«Beugt sich das Matterhorn dem Joche des Kapitals?»
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«Beugt sich das Matterhorn dem Joche des Kapitals?» Letzter Teil: Aufruhr um eine Bahn zum Gipfel

Kampf und Intrigen am Matterhorn! Nicht allein Sturm, Kampf und Alpinistendramen haben den Berg der Berge in die Schlagzeilen gebracht. Wütende Proteste löst der Anfang des 20. Jahrhunderts geplante Bau einer Eisenbahn auf die Spitze «des erhabensten Gipfels der Alpen» aus.

Die Schweiz wird in der Belle Epoque endgültig vom Bergbahnfieber erfasst. Drei Hochalpenprojekte sorgen für weltweites Aufsehen: Die Gornergratbahn (Eröffnung 1898), die Jungfraubahn (Eröffnung 1912) und Projekt Nummer 3: die Matterhornbahn. Sie soll mit der Endstation auf 4500 Metern Höhe den endgültigen Triumph der Technik über die Natur bringen. Für den Bieler Unternehmer Leo Heer-Bétrix und für den berühmten Ingenieur-Topografen Xaver Imfeld als Projektverfasser ist es klar: «Eine Bahn auf das Matterhorn würde für die ganze Schweiz eine Attraktion ersten Ranges!»1 Im Konzessionsgesuch für die Zermatter Hochgebirgsbahnen auf den Gornergrat und das Matterhorn vom 22. August 1890 sparen sie nicht mit Superlativen: «Der sensationelle Rundblick vom Matterhorn ist von ergreifender Grossartigkeit.»

Parallel zum Matterhornprojekt verfolgen die Initianten unter dem Label «Zermatter Hochgebirgsbahnen» in einer ersten Etappe auch die Erschliessung des Gornergrats. Der Aufstieg von Zermatt auf den berühmtesten Aussichtspunkt des Mattertals dauerte damals zu Pferd volle vier Stunden und kostete stolze zwölf Franken.

 

Wallis spät erschlossen

Doch zuerst musste das periphere Zermatt erreicht sein. Als am Vierwaldstättersee längst Eisenbahnen und Raddampfer Zehntausende von Touristen in ihren Bann zogen, führte der Eisenstrang im Wallis vom Genfersee her erst kurz über die Kantonshauptstadt Sion hinaus. Erst die Verlängerung der Bahn von Sierre bis Leuk (1877) und weiter nach Brig (1878) sowie die Erweiterung des Saumwegs zu einer Fahrstrasse (St. Niklaus–Zermatt) führten innert kürzester Zeit zu einer Vervielfachung der Gästezahlen im Mattertal. Die Strecke für die Bahn bis Zermatt war ab 1889 im Bau, eröffnet wurde sie 1891. «Wenn erst die Züge bis Zermatt gelangen und eine Schnellzugsverbindung zwischen Lausanne und Visp das Dorf Zermatt aus der Nord- und Ostschweiz in einem Tag erreichbar machen [die Lötschbergachse ist noch nicht gebaut], so wird die Frequenz noch sehr bedeutend steigen»2, hiess es im Konzessionsgesuch 1890 von Heer-Bétrix und Imfeld.

 

Ambitionierte Bauplanung

Wie Adolf Guyer-Zeller an der Jungfrau so geben auch Leo Heer-Bétrix und Xaver Imfeld bei ihrem Matterhorn- und Gornergratprojekt ehrgeizige Ziele vor: «Die sämtlichen Linien sollen im Verlauf von 4-jährlichen Bauperioden ausgeführt werden. Zur Ausführung des grossen Schachtes am Matterhorn (Bahntunnel wie bei der Jungfraubahn) und Errichtung der Seilbahn in demselben wird diese Zeit durchaus nötig sein. Inzwischen werden im ersten Jahr die Verbindungsbahnen nach ‹Moos› und ‹Zum See›, im zweiten die Seilbahnen nach ‹Riffelalp› und ‹Schafberg›, im dritten die Zahnrad-Bahnen nach ‹Gornergrat› und ‹Whympershütte› erstellt und successive dem Betrieb übergeben, um nach dem 4. Baujahre die Matterhorn-Seilbahn anzuschliessen.»

