Aus Gastern
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Aus Gastern

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von allen Gebirgsübergängen, die seit alter Zeit den Verkehr zwischen Bern und Wallis vermittelt haben, ist gewiß keiner so in Vergessenheit geraten wie der Paß über den Lötschenberg, der in einer Höhe von 2695 m von Gastern hinüber ins Lötschthal führt. Und dies mit Unrecht. Liegt derselbe auch etwas abseits von der großen Heerstraße, durch welche sich der Touristenstrom von Kandersteg aus über die mühelos und in kurzer Zeit zu überschreitende Gemmi nach den komfortablen Bädern von Leuk ergießt, so verdient er seiner landschaftlichen Schönheiten und Ausblicke sowohl, als auch seiner historischen Bedeutung wegen, mehr bekannt gemacht und clubistischerseits häufiger begangen zu werden. Dies um so mehr, da man dabei einerseits das an landschaftlichen Kontrasten so reiche Gasternthai, eines der wildesten und abgelegensten Hochthäler der Berneralpen, kennen zu lernen, andererseits dem lieblich ernsten Lötschthal mit seinem imposanten Kranz von Bergriesen einen Besuch abzustatten Gelegenheit hat.

In der letzten Zeit ist der Lötschenberg hie und da in den Tagesblättern anläßlich eines wieder aufgetauchten Eisenbahnprojektes, welches Bern mit dem Simplon direkt verbinden sollte, genannt worden. Doch wird in der gegenwärtigen Zeit, wo Bergbahnprojekte und Konzessionen der denkbarsten und undenkbarsten Art wie Pilze aus dem Boden schießen und billig zu haben sind, auch dieses Lötschbergbahnprojekt nicht so bald seiner Ausführung entgegen gehen und dürfte es noch einige Zeit dauern, bis wir auf der Station „ Heimriz " im Gasternthai, wo quer durch den Berg der Tunnel nach Ferden beginnen soll, den Eisenbahnzug verlassen und unserm heutigen Ziele, dem Lötschenpaß, zuwandern können.

Der Lötschenpaß ist in unserm Jahrbuch schon zu wiederholten Malen Gegenstand eingehender Behandlung in Wort und Bild gewesen. Wir erwähnen u.a. die Ansicht des Bietschhorns, vom Kreuz auf der Paßhöhe aus, in Band XXIV; vor allem aber die verdienstvolle geschichtliche Abhandlung über das Lötschthal von Meyer v. Knonau in Band XX. Diese ist es auch, welche uns veranlaßt, beiliegende Ansicht des Lötsch-berggletschers den Lesern des Jahrbuches vor Augen zu führen, zur Illustration der Kämpfe, die sich auf jenen eisigen Höhen am 9.,'10. August 1419 zwischen Bernern und Wallisern abgespielt haben und bei welcher Gelegenheit die bernischen Truppen die Nacht bei großer Kälte und Ungewitter auf dem Gletscher zuzubringen gezwungen waren.

Das Bild ist von der sogenannten Balm ( 2421 m ) aus aufgenommen, dem überhängenden Felsen am östlichen Absturz des vom Balmhorn sich herabsenkenden Grates. Es ist dies auch die Stelle, die Meyer v. Knonau ganz richtig als das „ Wild Elsigki " des Chronisten Justiugers bezeichnet, während wir heutzutage „ Wildeisigen " auf der nördlichen, dem Gasternthal zugekehrten Seite zu suchen haben.

Um von der Balm aus zur Paßhöhe, der sogenannten Gandegg, zu gelangen, überquert man den Gletscher, der, wie die Ansicht zeigt, bei einiger Vorsicht ganz ungefährlich ist, etwas oberhalb des Absturzes, um bis hinauf auf seiner rechten Seite in den Felsen zu bleiben. Dort ist es auch, wo man auf die noch bedeutenden Spuren des alten gepflasterten Saumweges trifft, dessen Wehrsteine und Untermauernngen noch streckenweise erhalten sind. Wir wollen nicht näher darauf eintreten, unter welchen Umständen dieser Saumweg zu stände gekommen, und besonders seit der Erstellung des gegenwärtigen Gemmiweges wieder zerfallen ist, sowie welche historische Bedeutung ihm im 15. bis 17. Jahrhundert zukam; wir verweisen darüber noch einmal auf die oben erwähnte Darstellung von Meyer v. Knonau. Nur noch einige Bemerkungen über die sogenannte Gasternbibel, die mit der Erstellung dieses Saumweges in nahem Zusammenhang steht.

