäht werden», erinnert er sich mit einem Grinsen. Gelegentlich unternahm er Ausflüge mit Freunden abseits der Pisten bei Ovronnaz, aber ansonsten verhallte der Ruf der Berge unbeantwortet.

Segnung am Seil

Mit 20 Jahren führt ihn der Ruf Gottes schliesslich doch in die Höhe. Es war während seines Studiums in St. Maurice. «Edgar Thurre, ein Kanoniker und Bergführer, nahm uns einmal pro Woche in die Berge. Er war ein leidenschaftlicher Berggänger, der mindestens zehn andere Bergführer im Wallis ausgebildet hatte.»

Gilles Roduit biss an. Der zukünftige Kanoniker spürte eine starke Verbindung zwischen dem Aufstieg am Berg und seinem Glauben. «Wenn man junge Menschen dazu anhält, die Berge hochzusteigen, ist das auch ein Aufruf zum Erwachsenwerden», sagt er mit Nachdruck. Aus dieser Zeit erinnert er sich vor allem an einen Expressaufstieg während eines Jugendlagers. Es ging auf das Zinalrothorn. «Um zwei Uhr morgens sind wir von der Mountet-­Hütte aufgebrochen, und um halb zwei Uhr nachmittags gab es bereits ein Bier auf dem Gipfel.» Wenn der Geistliche Gott nah sein will, scheut er sich auch nicht, «dorthin zu spurten, nur um zu sehen, ob der Motor gut funktioniert». In seinen 26 Jahren als Priester in Ba­gnes hatte er unzählige Möglichkeiten, sich dessen zu vergewissern.

Dort oben wundern sich die Gemeindemitglieder selten, wenn ihnen ihr Pfarrer in engen Sportshorts auf den Alpweiden oder den gängigen Bergrouten der Region entgegenrennt. Genauso normal ist es, wenn er Bergkreuze und Kapellen in der ganzen Region weiht. 2011 hing er in kurzen Hosen und Helm angeseilt in der Wand der Via Ferrata bei Saillon und segnete den Fels mithilfe eines Megafons. Dem damaligen Bischof von Sitten soll sich diese Stilübung leider nicht in ihrer ganzen Schönheit erschlossen haben …

Den Berg im Herzen

In Bagnes mussten die Ski in der Garage nie lange auf Gilles Roduit warten. «Ich war oft alleine unterwegs, da ein Priester nicht zu den üblichen Zeiten arbeitet, aber ich habe es geliebt. Durch die Schönheit, die Einsamkeit und die Unerbittlichkeit des Berges sprach Gott zu mir. Ich mochte es, die erste Spur zu ziehen, frei zu sein, Zeit zum Aufladen zu haben und zu beten.» Im Sommer rannte Pfarrer Roduit gerne um den Bec des Rosses. Er gesteht, dass er dort ­einen Ort gefunden hat, wo er «inmitten von Gämsen gerne sterben würde». Nachdem er es unzählige Male aufgeschoben hatte, akzeptierte Gilles Roduit 2013 schliesslich seine Versetzung. Zu Fuss verliess er Bagnes in Richtung Medjugorje. Das Dorf in Bosnien-Herzegowina ist 1981 durch eine Ma­rien­erscheinung berühmt geworden. «Mir war, als ob ich in einem Monat fünf Mal die PDG gelaufen wäre, aber es war nötig, um einen Neuanfang zu erreichen.»

Danach folgte eine Auszeit von einem Jahr im Simplon-Hospiz. «Es war das schönste Jahr meines Lebens. Ich hatte Zeit und nahm Leute in die Berge mit. Das war eine wunderbare Mission. Ich hege übrigens grosse Bewunderung für die Bergführer. Sie sind bescheiden, sie sind sich ihrer Qualitäten, aber auch ihrer Grenzen bewusst, und sie sind diejenigen, die die Leute bei der Hand nehmen und in die Berge hoch zu den Gipfeln führen», erklärt Gilles Roduit, der auch J+S-Leiter ist.

Heute lebt der Kanoniker nicht unweit der Gemeinde Saint-Sigismund bei Saint-Maurice. In seinem Garten hat er ein Gummiseil gespannt. Während unseres Besuches versuchen sich ein paar Jugendliche an der Slackline. Die Leidenschaft für die Berge brodelt nach wie vor in ihm, aber er gibt ihr nicht mehr so viel Platz. Im Februar 2016 hatte er einen schweren Autounfall. «Das hat mich in meinen Grundfesten erschüttert, aber ich hoffe, eines Tages wieder zurückkehren zu können», sagt er.

«Bergsteiger des Mitgefühls»

An der Wand seines Büros hängt ein Porträt von Mutter Teresa. «Nachdem ich fünf Monate in Haiti an der Seite der Schwestern von Mutter Teresa verbracht habe, kann ich bestätigen, dass sie wie erfahrene Bergsteiger sind. Selbstlos erklimmen sie die Gipfel des Mitgefühls. Sie zu begleiten, ermöglichte mir, noch gestärkter in die Berge zu gehen.»

Gilles Roduit tut auch in seinen eigenen vier Wänden Gutes. Seit bald zwei Jahren empfängt er regelmässig eine eritreische Flüchtlingsmutter und ihre drei Kinder. Nach der Mahlzeit, zu der er uns eingeladen hat, beäugen die Jungs neugierig die ultraleichten Ski ihres Freundes. Der Priester nimmt sie gelegentlich mit in die Tourche-Hütte oder auf die Pierre Avoi. «Ihre Mutter hat die Wüste mit ihnen durchquert, um hierherzugelangen», erinnert er uns. «Ich bewundere das viel mehr, als wenn sie eine 8c geklettert hätte», fügt der Priester lächelnd hinzu.

Pilger statt Vagabunden

Für ihn sucht jeder Berggänger, ob unbewusst oder bewusst, etwas Spirituelles in der Höhe. «Erhard Loretan starb als Atheist, aber davor sagte er, er hätte im Himalaya eine sehr starke Präsenz gespürt. Ueli Steck kannte das nicht. Ich habe ihn als jemanden beobachtet, der etwas hinterherrannte, das er nicht fand.» Und der Pfarrer schliesst ganz philosophisch mit den Worten: «Das Leben sollte uns zu Pilgern machen, nicht zu Vagabunden. Wie der Bergsteiger, der den Gipfel ansteuert, hat auch der Pilger immer ein Ziel.»

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