Die Baupläne von 1890 sehen eine Verlängerung der Visp-Zermatt-Bahn (heute Matterhorn-Gotthard-Bahn) vor, um 3,6 Kilometer bis «zum Fuss der eigentlichen Steilrampen». Interessant und aus heutiger Sicht geradezu visionär: Beim Bahnhof Zermatt soll die Talbahn das Dorf in einem 180 Meter langen Tunnel westlich umfahren und bis zur Zwischenstation «Gorges» (Siegfriedkarte 1888; heute auf LK 1 : 25 000 «Tufteren») geführt werden. Hier ist die Trennung der Linie vorgesehen, einerseits nach «Zum See», der Talstation der Matterhornbahn, andererseits nach «Moos», der Talstation der geplanten Gornergratbahn.

Die «Basler Nachrichten» – Jahre später erbitterte Gegner fast aller Bergbahnprojekte – schlagen sich vorbehaltlos auf die Seite der Initianten: «Eine Bahn auf das Matterhorn wird einen derartigen Anziehungspunkt für Zermatt bilden, dass sich die Frequenz bald verdreifachen und verfünffachen wird, und diese Erhöhung der Frequenz wird auch den Führern, Trägern und Maultierhaltern mehr Verdienst bringen.»3

 

Ultimative Bergstation

Leo Heer-Bétrix und Xaver Imfeld preisen den Matterhorngipfel als ideale unterirdische Bahnstation: «Die Bahn erreicht die Gegend des höchsten Punktes 4505 m des von Ost nach West verlaufenden, nahezu horizontalen Gipfelkammes zirka 20 m unterhalb der Kammhöhe. Daselbst werden längs des Gipfelkammes Galerien angelegt und Räumlichkeiten für Restauration, für Betriebspersonal, die Führer etc.»

Für den letzten Streckenabschnitt, Whympershütte–Matterhorngipfel, mit fast 100 Prozent Maximalsteigung (entspricht einem Winkel von 45 Grad) werden besondere Massnahmen für die Betriebssicherheit garantiert. «Der Nordostkamm des Matterhorns, dem die unterirdisch geführte Bahn fast genau folgt, eignet sich in vorzüglicher Weise zur Anlage derselben (der Bergstation), die soweit es die Bau- und Temperaturverhältnisse erwünscht erscheinen lassen, möglichst nahe an die Oberfläche gerückt werden soll», heisst es in der «Schweizerischen Bauzeitung».

 

Höchstpreise

Eine Fahrt von Zermatt hinauf zum «Horu» und zurück könnte sich allerdings nur eine ausgesuchte Klientel leisten. Die Fahrt Zermatt–Matterhorn retour würde 60 Franken kosten. Gemessen an der damaligen Kaufkraft entspricht dies heute in etwa stolzen 800 Franken. Allerdings hat 1890 auch eine Matterhornbesteigung mit Bergführer ihren Preis: So müssen die Alpinisten gemäss Tarifhandbuch «für die Führer und Träger der Vispertäler», für das Engagement eines Matterhornführers die Summe von 100 Franken hinblättern!

 

Konkurrenz

Genau einen Monat nach Leo Heer-Bétrix stellen auch der Walliser Nationalrat Jean-Antoine Rothen sowie Kantonsingenieur S. Zen Ruffinen aus Sion zusammen mit dem Berner Bankier von Ernst ein Konzessionsgesuch. Auch sie wollen eine Gornergrat- und eine Matterhornbahn bauen. Das Projekt wird kurz darauf zurückgezogen, als die Bewerber die Aussichtslosigkeit ihres Bauvorhabens einsehen.

Schliesslich folgt sogar Eingabe Nummer 3, diesmal von der Gemeinde Zermatt und vom Begründer der Walliser Hotelierdynastie, Alexander Seiler. Die Pläne und Kostenberechnungen sind auffallend identisch mit jenen von Heer und Imfeld. Was die Konzessionsbehörde (noch) nicht weiss: Dorfkönig Alexander Seiler ist der Schwiegervater von Erstbewerber Xaver Imfeld. Offensichtlich handeln die beiden nach der Devise «dopplet gnäiht het besser»…

 

