Bergreisen und Bergsteigen in der Schweiz vor dem 19. Jahrhundert
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Bergreisen und Bergsteigen in der Schweiz vor dem 19. Jahrhundert

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Dr. H. Dübi ( Sektion Bern ).

Von Wir sind so sehr gewohnt, die Kenntnis der Alpen als ein Postulat der allgemeinen Bildung aufgestellt und anerkannt zu sehen, daß wir uns eine Zeit, in welcher dies nicht der Fall war, kaum vorstellen können. Und in der That zeigt eine geschichtliche Betrachtung, daß, wenn der Alpinismus in seiner heutigen Ausdehnung und Ausgestaltung ein Produkt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist, die Wurzeln, die ihn noch ernähren, schon im 16. Boden gefaßt haben. Und es ist nicht zufällig, sondern die Frucht einer langen, stillen Entwicklung, daß die Schweiz im alpinen Sportsinne der „ Spielplatz von Europa " geworden ist vor anderen Alpenländern und einen gewissen Vorrang auch heute noch behauptet, der ihr freilich immer mehr streitig gemacht wird.

Da ferner die Schweizeralpen den großen Grenzwall zwischen deutschen und italienischen Landen bilden, so ist es begreiflich, daß wir schon bei den frühesten Erwähnungen unserer Heimat von Überschreitungen der Alpen hören und daß prähistorische Funde diese litterarischen Denkmäler bestätigen. Aber diese durch Krieg, Handel und Politik veranlaßten Wanderungen über einzelne Alpenpässe ließen das Innere des Gebirges und die Gipfel völlig unberührt und unbekannt. Ebenso blieben diesen fern die vornehmen und oft gelehrten Leute, welche in früheren Jahr- Bergreisen und Bergsteigen in der Schweiz.

hunderten Schweizerreisen machten und darüber Aufzeichnungen hinterlassen haben. Ihre Besuche galten den durch ihre Macht und ihren Reichtum weltberühmten Städten, den fürstlichen Klöstern und Abteien und den als heilkräftig bekannten Bädern, welche oft, wie Baden im Aargau, zugleich Belustigungsorte waren. Es waren also historische und Kunst-interessen, die Sorge für die Gesundheit, auch wohl bloße Neugierde und Vergnügungssucht, welche die Schweizreisenden beeinflußten und ihre Schritte nach den bezeichneten, in der schweizerischen Hochebene gelegenen Punkten lenkten. Das Hochgebirge, ja selbst das Mittelgebirge kam dabei gar nicht in Betracht.

Von den hier genannten Elementen spielt bei der Entstehung des Alpinismus eigentlich nur das hygieinische eine gewisse Rolle, insofern als ein Beweggrund, der heutzutage die Gebildeten in Menge nach den Bergen eilen läßt, nämlich das Bedürfnis nach Erholung der überanstrengten Geisteskräfte, namentlich der Nerven, in der Gebirgsluft sich in Andeutungen gelegentlich schon vor unserm Jahrhundert vernehmen läßt. Neu dazu gekommen sind die Naturforschung im Gebirge und ein Element, das wir, um es von dem auch in den gewöhnlichen Schweizerreisen wirksamen, touristischen zu unterscheiden, als das sportliche bezeichnen wollen. Von welchen Motiven dieses Element geleitet wurde, als es erst schüchtern, dann immer kecker und schließlich als das dominierende in die Bewegung eingriff, werden wir später sehen. Dasjenige Motiv endlich, das heute den Alpen vielleicht die meisten Besucher zuführt und für welches die Schweiz und die Schweizer geradezu Schule gemacht haben, ist das Gefühl für das Romantische in der Hochgebirgsnatur. Über die Entwicklung dieses Gefühles müssen wir daher einige Bemerkungen machen 1 ).

Den antiken Menschen, und sogar noch heute den Südländer, solange ihm nicht etwas anderes eingeredet oder anerzogen worden ist, unterscheidet von dem modernen und dem Mittel- und Nordeuropäer unter anderm ein absoluter Mangel an Verständnis für die Schönheit des Hochgebirges. Obschon gebildete Römer die Alpen zu durchreisen oft Gelegenheit hatten, treffen wir auf keinen einzigen Ausdruck in der antiken Litteratur, der uns zeigte, daß sie die schimmernden Höhen anders als mit Abneigung und Furcht angesehen hätten, und von all den Gipfeln der Alpen, welche die Poebene umkränzen, wird nur der Mons Vesulus = Monte Viso mit Namen genannt, weil der Po an seinem Fuße entspringt; und auch in seiner Beschreibung spielen die damals noch bewaldeten Abhänge eine größere Rolle als der Gipfel. Der antike Tourist, dem das ganze römische Weltreich offen stand, besuchte alles, um seinem \ Wissensdrang zu genügen, nur die Berge nicht, und die nicht um des Naturgenusses willen gemachten und ganz vereinzelten Besteigungen des Olympus, des Argseus in Kappadokien, des Hämus, des Casius in Syrien, des Ida, des Ätna bestätigen als Ausnahmen nur die Regel. Auch das Mittelalter steht den Alpen und ähnlichen Gebirgen fremd und unfreundlich gegenüber, obschon die Bereisung derselben zunimmt und die Besteigungen von Gipfeln sich mehren. So wurde der Pic Canigou durch König Peter III. von Arragonien vor 1285, die Rochemelon bei Susa durch Bonifacius Rotarius von Asti um 1388, der Mont Aiguille im Dauphiné durch Dompjulian de Beaupré 1492 erstiegen. Diese Besteigungen haben einen ganz modernen sportlichen Charakter, da sie provoziert wurden durch die legendäre Unbesieglichkeit der betreffenden Gipfel. Die interessanteste That vom kulturgeschichtlichen und litterarischen Standpunkte aus ist die Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca im Jahr 1336, weil sie hervorgerufen worden ist durch den Enthusiasmus für die schöne Aussicht, welche auf einem so frei stehenden Berge zu erwarten war1 ). Aber wie jämmerlich bricht diese Flamme zusammen vor den kalten Worten des heiligen Augustin, die Petrarca auf dem Gipfel liest, als ein Orakel, wie er es gewohnt ist und die ihn nun aus allen Himmeln stürzen: „ Da gehen die Menschen hin und bewundern die Bergeshöhen und die Ungeheuern Fluten des Meeres und die breiten Strömungen der Flüsse und den Umkreis des Oceans und die Bahnen der Gestirne und vernachlässigen sich selber ( d.h. ihre unsterbliche Seele ). " Bei Dante finden sich Spuren, daß ihm die Gebirgswelt und ihre Schönheit nicht fremd war, und D. W. Freshfield hat den Klettereien, die der Dichter unter Führung Virgils im Inferno und Purgatorio ausführt, das Zeugnis gegeben, daß sie kunstgerecht gemacht und klassisch beschrieben seien 2 ). Dennoch wird niemand denken, daß die Divina Commedia auf die Entwicklung des Naturgefühls und des Bergsteigens irgend einen Einfluß gehabt habe.

Auch die Renaissance hat, obschon sie sonst die Lust am Schönen in Kunst, Natur und Menschenleben neu erweckte, an der dem Hochgebirg abgewendeten Geschmacksrichtung nichts geändert, denn ihr Naturgefühl war wesentlich das antike. Freilich hat Leonardo da Vinci, „ der Bergreisen und Bergsteigen in der Schweiz.