Tief unten im Gasternthai liegt auf grünem Wiesenplan zerstreut eine Gruppe von altersgebräunten Hütten; einige von Lawinen halb zertrümmert, andere sonst im Zerfall, verraten durch ihr Äußeres, daß sie nicht ständig bewohnt, sondern nur vorübergehend im Sommer benützt werden. Es ist das Dörfchen Seiden, auch das Gasterndörfli genannt. Bis in den Anfang dieses Jahrhunderts wurde dieses Dörfchen das ganze Jahr von mehreren Haushaltungen bewohnt. Verwilderung der Gegend, zum Teil die Folge freventlicher Abholzung der schützenden Wälder, Zunahme von Lawinen und Steinschlägen, hatte zur Folge, daß ein ständiger Aufenthalt in Gastern zur Unmöglichkeit wurde, und die eingeborne Bevölkerung sich allmählich aus der gefahrdrohenden Umgebung, wenigstens während der Wintermonate, nach Kandersteg und Mitholz zurückziehen mußte. Im Sommer dagegen, besonders während der Heuernte, werden die Wohnungen daselbst wieder bezogen und mögen dann etwa sechzig Personen den lieblichen Thalgrund bewohnen. Bei diesem Anlaß wird dann auch im Freien auf einer Matte die sogenannte Gasternpredigt abgehalten, zu welchem Zweck jeweilen der Pfarrer von Kandergrund diese abgelegenste Ecke seines Sprengeis besucht. Eine treffliche Schilderung dieser eigenartigen Bergpredigt finden wir in der „ Alpenpost " von 1874 und in dem Werk „ Das Frutigland " von K. Stettier. Bei dieser Gelegenheit wird dann aus einer Truhe das Heiligtum des Gasternthaies hervorgehoben, die alte, ehrwürdige, mit Silber beschlagene Gasternbibel. Was für eine Bewandtnis es mit dieser Bibel hat und inwiefern dieselbe mit dem oben erwähnten Saumweg im Zusammenhang steht, beweist uns die darin befindliche handschriftliche Aufzeichnung aus dem Jahre 1696, die wir hier dem Wortlaute nach folgen lassen:

„ Gott dem Allmächtigen und Allgütigen zu Lob und zu Beförderung seines heiligen Namens Ehr. Verehre ich Unterschriebener denen ehr-sam und bescheidenen Einwohnern deß wilden Thals Gasteren ins Gemein diß Buch, in welchem begriffen ist das Heilige Wortt und Willen deß Allmächtigen Gottes, der einzige Trost unßerer unstärblichen Seelen, die gnädige Verheissung Unßerer Erlösung und Säligkeit, Wodurch der Heilige Geist, der starke Pinger Gottes aller Außerwelten Harz Beriirt Und Unß Versichert der Unendtlichen Liebe Und Barmherzigkeit die Er Unß in Christo Jesu Bewisen hat. Und wünsche hiemit von Harzen, dass durch Läsung dieser Heiligen Bibel, dise Einwohner Zunemmen in der Erkantnus in welcher besteht daß Ewige und Sälige Leben. Amen.Ullrich Thormann, alt Gubernator zu Aellen, Rächtsprächer in der hohen Appelation Kammer des Wältschen Lands, dißmaliger Besitzer des Einsammen Haußes Rallingen, patricius der Stadt Biro.Im Jahr alß Ich auf Bewilligung der hohen Obrigkeit zur Be-fürderung deß gemeinen Nutzens und der Commercien mitt Hilff Herrn Abraham von Graffenriedt deß grossen Rats, Haubtmann über ein Compagny außzüger die Strass über den Gasterenbärg biß an die Walliß-gräntien gegen Latschen auffgericht hab, war das Jahr nach Christi Unseres Erlösers und Säligmachers geburth Ein iavßent Sechshundert Sechs und Neuntzigste. Es soll dise Bibel allezeit Verbleiben inhanden deß Eltesten Haußvaters oder Haußmuetter derjenigen, so daß gantze Jahr auß in Gasteren Wohnen. "

Eine spätere Aufzeichnung am gleichen Ort lautet:

„ Als wir im Heumonat 1785 in das Gasternthai kamen, so zeigte man uns diese Bibel. Durch die Länge der Zeit war das Buch, Sonderheit der Band sehr übel zugerichtet. Wir machten uns nun eine große Freude daraus, dasselbe, so wirklich hundert und ein Jahr alt ist, durch einen neuen Band auf die älteste Zeit hinaus in guten Stand zu erhalten und wir haben keine Kosten sparen wollen durch einen schönen Band unsere Ehrfurcht zu bezeugen, so wir gegen dieses heilige Buch haben. Wir schenken euch nun durch den neuen Band eure Bibel zum zweiten Mal, ihr verlägnen Bewohner dieses einsamen Thaies! Empfanget diess Buch wieder zurük, das euch und euern Vätern so viel Trost gab — u. s. w.