erste Mensch vielleicht, seit die Welt steht, welcher der wilden Majestät des Hochgebirges ein durchaus sympathisches Gefühl entgegengebracht hat ", den Monboso, den man neuerdings in der Gegend des Col d' Ollen sucht, erstiegen, um Naturbeobachtungen zu machen, und Tizian die Berge seiner Heimat, bei Cadore, mit feinem Verständnis für ihre Form behandelt, aber nur als Hintergrund von Figurengemälden, nicht als besondere Landschaften. Dagegen weiß Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., vom Gotthard, den er mehrmals überschritt, nichts zu sagen als Bemerkungen über den schlechten Weg, während die italienische Hügellandschaft in ihm einen feinsinnigen und verständnisvollen Beschreiber gefunden hat1 ). Erst die Reformation hat auch hier das erlösende Wort gesprochen. Reformierte Schweizer haben hauptsächlich den Bann gebrochen, der den Pilatus und seinen See umgab, und der Zürcher Naturforscher Conrad Gesner hat, freilich vorerst noch in ungelenkem Latein, den hohen Hymnus auf die Schönheit der Berge angestimmt, der seitdem von Unzähligen und oft in schönern Worten, aber niemals aufrichtiger und herzlicher ausgesprochen worden ist. In der Dedikationsepistel „ de admiratione montium ", welche seinem 1541 gedruckten „ Libellus de lacte et operibus lactariis " vorangeschickt ist, an Conrad Avienus ( Vogel ) von Glarus schreibt er 2 ): „ Ich bin entschlossen, solange mir Gott das Leben erhält, jährlich einige oder doch wenigstens einen Berg zu besteigen, und zwar in der Jahreszeit, da die Pflanzenwelt in ihrer vollen Kraft ist, teils um meine Kenntnisse derselben zu erweitern, teils um meinen Körper zu stärken und meinem Geist die edelste Erholung zu gestatten. Welches Vergnügen, welche Wonne gewährt es doch dem Geiste, der Berge Riesenmassen bewundernd zu betrachten und das Haupt gleichsam zu den Wolken zu erheben. Ich weiß nicht, auf welche Weise der Geist von der erstaunlichen Höhe durchdrungen und zur Bewunderung seines höchsten Baumeisters hingerissen wird. " Und nachdem er in kräftigen Worten seine Verachtung derjenigen ausgedrückt hat, welche aus Faulheit sich solche Genüsse versagen, fährt er fort: „ Die Jünger der Weisheit aber mögen fortfahren, die Schauspiele dieses irdischen Paradieses mit den Augen des Leibes und des Geistes zu bewundern, und nicht zuletzt kommen in dieser Beziehung die hohen schroffen Berggipfel, die unzugänglichen Abstürze, die himmelanstrebenden Ungeheuern Flanken, die steilen Felsen, die schattigen Wälder. " Auch in einer spätem Schrift: „ Descriptio Montis Fracti, sive Montis Pilati, iuxta Lucernam in Helvetia ", welche der 1555 in Zürich bei Gesner herausgekommenen Abhandlung: „ De raris et admi- 1randis herbis " beigegeben ist, kommt Gesner in gleicher Weise auf dieses Thema zu sprechen und macht außerdem sehr verständige Bemerkungen über Alpenlnft, Milchkost, Trinken von kaltem Wasser, Wirkung körperlicher Bewegung in den Bergen auf den Organismus, Stärkung der Sinne durch Bergsteigen, geringe Gefahr von Erkältungen und Ähnliches. Seine Regeln für Bergsteiger sind die gleichen, die heute noch gelten. Ich mu& es mir versagen, den ganzen Abschnitt hier zu reproduzieren, und beschränke mich auf die Übersetzungfolgender klassischer Stelle, die den Alpinismus des XVI. Jahrhunderts spiegelt: „ Wir sagen also zum Schluß, daß aus Bergwanderungen, welche mit guten Freunden unternommen werden, überhaupt die größten Genüsse des Geistes und die angenehmsten Ergötzungen aller Sinne gewonnen werden, wenn kein Hindernis in der Beschaifenheit des Wetters, keines in Geist oder Körper vorhanden ist. Denn einem kranken oder körperlich schwachen Menschen kann nichts dergleichen angenehm sein. So auch, wenn der Geist krank ist, wenn er Sorgen und Leidenschaften nicht abgelegt hat, wird man körperliches und sinnliches Vergnügen vergebens suchen. Aber man gebe mir einen Menschen, der an Leib und Seele auch nur halbwegs normal beschaffen, anständig erzogen und nicht allzusehr dem Müßiggang, dem Luxus oder der Lust ergeben, womöglich auch ein Liebhaber und Bewunderer der Naturkunde ist, so daß auch aus der Betrachtung und Bewunderung der erhabenen Werke des Schöpfers und der so großen Mannigfaltigkeit der Natur, die in den Bergen wie auf einen Haufen gesammelt sich darstellt, das Vergnügen des Geistes zu dem übereinstimmenden Genuß aller Sinne sich gesellt; was, frage ich, kann es innerhalb der Schranken der Natur für eine anständigere, größere und in jeder Beziehung vollkommenere Ergötzlichkeit geben ?"

Wir haben uns bei Gesner länger aufgehalten, weil seine Bedeutung uns eine außerordentliche scheint, kürzer können wir uns bei seinen Zeitgenossen fassen, die, zum großen Teil von ihm angeregt, die gleichen Ziele verfolgten.

Wohin die von Gesner mehrfach erwähnten Bergreisen gingen, wissen wir nicht, jedenfalls nicht ins Hochgebirge. Bericht haben wir nur über seine Besteigung des Pilatus. Der Hauptzweck war, botanische Ausbeute zu machen. Das nämliche ist der Fall bei der Besteigung des Calanda im Juni 1559 durch Joh. Fabricius Montanus, Pfarrer zu St. Martin in Chur, Joh. Poniisella,Moâersitor an der Nicolaischule, und den Arzt Zach. Beeli, ebenfalls in Chur. Pflanzen wurden gesammelt und an Gesner Ubersandt, welcher den Reisebericht im Anhang zur Historia de plantis Bergreisen und Bergsteigen in der Schweiz.

des Valerius Cordus abdruckte. Botanische Zwecke verfolgten auch die Reisen von Johannes Müller /Rhellicanus ) auf das Stockhorn ( bei Thun ) im Jahre 1536, und von Benedict Marti ( Aretius] auf Stockhorn und Niesen 1560. Beide haben ihre Eindrücke in lateinischen Versen niedergelegt. Auf die Zeitgenossen scheinen sie geringen Eindruck gemacht zu haben: immerhin müssen wir anerkennen, daß Aretius sein Naturgefühl und seine Bewunderung der Berge lebhaft und nicht ungeschickt äußert. Auch dem sonderbaren Gedicht von Hans Rudolf Räbmann ( Ampelander ) x ): „ Ein neuw, lustig, Ernsthafft, Poetisch Gastmahl und Gespräch zweyer Bergen in der löblichen Eydgnosschaft und im Bernergebiet gelegen, nemlich des Niesens und Stockhorns u. s. w. ", Bern 1606, das „ in ungeschlacht gereimter Prosa neben religiösen Betrachtungen und historischen Exkursen eine sehr wertvolle Oro- und Topographie der Schweiz, insbesondere des Kantons Bern enthält ", wird eine Besteigung dieser Gipfel durch den gelehrten Pfarrherrn zu Grunde liegen. Aber auch sonst haben sich die Theologen dieser Zeit um die Berge bekümmert. Sebastian Münster, Professor in Basel, hat nicht ohne Zittern und Klagen ( er leitet den Namen der Gemmi von gemitus ab ) die Gemmi, die Furka, den Gotthard überschritten, das Wallis und Graubünden bereist, um für seine Kosmographie Material zu sammeln. Johannes Stumpf hat als Vorbereitung für seine Chronik 1544 eine Reise über den Jochpaß, die Grimsel und das Rhonethal hinunter gemacht und bringt in Buch IV—XIII seines 1548 publizierten Werkes: „ Gemeiner löblicher Eydgnosschaft Stetten Landen und Volkeren chronikwürdiger Thatenbeschreibung ", wertvolle Angaben über die Topographie der damaligen Schweiz mit Einschluß von Wallis und Graubünden 2 ). Ein hervorragender Kenner des Gebirges war offenbar Aegidius Tschudi, dessen Verdienste um die schweizerische Topographie noch nicht genügend gewürdigt sind. Er hat das Matterjoch, die Furka, den Gotthard, Septimer und Lukmanier aus eigener Bereisung gekannt. Über den „ großen Glatscher ", welcher den Hintergrund des Saaser-, Nicolai- und Eringerthals ( das Eifischthal scheint man nicht gekannt zu haben ) ausfüllen sollte, und über welchen ( auch Augsthalberg oder Mons Silvius oder Rosa genannt ) man sowohl nach Aosta, als ins Sesiathal, nach Varallo oder ins Krämerthal ( Gressoney ) und ins Mailändische gelangen könne, hat, nach unserer Überzeugung, Tschudi zuerst Licht verbreitet, und was wir davon bei Münster, Stumpf und Simler lesen, geht auf mündliche oder briefliche Mitteilungen Tschudis zurück, die wohl nicht fl* r. H. Dübi.

immer von seinen Korrespondenten, die zum Teil Stubengelehrte waren, richtig verstanden worden sind. Tschudi selber hat lateinisch und deutsch schon 1538 seine: „ Uralt warhafftig Alpisch Rhaetia sampt dem Tract der andern Alpgebirgen " publiziert, die sich aber mehr mit Untersuchung über die Herkunft der Bewohner des schweizerischen Gebirges als mit der Topographie desselben abgiebt. Seine große topographisch-historische Stoffsammlung, gewöhnlich abgekürzt „ Gallia Cornata " genannt, schickte er den 26. Februar 1572 an Josias Simler zur Übersetzung ins Lateinische. Sie ist aber erst 1758 im deutschen Original gedruckt worden.

Ähnlich erging es dem von Simler angeregten und ihm im Manuskript zur Prüfung mitgeteilten Werke des Ünterengadiners Ulrich Campell: „ Rhsetise Alpestris Topographica Descriptio ". Es ist geschrieben in den Jahren 1571 und 1572 und enthält für unser Thema eine ganze Reihe wertvoller Mitteilungen, von denen wir einige unten wiedergeben werden. Simler ist durch diese Schrift, deren Behandlungsweise ihm nicht zusagte, veranlaßt worden, mit seiner eigenen Monographie, von der gleich die Rede sein wird, ans Licht zu treten. Spätere rätische Chronisten, wie Guler und Sprecher, haben reichlich aus Campells Manuskript geschöpft, aber mehr für das Historische als für das Topographische, und gedruckt wurde das ganze Buch erst 1884 in den Quellen zur Schweizergeschichte, Band VII; zwei Nachträge Campells zu seinem ursprünglichen Manuskript, von denen uns besonders die Kapitel 10-19 wegen ihrer unverkennbaren Einwirkung auf Simlers „ Commentarius de Alpibus " interessieren, gar erst 1900 als Beilage zum Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens.

Josias Simler, von dem wir nun noch sprechen müssen, hat mit diesem Material und nach andern Quellen, die uns zum Teil unbekannt sind, eine Schrift bearbeitet und herausgegeben, die gerechtes Erstaunen, ja Bewunderung erregen müßte wegen ihrer Sachkenntnis und Genauigkeit, auch wenn sie nicht die Jahrzahl 1574 trüge. Der Titel ist „ Vallesise descriptio libri duo. De Alpibus Commentarius " x ).

Das Werklein Simlers enthält thatsächlich, auf ein einzelnes, aber gerade das interessanteste Gebiet eingeschränkt, alles, was das ausgehende XVI. Jahrhundert von den Geheimnissen der Alpenwelt wußte und dachte. Wir finden, allerdings zum Teil aus diesem abgeschrieben, die gleiche Naturbegeisterung wie bei Gesner, aber die topographische Kenntnis ist ausgedehnter und geht in größere Höhen hinauf. Außer einigen Hauptpunkten in Graubünden vom Crispait bis zum Wormserjoch, deren Kenntnis Bergreisen und Bergsteigen in der Schweiz.

er Tschudi verdankt, nennt Simler sämtliche gangbare Pässe, die von Bern und Uri nach dem Wallis und von diesem nach Italien führen, besonders auch, wie oben bemerkt worden ist, den „ großen Gletscher ". Noch auffälliger aber für einen Mann, der nie im Hochgebirg gewesen ist, sind seine genauen Nachrichten in dem Kapitel: Von den Schwierigkeiten der Alpenreisen und wie dieselben zu überwinden sind. Wir lesen hier von schmalen Wegen an Abgründen, die Schwindel erregen, von Führern, von Ausrüstung mit Seil, Steigeisen, Bergstöcken und Schneereifen, vom Sondieren verdeckter und Überspringen offener Schrunde, von Schutzmitteln gegen Kälte, Schneeblindheit, von Lawinengefahr, Nebel und Stürmen im Hochgebirg. Simler kennt den Unterschied zwischen Firn und Gletscher, er weiß, daß die genannten Pässe nicht die höchsten Erhebungen der Erde sind, sondern daß über denselben erst die Region des ewigen Schnees beginnt, die aber nicht etwa als unzugänglich erklärt wird. Diesen verbesserten Kenntnissen entsprechen auch die damals entstandenen Karten. Auf die noch ziemlich rohe Gebirgszeichnung in Dr. Conrad Türsts Karte der Eidgenossenschaft, Beigabe zu seiner Schrift: „ De situ confœderatorum descriptio ", 1495197 verfaßt, in welcher die Penninischen und der südliche Teil der Lepontischen Alpen fehlen ( nur der St. Bernhard, der Simplon und der Gotthard sind angedeutet)J ), folgt die schon viel ausführlichere und genauere von Aegidius Tschudi: „ Nova Rhsetise atque totius Helvetise delineatio " ( Basel 1538 resp. 1560 ) und die von ihr beeinflußten Karten, welche Münsters Kosmographie, Buch III, und Stumpfs Chronik beigegeben sind. Eine „ für die mangelhaften Hülfsmittel der Zeit, trotz mancher Fehler, überraschend genaue Karte, in welcher die schematische Bergzeichnung Tschudis mehrere Verbesserungen erfahren hat ", schuf der gelehrte Berner Stadtarzt Thomas Schöpf mit seiner: „ Incluse Bernatum urbis cum omni ditionis sum agro et provinciis delineatio chorographica ", 1578 ( neun Kupferstichblätter ). Der dazu gehörende Kommentar, „ Chorographia ditionis Bernensis ", „ ein großangelegtes, für die damalige Zeit ausgezeichnetes Werk ", in zwei Bänden ist Manuskript geblieben 2 ). [Ebenso blieben, um dies gleich hier auszuführen, die Arbeiten des bernischen Stucklieutenant und Geometra Samuel Bodmer, seine Vermessung der Grenzen des Standes Bern 1701-1710, 3 Bände mit 571 Kartenzeichnungen, und sein Marchbuch 1717, „ darinnen be schrieben und verzeichnet stehet die hohen Landesmarchen der groß-mächtigen Stadt Bern ", in den Gewölben der bernischen Kanzlei vergraben und wurden von den Topographen und Kartographen nicht benutzt. Es ist dies zu bedauern, da Bodmer unstreitig an mehreren Orten, z.B. auf der Grimsel und auf der Gemmi, bei seinen Aufnahmen Gletschergebiet betreten hat. Seine „ geometrische Zeichnung des gähen, künstlichen, meistens in Felsen gehauenen Wägs über die Gemmi " ist von J. M. Ftißli 1707 gestochen und dem Band III von Scheuchzers Naturgeschichte des Schweizerlandes beigegeben worden.] Man sieht also, daß schon im 16. Jahrhundert die Elemente vorhanden waren, durch deren Zusammenwachsen der Alpinismus hätte entstehen können, Empfindung für die Schönheit des Gebirges, Verständnis von dessen Wert für Leib und Seele, Sehnsucht nach weiterer und höherer Erkenntnis, technische Vorbildung für die Besiegung der in der Natur liegenden Hindernisse und Gefahren und ein gewisser Vorrat topographischer und hygieinischer Kenntnisse. Daneben starkes Aufleben der Naturwissenschaft, die schon die gröbsten Vorurteile gegen das Bergsteigen beseitigt hatte. Kurz, wenn die Gunst der Zeiten dazu gekommen wäre, so hätte der Sturmlauf auf die höchsten Gipfel der Schweiz schon damals beginnen können, und wir würden als Geburtsjahr des Alpinismus nicht 1741, sondern vielleicht 1518 oder wenigstens 1555 zählen. Aber es sollte anders kommen und die Sehnsucht der besten Geister lange ungestillt bleiben.

Die Religions- und Bürgerkriege in der Schweiz und der dreißigjährige Krieg in Deutschland und Graubünden wirkten so störend auf die Entwicklung des Bergreisens in der Schweiz ein, daß diese, bis auf J. J. Scheuchzer, dessen größere Thätigkeit dem folgenden Jahrhundert angehört, während des ganzen XVII. Jahrhunderts keinen Namen zu nennen hat, der, in Bezug auf Landeskenntnis und Naturgeschichte, neben Tschudi und C. Gesner gesetzt werden könnte ' ). Und dieses Urteil wird dadurch nicht umgestoßen, daß Math. Merlan in seiner „ Topographia Helvetiae, Rhsetise et Valesise " 1642 ff. ( Text von Martin Zeiller ) den Ruhm hat, „ die Augen Europas zum erstenmal auf gewisse pittoreske Landschafts-scenerien gelenkt zu haben, die auch heute noch Wallfahrtsziele de& Touristenstroms bilden, wie z.B. den Rheinfall, den Grindelwaldgletscherr das Bad Pfäfers, die Pierre Pertuis im Berner Jura und den Vierwald-stättersee"2 ). Denn die Abbildungen von Wasserfällen, Gletschern und andern Naturobjekten scheinen nach flüchtiger Ansicht im Zimmer gezeichnet zu sein und haben oft nur eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Gegenstande 3 ).