Victor von Wattenwyl, Dragonerhauptmann Beat von Tscharner, Dragonerhauptmann Joh. Rudolf Bucher, Jägerhauptmann sammtlich des grossen Raths des Standes Bern, welche wegen einer aus Gastern vorzunehmenden Holzlieferung sammt dem Herr Oberförster Gaudard dahin gekommen sind; die beiden ersten als Assessoren in der Holzkammer und ich Joh. Rudolf Bucher als Secretarius 1785. "

Laut Verzeichnis bestand die Bevölkerung in Gastern damals aus rund fünfzig Seelen.

Uns will scheinen, diese wohllöbliche forstliche Holzkammer hätte damals ihren Besuch im Gasternthai besser unterlassen und die darauffolgende Abholzung der Wälder nicht angeordnet. Denn wir entnehmen den verschiedenen nun folgenden Aufzeichnungen, die fast von jedem Pfarrer, der jeweilen daselbst gepredigt hat, gewissenhaft in die Bibel eingetragen worden sind, daß sich das Klima zusehends verschlechtert, Verrauhung und Verwilderung der Gegend allmählich zugenommen hat und Lawinenstürze, Steinschläge, sowie Überschwemmungen immer häufiger wurden. Daß aber auch Bären im wilden Gasternthai keine Seltenheit waren, entnehmen wir einem Bericht des damaligen Forstmeisters Kasthofer, der diese Gegend im Jahre 1811 besucht und beschrieben hat. Nach seiner Erzählung soll das letzte Exemplar dieser Bestien, ein großer Bär, am Ende des vorigen Jahrhunderts von der ganzen waffenfähigen Mannschaft des Thaies gejagt und schließlich auf dem Lötschberggletscher von einem Jäger, namens Großen, durch zwei Schüsse zur Strecke gebracht worden sein. Im Triumph wurde das mächtige Tier nach der Teilenburg, dem Sitz des Landvogts in Frutigen, getragen, und die Haut im Landhaus daselbst zum Gedächtnis aufbewahrt. Das Schußgeld von zehn Dublonen, das dem glücklichen Schützen von der hohen Obrigkeit verabfolgt wurde, war der Grund zu jahrelangem Streit und Hader unter den sonst anspruchslosen Bewohnern von Gastern, da jeder, der mit zur Treibjagd ausgezogen war, auf einen Teil der Belohnung Anspruch zu haben glaubte. Daß in den unzugänglichen Schluchten und Wäldern von Gastern sich Bären so lange haben erhalten können, wundert uns nicht, wenn wir bedenken, daß auf der waldentblößten und baumlosen Grimsel der letzte Bär laut verbürgten Nachrichten im Jahr 1812 im Aareboden erlegt worden ist und noch drei Jahre später, 1815, zwei dieser Raubtiere unter den Herden der Grimselschafe beträchtlichen Schaden angerichtet haben.

Im Jahre 1812 war die Bevölkerung in Gastern schon kleiner und hatten nur noch neun oder zehn Familienväter, die mit Namen angeführt sind, eine den Winter durch bewohnbare Behausung. Infolge verheerender Überschwemmung und daheriger Zerstörung des Weges war es 1832 dem damaligen Geistlichen nicht möglich, das Gasternthal zu besuchen, und eine Aufzeichnung vom 11. August 1834 sagt uns u.a.: „ Am nämlichen Tag riß am Abend, was seit hundert oder mehr Jahren nicht geschehen ist, der Siliergletscher los, verwüstete eine große Strecke Weges und Landes, wovon noch wenige Spuren zu sehen sein werden.Eine mächtige Lawine, die später von den Felsen der Alteis herunterstürzend eine halbe Stunde einwärts, beim Gasternholz, eine Hütte mit drei Bewohnern unter einer gewaltigen Schneelast begrub, gab das Zeichen zum allgemeinen Rückzug aus diesem gefahrdrohenden Winkel.

Die gegenwärtige Verwilderung und Unwohnlichkeit in Gastern ist der treffendste Beweis, wohin ein unbedachtes und gewinnsüchtiges Schlagen der alten schutzgewährenden Waldbestände im Hochgebirge führen kann und welche Veränderungen die dadurch hervorgerufenen klimatischen und atmosphärischen Einflüsse in den Lebensbedingungen der von Alters her eingebornen Ansiedler hervorzurufen im stände sind.

Dr. A. Bähler ( Sektion Biel ).

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