Bergreisen und Bergsteigen in der Schweiz.

219'Und während die Schweizerreisen nicht an Zahl abnehmen und besonders das Badeleben in Leuk, Baden, Pfäfers u.a. sich immer mehr entwickelt, während über die Schweizer Seen eine Reihe tüchtiger Monographien geschrieben werden und das Kartenwesen einige Fortschritte aufzuweisen hat, nimmt das Interesse und Verständnis der Gebildeten für das Gebirge ab. Jetzt kam in Kunst und Litteratur die bis tief ins XVIII. Jahrhundert hinein herrschende Geschmacksrichtung auf, welche das Gebirge „ scheußlich ", die Hügellandschaft „ betrübt, öde und einförmig " oder mindestens „ nicht sonderlich angenehm " fand, dagegen Ebenen, wie die um Mannheim, Leipzig oder Berlin, als „ eine feine und lustige Gegend " schilderte und von der Aussicht auf ein Gerstenfeld mit Entzücken sprach. Und so konnte David l' Hermite in seiner „ Epistola de Helvetiorum, Rhse-torum, Sedunensium situ, Republica, moribus " ( Leyden 1627 ) behaupten, „ daß die Bewohner der Alpen aus Mangel an erdigem Boden ihre Toten im Eis begraben, was auf dem Großen St. Bernhard und anderwärts vorkomme, und, vom Geiz getrieben, auf den höchsten Gebirgen Viehherden weiden und in gänzlicher Abgeschiedenheit unglücklich, wie ihre Tiere, die Sprache verlernen ", und der Professor Georg Detharding in einer Dissertation „ De aëreRostochiensi " 1705 den Beweis antreten, „ daß die Schweizerluft wie diejenige in den Tiroler- und Kärntnergebirgen wegen ihrer Ungesund- und Grobheit die Gemüter der Bewohner ganz dumm mache und daß das Heimweh der Schweizer nur davon komme, daß sie die reinere und bessere Luft in der Fremde nicht vertragen könnten ".

Natürlich hat es auch nicht an Vertretern einer andern Ansicht gefehlt. Gegen den obgenannten Rostocker trat J. J. Scheuchzer in die Schranken und wies das Falsche dieser Behauptungen mit Überzeugung und Schärfe nach. Überhaupt hat dieser Zürcher Gelehrte die Traditionen C. Gesners wieder aufgenommen und durch sein Ansehen, wie durch seine Gebirgsreisen in der Urschweiz, im Berner Oberland und in Graubünden, die er in deutschen und lateinischen Schriften beschrieb, und durch seine wissenschaftliche Thätigkeit für den Alpinismus das verlorne Terrain wieder zurück erobert 1 ). Er hat auch durch barometrische Höhenmessungen, meteorologische und physikalische Untersuchungen von Flora und Fauna die Naturforschung im Gebirge mächtig gefördert und so den Boden für die Forschungen unseres Jahrhunderts vorbereitet. Die „ Itinera alpina ", die er mit seinen Schülern und Freunden machte, betrafen: die Urschweiz ( Hacken, Surenen, Jochpaß, Pilatus ) 1702, Ragaz und Pfäfers, Graubünden und Glarus ( Kunkelspaß, Heinzenberg, Via mala, Splügen, Maloja mit Abstecher auf den Septimer, Julier, Schyn, Segnes ) 1703, Glarus, Uri, Graubünden, Wallis und Bern ( Guppenalp, Altenoren, Gemsfayren, Klausenpaß, Gott- hard, Val Piora, Lukmanier, Oberalp, Furka, Gemmi ) 1705, Zug, Luzern, Unterwaiden, Bern ( Pilatus, Jochpaß ) 1706, Pfäfers, Graubünden ( Bernhardin, Forcola, Maloja, Albula ) 1707, Zug, Luzern, Unterwaiden, Bern, Wallis ( Brünig, Gemmi ) 1708, St. Gallen, Appenzell, Glarus ( Freiberg ) 1709. Auch die seine Reisen illustrierende Karte: „ Nova Helvetia?, Rhaìtise et Vallesise tabula geographica ", Zürich 1712, und die zahlreichen Kupferstiche, deren Kosten zum Teil von Gelehrten, wie Newton, Sloane und Halley, durch Subskription getragen wurden, waren geeignet, Interesse zu erwecken. Aber es ist doch die Frage, ob diese Thätigkeit genügt hätte, um die Stumpfheit der Zeitgenossen gegen die Reize des Hochgebirges au überwinden. In den Schriften englischer Reisender z.B. halten sich die Äußerungen der Bewunderung für und der Abneigung gegen romantische Landschaften im Laufe des XVIII. Jahrhunderts so ziemlich die Wage, bis durch den Einfluß von Haller und Rousseau der Sieg endgültig für die Alpen entschieden wird.

Mit diesen zwei hervorragenden Geistern traten in der Betrachtung und Darstellung der Gebirgswelt zwei neue Gesichtspunkte hervor, welche sich für den Alpinismus als ungemein fruchtbar erwiesen haben, der litterarisch-ästhetische und der philosophisch-moralische, und zwar erscheinen diese neuen Elemente bei beiden in sentimentaler Färbung. Da diese nun dem Geschmacke der Zeitgenossen entgegen kam, so vollzog sich in überraschend kurzer Zeit ein vollständiger Umschwung in der Wertung der Hochgebirgsnatur und eine Rückkehr zu den Grundsätzen, die C. Gesner aufgestellt hatte, mit dem wesentlichen Unterschied, daß diese Lehren nun nicht als lateinische Abhandlungen in ungelesenen Folianten verstaubten, sondern als Lieblingslektüre aller Gebildeten durch ganz Europa flogen ' ). Beide Schriftsteller besitzen eine große Darstellungskunst, welche auch heute noch den Leser ergreift, wo uns die Gedanken ganz alltäglich geworden sind, welche damals dem Publikum völlig neu entgegentraten. Beiden gemeinsam ist die Abwendung von der Überkultur des Flachlandes und der Städter, welcher das reinere Glück des einfachen Hirten und Älplers schroff entgegengesetzt wird als das ungleich Wünschenswertere, als das Ideal der Menschheit oder wenigstens als notwendiges Gegengewicht gegen die Laster und Gefahren des Kulturlebens. Wir haben hier nicht zu untersuchen, was an diesen Schilderungen wahr, was schief oder übertrieben ist; sicher ist, daß sie den Strom der Reisenden von den Ebenen und Seen der Schweiz in die Thäler und auf die Berge gelenkt haben, wo man die so verlockend geschilderten Idylle und die so malerisch beschriebenen Scenerien und Aussichten zu finden hoffte. Mehr als Haller, der als Naturforscher die Dinge ansah, wie sie waren, hat Rousseau die Alpennatur durch die romantische Brille ansehen gelehrt, welche das, was früher abschreckend war, nun anziehend machte, weil es eben ungewöhnlich, natürlich und unkultiviert war. Schon Addison fand auf seiner 1701-1703 durch die Schweiz und Italien gemachten Reise gelegentlich, daß „ der Anblick der in viele steile Abhänge zerrissenen Alpen die Seele mit einer angenehmen Art von Schauder erfülle ", aber Rousseau hat diese Note vertieft, wenn er sagt ( „ Confessions ", Partie Ir% Lre IVme ): „ Man weiß schon, was ich unter einer schönen Gegend verstehe. Ich verlange Gießbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge, rauhe auf- und abführende Pfade und recht fürchterliche Abgründe neben mir ", und wie eine Prophezeiung klingt vollends folgende Stelle: „ In der That empfinden alle Menschen, obschon sie es nicht alle beobachten, auf den hohen Bergen, wo die Luft dünn und rein ist, eine größere Freiheit des Atmens, eine größere Leichtigkeit des Körpers, eine größere Heiterkeit des Geistes... Ich bezweifle, daß irgend eine lebhafte Erschütterung, irgend eine Nervenkrankheit gegen einen verlängerten Aufenthalt in solcher Höhe standhalten könnte, und ich wundere mich, daß Bäder in der gesunden und wohlthuenden Luft der Berge nicht eines der großen Heilmittel der Medizin und der Moral sind.Nouvelle Héloïse”, Ire partie, lettre XXIII. ) Wenn wir noch hervorheben, daß in dem Gedichte Hallers der patriotische Ton vernehmbar ist, während in Rousseaus Roman der weltbürgerliche Geist sich meldet, die beide dem Alpinismus nicht fremd sind, so haben wir wohl die Faktoren beisammen, die durch Haller und Rousseau zur Wirkung gelangten. Diese war ungeheuer, aber sie wäre doch der Schneeregion nicht zu gute gekommen, wenn nicht gleichzeitig ein Element hinzugetreten wäre, das neue Kräfte in einer höhern Richtung auslöste. Wir meinen die Lust an Abenteuern, oder, wenn man das Wort recht verstehen will, den Sportgeist im Dienste der Hochgebirgserforschung. In der That beschränkten sich die „ Alpenreisen " Hallers auf Höhen wie Gemmi, Jochpaß, Stockhorn, Niesen, Scheidegg, Rothenhornin Grindelwald und Steinengletscherin Lauterbrunnen. Von Rousseau vollends fürchte ich, trotz aller Redensarten Saint-Preux ', daß er im Wallis nicht weit über die Thalsohle hinaufgekommen sei. Auch die von Haller und Rousseau angeregten Reisenden waren zunächst keine Gipfelstürmer. Als Beispiel mag uns Goethe dienen, dessen Bedeutung für den Alpinismus oft überschätzt wird. Goethe hat drei Schweizerreisen gemacht: 1775, 1779 und 1797. Die erste brachte ihn auf den Rigi und den Gotthard und führte ihn über die Schindellegi, den Hacken und den Albis. Die zweite auf die Dôle, den Obersteinberg im Lauterbrunnenthal, den Untern Grindelwaldgletscher, über die Große Scheidegg, auf den Montanvert, die Mer de Glace, über den Col de Balme und die Forclaz, die Furka und auf den Gotthard. Die dritte ging wieder in die Urschweiz.

Nicht viel mehr als die fremden Reisenden haben für die Erschließung des Hochgebirges die einheimischen, speciell bernischen Gelehrten gethan, welche in diesen Jahren anfingen, über dasselbe zu schreiben, und welche wenigstens das Verdienst haben, den Begriff und Namen der Eisgebirge in die Litteratur gebracht zu haben. Es sind in chronologischer Reihe 1 ) der Berner Stadtarzt Dr. Wolfgang Christen mit seiner: „ Description des Glaciers ( Gletscher ) ou pour mieux dire de la mer glaciale qui se trouve dans les Alpes de la Suisse " ( Manuskript von cirka 1740 ); 2 ) der Professor an der oberen Schule in Bern Joh. Georg Altmann mit seinem: „ Versuch einer historischen und physischen Beschreibung der helvetischen Eisbergen " ( Zürich 1751 ); 3 ) der Berner „ Fürsprech vor den Zweyhunderten " Gottlieb Sigmund Grüner mit seinen: „ Eisgebirgen des Schweizerlandes " ( 3 Teile, Bern 1760 ). Das Gemeinsame in ihrem Auftreten ist, daß sie die Gletscherreviere, welche sie ausführlich zu schildern unternehmen, thatsächlich nicht oder nur von weitem und von unten gesehen haben und nur nach Hörensagen beurteilen. Prof. Graf meint freilich* ), Christen sei auf dem Petersgrat gestanden und habe dort beobachtet, daß das Atmen schwieriger werde und der Appetit in der Höhe abnehme, daß aber die Stelle einen ebenso schönen Überblick über das Eismeer gewähre als die Grimsel. Der Text bei Christen spricht gegen diese Annahme, und nach demselben bezweifle ich, daß dieser phantastische Beobachter irgendwo über den Rand eines Gletschers hinaufgekommen sei. Altmann und Grüner haben seiner Mär von einem zusammenhängenden „ Eismeer ", das, 1500 toisen tief und 500 Stunden im Umfang, vom Vogelsberg bis zum Sanetsch reichen und an der Grimsel sich in zwei Arme spalten sollte, zu einer unverdienten Verbreitung verholfen, immerhin hat namentlich der letztere durch seine Korrespondenten richtige Nachrichten über das außerhalb der Gletscher liegende Gebiet « ingezogen und publiziert. Aber die Kenntnis des Hochgebirges wurde durch ihre Forschung nicht gefördert.

Die Ergänzung in dieser Richtung kam von einigen Genfern und von in Genf sich aufhaltenden Fremden. Als epochemachend gilt die Expedition von Windham und Pococke nach Chamonix, dem Montanvert. und der Mer de glace im Jahr 1741. Sie ist es in dem Sinne, daß sie eine falsche Legende zerstörte, ein neues Feld der Thätigkeit für unternehmende Männer eröffnete und eine neue Gebirgsgegend, wenn nicht entdeckte, so doch erschloß, die den Schweizerreisen erst eine starke Konkurrenz machen, dann sie neu beleben sollte. Charakteristisch ist, daß die wissenschaftlichen Forschungen und Ergebnisse der Reise fast null, die touristische Leitung und Durchführung der Expedition dagegen durchaus tüchtig waren. Es ist die erste alpinistische Unternehmung gegen das Hochgebirg, die, rasch bekannt geworden, schon im darauffolgenden Jahre wiederholt und damit der Ausgangspunkt des Bergsteigens im Hochgebirge wurde. Während der Strom der Touristen fortfuhr, vorzugsweise in den alten Betten sich zu bewegen, wandten sich einzelne davon nicht befriedigte Männer den bis dahin noch als gefährlich gemiedenen Gipfeln der Alpen zu, und der von den Banden des Vorurteils gelöste, nach reineren Genüssen dürstende und vor Abenteuern nicht zurückschreckende, technisch und wissenschaftlich gebildete Individualismus ging kühn daran, der Hochgebirgsnatur ihre letzten Geheimnisse zu entreißen. Wiederum, wie im Zeitalter der Reformation, waren es Geistliche und Naturforscher, oft Männer, die beide Berufe vereinigten, welche die bedeutendsten Fahrten unternahmen und die besten Schriften darüber veröffentlichten. 1739 nach den einen, 1744 nach den andern Angaben wurde der Titlis durch Ignaz Hess, Joseph Eugen Waser und zwei andere Klosterleute von Engelberg erstiegen und die Besteigung 1785 von Dr. Feierabend wiederholt. Im Jahr 1770 erreichten die Genfer Gelehrten Jean André und Guillaume Antoine de Luc nach drei vergeblichen Versuchen den Gipfel des Buet, 1779 Murith, Prior des Hospizes auf dem Großen St. Bernhard, den Mont Vélan, 1784 Abbé Clément, Pfarrer von Val d' Illiez, die Haute Cime der Dent du Midi. Ins Jahr 1786 fällt die erste Besteigung des Mont Blanc durch Dr. Paccard und Jaques Balmat. 1787 wurde diese Besteigung durch II. B. de Saussure, den großen Genfer Naturforscher, wiederholt. Saussure, der schon 1785 mit Bourrit einen vergeblichen Versuch über die Aiguille du Goûter, 1778 mit Trembley und Pictet den Tour du Mont Blanc über den Col du Bonhomme und de la Seigne und die Allée Blanche gemacht, auch den Brevent, Crammont und Buet erstiegen hatte, machte auf dem Gipfel wissenschaftliche Beobachtungen, die er 1788 während eines achtzehntägigen Aufenthaltes auf dem Col du Géant vervollständigte. Der nämliche besuchte und umreiste auch das Monte Rosa-Massiv, überschritt den Col des Cimes Blanches und de Théodul, erstieg den Pizzo Bianco, das Rothorn ( bei der Bettaforca ) und das Kleine Matterhorn, besuchte Simplon und St. Gotthard, wo er den Pizzo di Valletta erstieg, und hat überhaupt „ den mächtigsten Impuls zur Erforschung der Hochalpen gegeben ". In gleichem Sinne, wenn auch mit viel bescheidenerem Talente, arbeitete Marc Theodor Bourrit, der wie Saussure durch seine Schriften J ) und durch seine „ Illustrations pittoresques " die Hochgebirgs- .'weit populär machte und sich den Titel eines „ Historien des Alpes "'erwarb. Als Bergsteiger war er von merkwürdigem Mißgeschick verfolgt. Fünf verschiedene Anläufe, die für andere lehrreich geworden sind, brachten ihn nicht auf den ersehnten Mont Blanc. Die Besteigung des Buet auf neuem Wege von Valorcine aus und ein Übergang über den Col du Géant sind seine höchsten Leistungen. Schon vor Saussures Ankunft hatten sieben junge Leute von Gressoney, Valentin und Joseph Beck, Sebastian Linthy, Stephan Lisge, Joseph Zumstein, Nicolaus Vincent und Franz Castel, 1778 den „ Entdeckungsfelsen " ( 4366 m ), westlich vom Lysjoch, erreicht und von da einen Blick in das sagenhafte „ Verlorene Thal " geworfen, wo die Gemsen auch im Winter grünes Futter finden sollten. Die Expedition wurde 1789 und 1790 wiederholt und bei der letzten Gelegenheit kam man zum Schluß, daß dieses neue Paradies nichts anderes als das wohlbekannte Thal von Zermatt sei. Vor 1787 machte der Graf Morozzo aus Turin den Versuch, von Macugnaga aus zum Monte Rosa aufzusteigen, gelangte aber nur bis in eine Höhe von cirka 2900 Meter, wo sich seine Führer weigerten, weiter zu gehen. Von andern Thaten dieser Zeit sind zu erwähnen: die erste sichere Überschreitung des Col du Géant 1786 durch den Engländer HUI, des Col de Miage 1798 durch Landleute aus Courmayeur, die Überschreitung des Gauligrates vom Urbachthal zur Grimsel durch'v. Graffenried und R. Stettier im Jahr 1795, die Ersteigung des Gttfer-horns zwischen 1782 und 1793, des Scopi, Piz Muraun, Piz Cristallina 1782, des Stockgron 1788, des Rheinwaldhorns 1789, des Oberalpstockes 1790, des Piz Urlaun 1793 u.a. m. durch P. Placidus a Spescha. Zu nennen sind ferner die Reisen von Samuel Wyttenbach, Pfarrer an der Heiliggeistkirche in Bern, der mit seinen Freunden von Bonstetten und Gotll. Sam. Studer den Hintergrund des Kien-, Lauterbrunnen- und Grindelwaldthals erforschte, bis auf die Gamchilücké, den Zäsenberg, über den Breitlauenen-, Breithorn-, Schmadri- und Tschingelgletscher an den Fuß-des Tschingeltritts vordrang und auch über andere Gebirgsgegenden verständig und ohne Übertreibungen berichtete. Zu diesen Reisen wurde Wyttenbach zum Teil angeregt durch das Beispiel des Berner Buch-druckers Abr. Wagner, der mit dem Maler Chr. Wolf zum Zweck der Erstellung eines illustrierten Werkes über das Berner Oberland verschiedene Bergreisen unternahm. Die erste führte ihn ins Gadmenthal, auf die-Engstlenalp und auf die Karrenfelder über dem Engstlensee, die zweite auf die Grimsel, den Finster- und Lauteraargletscher, die dritte und; vierte nach Grindelwald und ins Lauterbrunnenthal. „ Er blieb freilich nicht auf der Landstraße, wie gemeine Reisende, er bestieg die benachbarten, überaus hochliegenden Gletscher, wagte sich auch bis auf die Höhe vom Breithorngletscher, von welchem er leichter ins Wallis gekommen wäre, als wie er zurück nach Lauterbrunnen kommen konnte. " "

Auf der fünften Reise überstieg Wagner die Gemmi und einige benachbarte Gebirge, und besuchte dann das Siebenthal und den schönen Gletscher bei der Quelle der SiebneSimme, also wohl den Räzligletscher ). Auch hier hatte er ein erstaunliches und fast unbekanntes Gebirg bestiegen. So wie ein angesehener Landvogt von eben dieser Gegend, durch einen unbekannten Steig, den man von einer Felsecke zur andern erforschen mußte, einen von keinen Stadtleuten jemals betretenen Weg zurückzulegen wagte, er kam aber in eben demselben Tage nachmittags um drey im Wallisbade ( d. i. Leuk ) an, wohin er sonst zwanzig Stunden zu reisen gehabt hätte. " Die sechste Reise ging in das „ Lauinenthal, wo wiederum beträchtliche Gletscher sind " ( gemeint scheint Lauenen bei Saanen und der Geltengletscher am Wildhorn ). Die Frucht dieser Reisen und der 1776 gemachten „ klassischen " Tour: Lauterbrunnen-Grindelwald-Große Scheidegg-Meiringen-Brienzersee-Thunersee sind die: „ Merkwürdigen Prospekte aus den Schweizer Gebirgen und derselben Beschreibung. I. Heft Lauterbrunnenthal ", Bern bei A. Wagner 1777. Eine Vignette von Duncker und zehn kolorierte Stiche von Wolf l ). Die interessante Vorrede, welcher wir verschiedene Citate entnommen haben, ist von Haller, der Text: „ Beschreibung einer Reise, die im Jahr 1776 durch einen Teil der Bernischen Alpen gemacht worden ", von Wyttenbach geschrieben. Wyttenbach und Wagner publizierten im gleichen Jahre auch eine: „ Kurze Anleitung für diejenigen, welche eine Reise durch einen Teil der merkwürdigsten Alpengegenden des Lauterbrunnenthals, Grindelwald und über Meyringen nach Bern zurück machen wollen ". Beide Werke haben mehrere Auflagen, Erweiterungen, französische Ausgaben u.a. erlebt, und sind für ähnliche Publikationen vorbildlich geworden, aber die Hoffnungen, welche Verleger und Verfasser auf sie setzten, haben sich nicht erfüllt und die materiellen Opfer sich nicht belohnt. Auch der oben schon genannte Gottlieb Siegmund Studer ( 1761—1808, der Vater unseres Gottlieb Studer ) ist viel gewandert, allerdings mehr in den Voralpen, und hat dabei fleißig gezeichnet. 1777 war er auf dem Stockhorn, 1780 auf der Schwalmeren, dem Großen Hundshorn und der Gamchilücke, ungefähr 1783 auf der Alp Isleten an der Schinigen Platte, in unbekannter Zeit aber jedenfalls noch vor 1800 auf der Engstlenalp, dem Rötihorn bei Grindelwald, dem Regenbolzhorn bei Adelboden, dem Niesen2 ).

Die in ihren Details fast unglaublich klingende Reise von Polier de Bottens, nachmals Dekan zu Lausanne, am 17. August 1742 von KanEiner dieser Prospekte ist dieser Abhandlung in gelungenem Vierfarbendruck beigegeben. Das ziemlich seltene Original ist mir von Herrn Ch. Montandon freundlichst zur Verfügung gestellt worden.

2 ) Über G. S. Studers Bedeutung als Panoramenzeichner, wie über die Verdienste Wyttenbachs als Reisender und Reiseschriftsteller siehe A. Wäber a. a. O. pag. 251/2 und 255 ff.

dersteg nach Lauterbrunnen, teilweise zu Pferde unternommen, aber über die Gletscher führend, von welcher der Reisende in einem bei Bourrit ( Description des Alpes Pennines et Rhétiennes I, p. 156, Genève 1781 ) abgedruckten Briefe berichtet, wollen wir dahingestellt sein lassen, ebenso die in der Litteratur mehrfach erwähnten Übergänge von Einheimischen über den Petersgrat oder die Wetterlücke 1712 und 1783.

Auch in der Mittel- und Ostschweiz nahm in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts das Bergreisen und Bergsteigen einen lebhafteren Aufschwung. Johann Konrad Escher, von Zürich, der sich durch die Erstellung des Linthkanals einen ehrenvollen Beinamen erwerben sollte, war ein eifriger Wanderer, der auch „ die Bedeutung der genauen Gebirgszeichnung für Geologie und Topographie erkennend, sich der Panoramazeichnung befliß ". Auch als Kartograph war er thätig. So hat er 1797 eine Karte der Grenze des Wallis gegen das Piémont gezeichnet, welche Bereisung der Gegend voraussetzt. Aus der Ostschweiz kennen wir von ihm eine Reise durch das Linth- und Rheinthal, wobei wahrscheinlich der Kistenpaß begangen wurde, und eine vom Maienthal über den Sustenpaß ins Gadmenthal1 ).

Einen für jene Zeit kühnen Versuch, auf den Tödi zu gelangen, machte im Jahr 1760 der damals sechsundzwanzigjährige Schaffhauser Christof Jezeler 2 ), der auch in spätem Jahren seine schönste Erholung in den Alpen suchte und 1791 am Säntis verunglückte.

Höher hinauf stiegen einige Reisende in Graubünden. Der Piz Linard soll im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts von einem Geistlichen aus Lavin, Jos. Clos Zadrell, der wohl auch der Fuorcla Zadrell den Namen gegeben hat, oder gar schon, nach U. Campell 8 ), vor 1572 von einem gewissen Chuonard erstiegen worden sein, aber die Einzelheiten der Erzählung klingen doch gar zu romantisch. Besser bezeugt sind andere Reisen. Der Seewiserpfarrer Nicolaus Sererhard erstieg mit dem Ga-neyer Badwirt und einem alten Jäger von der Alp Fasons aus über die Abstürze des Alpsteins, die Kluft des Schafloches und den Gletscher die Scesaplana und stieg auf der andern Seite durch die „ Tote Alp "

hinunter zum Lünersee. In der 1742 verfaßten, 1872 in Chur gedruckten „ Einfalten Delineation aller Gemeinden gemeiner dreier Bünden " etc. hat er uns eine köstliche Beschreibung seiner „ Scheschaplanareiß " hinterlassen. Der Engländer W. Coxe, der zwischen 1776 und 1787 die Schweiz dreimal bereiste und sehr viel zur Verbreitung richtiger Ansichten über ihr Land, ihre Leute und Staatsverhältnisse beigetragen hat ' ), überschritt den Murettopaß vom Engadin nach dem Veltlin am 15. August 1779, aber J. B. von Tscharner erzählt uns 1786 2 von einem englischen Lord, der achtzig Jahre früher allein den Murettogletscher erstiegen und durch einen Sturz in eine Spalte verunglückt sei. Auf der gleichen Reise besuchte der genannte J. B. v. Tscharner den Roseggletscher, von dessen Aussicht er eine poetische Schilderung hinterlassen hat. Carl Ulisses v. Salis gab 1781 „ Nachricht von dem Gletscher auf Bernina " 8 ), aber er selber hat nur „ bei der Überreise über den Muretto einen Hauptteil dieses Gletschers neben sich gehabt ", also das Innere dieses nach seinen Umrissen richtig angegebenen Eisreviers nicht betreten. Ferner kennt er neben der „ im Sommer auch mit Pferden befahrenen Art von Landstraße aus dem Malengerthal nach Maloggia über den Muretto " auch einen „ nur Gemsjägern bekannten Fußsteig von Val Masino hinüber nach Bondo im Bergällerthal ", also den Passo di Bondo, der zu beiden Seiten über Gletscher führt. Den Rhätikon und das Silvrettagebiet erforschten die durch Freundschaft und gemeinsame Interessen verbundenen Prätigauer-pfarrer J. B. Catani und Luc. Pol. In den Jahren 1782 und 1783 erforschten sie die interessanten Höhlen der Sulzfluh; ob sie auch bis zum Gipfel vordrangen, ist ungewiß. Im Jahr 1780 machten sie eine Reise im Montafun, von der sie im „ Sammler " III, pag. 33 ff., Bericht erstatteten. Von St. Antönien im Prätigau gingen sie über Partnun nach Plassecken, wo sie die Höhlen untersuchten, überschritten dann die „ Furka bei den vier Türmen ", das ist wohl der Viereckerpaß. Durch die Gargellenalp hinabsteigend bogen sie in das Vergaldnerthal ein, überschritten das Matschunerjoch ins Garnerathal und die „ Furca Caccietta ", das ist wohl der Hochmadererpaß, nach Fermunt, das sie zwei Tage lang durchkreuzten. Im Ochsenthal drangen sie an dem verfallenden „ Veltlinerhüsli " vorbei bis an den Fuß des Fermuntferners, auf der Tschiffanellaalp bis unter die Wände des Litzners vor. Auf dem Rückweg wollten sie vom „ Hinderen Berg zu hinderst an Garneraalp an der Westseite ganz nahe bei den Gletschern in die Kübliseralp Schlappina Dr. H. Bubi.

hinüber ", sahen sich aber durch die Steilheit der Schlappinermäder genötigt, „ auf der Seite von Valzifenz hinauszugehen und das Schlappinerjoch zu der Galtviehalp am Saaserberg " zu überschreiten, von wo sie über Madris und die Gafierplatten nach St. Antönien zurückkehrten. Interessant sind auch die Aufschlüsse, die sie in ihrer Beschreibung über die Benutzung des Fermunt- und Futschölpasses durch die Guardnêr und Ardezer ( Steinsberger ) mit ihren Viehherden geben. Im Jahre 1784 ging Pol von Klosters über Monbiel, Pardenn, Stuzalp, Fremdvereina, Süserthal, Fleßpaß und Val Fleß nach Süs. Bei andern Besuchen des Unterengadins schlug er den Weg über den Flüelapaß ein x ). Val Tuoi und Val Lavinuoz kennt er nur durch Erkundigungen, ebenso Val Sursura, deren Gletscherbach und die Alp Arpschella. Um so genauer spricht er von der Val Tasna. „ Eine Reise, die ich, in Gesellschaft Herrn Pfarrers Schukan von Vettan, durch dieses Thal machte, verschaffte mir Gelegenheit, das Innere desselben mehr kennen zu lernen. Es ist drei Stunden lang und teilt sich in der Mitte in zwei Nebenthäler; das eine, nordwärts hinein, heißt Las Urezzas, das andere Urschai. An der Westseite des Thals Urschai hängt der Gletscher Chialoûs tief herunter, der eine seltsame Aussicht darbietet. An eben dieser Westseite, weiter hinein, ist der Berg Futschöl, über den ein Weg in Cultura geht. Die Nordseite des Thals Urschai ist von hohen Felsklippen und einem Gletscher begrenzt, der wohl eine Quadratmeile Flächeninhalt haben mag, über des es wegen der tiefen Spalten sehr gefährlich zu reisen ist. Der schreckhafte Augenblick, in welchem mein Reisegefährte vor meinen Augen in eine solche Spalte stürzte, noch aber zum Glück am Rande mit den Armen hängen blieb, wird mir unvergeßlich bleiben"2 ). Gemeint ist sicherlich die Fuorcla Tasna; ob Pol und Schukan den Paß überschritten haben, ist freilich fraglich.

Dies führt uns darauf, in Ergänzung unserer Erörterungen und um ein vollständiges Bild des um 1800 im Hochgebirge bekannten Terrains zu gewinnen, zusammenzustellen, was wir von anonymer Benutzung von Gletscherpässen in der Schweiz bis zu diesem Datum wissen. Wir beginnen im Westen und beschränken uns auf eine summarische Aufzählung ohne ausführliche Belege. Auch Unsicheres oder Vereinzeltes, wie die Überschreitung des Mönchjoches durch Flüchtlinge aus dem Wallis, des Petersgrates oder der Wetterlücke durch Bergknappen 1712, wollen wir hier übergehen. Auch so noch bleibt eine stattliche Liste. Der Col de Fenêtre ist ein alter Verkehrsweg zwischen Wallis und Piémont, gehörte doch das Val de Bagnes vom Pont du Quart aufwärts von 1252-1378 den Herren von Quart bei Aosta, er ist vielleicht 1234 und 1476 von savoyischen Truppen, jedenfalls aber 1536 von J. Calvin auf seiner Flucht von Aosta überschritten worden. ( Venetz: „ Mémoire sur les variations de la température des Alpes ", pag. 7, und Th. Bourrit: „ Nouv. Description " etc., vol. II, pag. 76. ) Der Col de Collon wird 1544 bei Sebastian Münster ( s. oben, pag. 215 ) erwähnt. Pilgerfahrten von Zermatt nach Sitten über den Col d' Hérens und nach Varallo über das Weißthor sind für den erstem bis 1666, für das letztere jedenfalls im achtzehnten, wenn nicht schon im sechzehnten Jahrhundert nachgewiesen ( vergl. G. Studer: „ Über Eis und Schnee " ( 2. Auflage ) II, pag. 448, 427 ). Der Col de St. Théodule oder das Matterjoch ist durch Münzfunde als in römischer Zeit gebraucht ausgewiesen und im sechzehnten Jahrhundert allgemein bekannt. Monte Moro- und Antronapaß sind urkundlich schon im dreizehnten Jahrhundert bezeugt und figurieren bei Simler 1574 als längst bekannt. Der Griespaß ist eine uralte Handelsstraße zwischen der Schweiz und Italien und die natürliche Fortsetzung der Grimsel; er wurde im fünfzehnten Jahrhundert von den Eidgenossen wiederholt überschritten, um nach Domo d' Ossola zu kommen. Der Lötschenpaß oder Lötschberg wird von Justinger 1384 in Verbindung mit einem kriegerischen Ereignis gebracht und ist, wie A. Wäber ( Anz. für Schweizergeschichte 1892, pag. 445 bis 446 ) wahrscheinlich gemacht hat, schon seit dem Anfang des vierzehnten Jahrhunderts für die Auswanderung der Lötscher ins Berner Oberland benützt worden. Der Passo Cornera oder, wie Mr. Coolidge, dem ich diese und mehrere andere Nachweise verdanke, meint, der Passo Vecchio muß von den Leuten von Val Leventina seit 1540, wo der Abt Paul von Disentis ihnen seine Weiden in der Val Cornera verkaufte, mit ihren Herden überschritten worden sein. ( G. Theobald: „ Das Bündner Oberland ", pag. 125. Chur 1861. ) Der Sandgrat wird von Scheuchzer 1723 erwähnt, den Segnes hat er selbst 1703 überschritten. Vom Duanapaß heißt es im „ Neuen Sammler " VII, pag. 187: „ Von Avers nach Soglio durch Bregalga 5 Stunden. Dieser Weg führt über Gletscher, ist aber Sommers der gewöhnlichste, dessen die Averser sich bedienen. " Ebendort heißt es: „ Von Cresta führt ein Gletscherweg über Faller nach den Mühlen im Oberhalbstein " [Thätijoch oder Berclajoch ). Vom Errgrat berichtet J. A. v. Peterelli ( „ Neuer Sammler " II, pag. 427 ), „ daß er Gemsjägern auf seiner ganzen Länge von vier Stunden an mehreren Orten zugänglich sei, daß man aber gewöhnlich nur von Flix aus an zwei Orten hinübergeht, wo man dann auf der andern Seite in das Beverserthal hinabsteigt ". ( Fuorcla Calderas und Fuorcla da Flex. ) Der obengenannte Murettopaß wurde vielleicht 1375 bei einem Raubzug aus dem Malenco nach Bregaglia, jedenfalls aber 1618 von Engadinertruppen nach dem Veltlin, 1620 von Flüchtlingen aus dem Veltlin nach dem Engadin überschritten und wahrscheinlich steckt sein Name auch in dem Melanchus oder Malenchus Mons bei Tschudi und Campell. Der Passo Tremoggia und die Fuorcla Fedoz sind alte Handels- respektive Schmugglerwege aus dem Fex- und Fedozthal im Veltlin, ebenso der Passo di Zocca und der Passo di Bondo, aus dem Bergell ebendahin führend x ). Der Klosterpaß oder wahrscheinlicher die Rote Furha ist mit dem Passe gemeint, der nach Campell ( „ Quellen " VII, pag. 211 und 326 ) aus der Val Sardasca über das nächste Gebirge nach Osten in fünf Meilen in das vorarlbergische Thal Cultura führt 2 ). Der nämliche sagt, daß man aus der Val Lavinuoz, aber nicht ohne Schwierigkeit, nach Vernela, Vereina und Klosters gelangen könne. Der Weg sei fünf Meilen lang. ( „ Quellen " VII, pag. 167 und 324. ) Gemeint ist sicher der Vernelapaß, auch Fuorcla ZadreU genannt. Daß an den Vereina- oder Val Tortapaß vergletscherte Gipfel anstoßen, weiß Campell genau ( „ Quellen " VII, pag. 165 und 322 ). Ebenso kennt er den vergletscherten Hintergrund des Verstanclathälchens und die „ Saffretta ". Es scheint aber doch nicht, daß zu seiner Zeit Silvrettapaß und Verstanclathor bekannt gewesen seien, dagegen wohl der Fermunt- und FutschölpaQuellen " VII, pag. 179, 241 u.a. ); diese sogar schon viel früher, denn bis 1383 war Galtür im Tirol nach Ardez im Unterengadin eingepfarrt.

Man sieht aus dieser Liste, die ausdrücklich nur sicher bekannte Gletscherpässe nennt, daß die Kenntnis des Hochgebirgs am Ende des vorigen Jahrhunderts eine nicht verächtliche war. Aus einer Darstellung der alpinen Kunst um die nämliche Zeit, zu der uns leider der Raum fehlt 3 ), würde sich ergeben, daß die Hochgebirgslandschaft von Künstlern und Publikum schon hochgewertet war, daß also auch hierin der „ Alpensinn " geweckt und im Begriffe war, die Welt zu erobern. In der wissenschaftlichen Erforschung tritt seit Saussure das physikalische Interesse vor das botanische, dem bis dahin die größten Leistungen zu verdanken waren, und dies führte die Männer der Wissenschaft ins Innerste der Eiswelt und auf die vegetationslosen Gipfel. Aber auch die Kartographie drang nun in diese Gegenden vor. Hier sind die von Joh. Rud. Meyer von Aarau geleiteten und bezahlten Arbeiten der Ingenieure /. H. Weiß aus Straßburg und J. E. Müller aus Engelberg epochemachend. Um Vorstudien fllr ein „ Relief der Alpen vom Genfersee bis zum Bodensee " und eine Schweizerkarte zu machen, bereisten diese beiden, denen sich einmal auch der berühmte Mathematiker und Geodät Tralles anschloß, von 1786—1797 die Alpen * ). Da dem Dreiecknetz in WeiCarte hydrographique et routière de la Suisse ", Straßburg 1799, nicht zu trauen ist, so wissen wir nicht, welche Signalpunkte diese Ingenieure oder ihre Gehülfen betreten haben. Sicher ist, daß Weiß im Wallis trianguliert hat, wohin ihm Meyer 1791 Empfehlungen von Bern verschaffte; es erging ihm zwar schlecht, indem ihn die aufgeregten Bauern als Spion abfingen, ausplünderten und seine Zeichnungen zerrissen, aber er wiederholte die Reisen dorthin. Vor 1796 drang er von der Grimsel über das Oberaarjoch unter gefährlichen Abenteuern nach dem Walliser Fieschergletscher vor. In einer Anmerkung zu Blatt 14 des Atlas bemerkt Weiß, „ er habe Gelegenheit gehabt, von der Höhe einiger an Piémont an-stoßender beträchtlicher Gletscherhöhen den Verlauf bedeutender Eisthäler zu entdecken und zu fixieren, die sich in dieser Richtung hinziehen ". Das muß vor dem 26. August 1797 gewesen sein, an welchem Meyer an General Bonaparte schrieb, er möge durch seine Ingenieure den weißgelassenen italienischen Abhang der Wallisgrenze nachtragen lassen 2 ). Müller erstieg ums Jahr 1792 den Urirotstock und 1795 den Titlis, um die Dicke der Firncalotte zu messen. Am eingehendsten besucht hat Weiß das Berner Oberland. Das Resultat dieser Reisen und Aufnahmen waren ein Specialblatt: „ Carte d' une partie très intéressante de la Suisse ", Aarau 1796, enthaltend das Berner Oberland und anstoßende Oberwallis und für den Gebrauch der Reisenden bestimmt, und der „ Atlas général de la Suisse ", von dem bis und mit 1800 die Blätter VII, X, II, IV, VIII, IX, XIV, XI und XIII aufgenommen waren, welche den größten Teil der Alpen enthalten. Die zeitgenössische Kritik, welche die mangelhafte trigonometrische Grundlage scharf hervorhob, gab immerhin zu, daß „ das Hochgebirge hier zum erstenmal mit einiger Ähnlichkeit dargestellt, " des Grindelwaldthals wahre Richtung zum erstenmal, ebenso Aletschgletscher, Brienzersee in wahrer Richtung und Gestalt angegeben sei " 3 ).

Die Reisen und Aufnahmen der Meyerschen Ingenieure sind die letzte Leistung des achtzehnten Jahrhunderts für die Erforschung des schweizerischen Hochgebirges. Der Untergang der alten Eidgenossenschaft und die Kriegswirren im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts unterbrachen den in schönster Entwicklung begriffenen Alpinismus, aber daß seine Sache gewonnen war, beweist doch der Umstand, daß 1811 und 1812 die Söhne und Enkel Meyers Jungfrau und Finsteraarhorn eroberten, Dr. H Dübi.

daß P. Placidus a Spescha, aus der Verbannung zurückgekehrt, seine Thätigkeit im Adulagebiet und Bündner Oberland mit großem Erfolg wieder aufnahm und daß die Giordani, Zumstein und Vincent 1811, 1819 und 1820 die nach ihnen benannten Monte Rosa-Gipfel gewannen. Und wenn wir das bis 1800 Erreichte überblicken und es mit dem heutigen Stand der Forschung vergleichen, so müssen wir wohl anerkennen, daß wir ohne die Vorarbeit der Männer, auf deren Schultern wir stehen, in 100 Jahren schwerlich so hoch und so weit gekommen wären und daß wir alle Ursache haben, an der neuen Jahrhundertwende auch dieser Pioniere dankbar zu gedenken.

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