Appell des Zermatter Gemeindepräsidenten

Im Gegensatz zu 17 Gemeindebehörden der Jungfrauregion, die 1890 gemeinsam beim Bundesrat für den sofortigen Bau der Jungfraubahn intervenieren, sprechen sich aber die Zermatter grossmehrheitlich gegen das «überrissene Bergbahnprojekt am Matterhorn» aus. An der Spitze der lokalen Opposition steht der Zermatter Gemeindepräsident Lauber: «Nein! Jeder wahre Zermatter, Greis und Kind, Mann und Frau, Bauer, Senn und Bergführer, alle sind erklärte Gegner der Matterhornbahn. Ich habe die Augen der stärksten und härtesten Männer feucht werden sehen, als man ihnen sagte, das Matterhorn müsse sich dem Joche des Kapitals beugen. Und an alle, die unser schönes Vaterland lieben und die den Sinn für Freiheit und den Geist unseres Volkes hoch halten, richten wir die innige Bitte, uns zu helfen bei der Erhaltung des schönsten Gipfels der Alpen, bei der Rettung der einzigartigen Schönheit des Matterhorns vor Entheiligung und Ausbeutung. Darum ersucht Sie im Namen der ganzen Gemeinde von Zermatt deren Präsident. M. Lauber.»4

Sowohl der Stände- wie auch der Nationalrat sehen aber keine Probleme: Am 20. Juni 1892 wird der Konzession für das Projekt Heer-Bétrix/Imfeld (Nr. 1) zugestimmt – ohne einen einzigen Einwand. Die konservative «Berner Volkszeitung» kommentiert am 25. Juni 1892 lapidar: «In ehrfurchtsvollem Schweigen wurde die Berichterstattung entgegengenommen und die Konzession erteilt.» Rechtlich stand der Matterhornbahn nichts mehr im Wege.

 

Letzter Anlauf endet im Proteststurm

13 Jahre später: Die Konzession ist abgelaufen, die Bahn aufs Matterhorn noch nicht gebaut. Das ehrgeizige Vorhaben ist an der Finanzierung gescheitert.

Es folgt das letzte Gefecht. Ein komplett überarbeitetes 10-Millionen-Projekt sieht nur noch zwei Sektionen aufs Matterhorn vor: Per Zahnradbahn (9,85 km) teilweise unterirdisch zur Zwischenstation «Klubhütte» auf 3052 Metern Höhe, dann die Weiterfahrt mit der Standseilbahn im 2330 Meter langen, enorm steilen Tunnel bis zur Felsstation auf 4475 Metern Höhe, direkt unter dem Gipfel. Für die Konzessionsbewerber, Prof. Golliez aus Lausanne und Xaver Imfeld, steht fest: «Die Matterhornbahn bietet aus technischer Sicht keine Probleme. Auch ästhetische Bedenken dürften als Argumente nicht dienen, weil die Bahn grösstenteils unterirdisch geführt wird.» In der Konzessionseingabe vom 4. Dezember 1905 argumentiert H. Golliez: «Seit bald zwei Dezennien führt eine Bahn nach dem 4312 m hohen Pikes-Peak in den Rocky Mountains5. Der höchste Gipfel der Alpen, der Mont Blanc, wird durch eine Bahn erschlossen, die bereits im Bau begriffen ist6, und die Jungfraubahn, deren letztes Jahr eröffnete Station Eismeer gegenwärtig als die höchste in Europa dasteht, führt unter ungeahntem Zuspruch der Reisendenwelt in die Hochgebirgsregionen des Berner Oberlandes.»

Was 1892 im eidgenössischen Parlament noch schlank durchgewunken worden ist, löst nun – eineinhalb Jahrzehnte später – in der Öffentlichkeit einen Proteststurm aus. H. Golliez und Xaver Imfeld halten dennoch unerschütterlich am weit ausgereifteren Projekt fest. Imfeld, genialer Schöpfer zahlreicher Hochgebirgskarten und Reliefs von Weltruf sowie Ehrenmitglied des SAC (1901), ist von der visionären Idee, das Wahrzeichen der Alpen mit einer Bahn zu erschliessen, nicht mehr abzubringen. Die Anzahl immer neuer Bergbahnen hat indes zu einem Umdenken geführt.

 

68 356 Unterschriften

Der Sturm wird zum Orkan. In der ersten Reihe der Kritiker stehen auch das Zentralkomitee des SAC, die Vereinigung der Schweizer Bergführer und vor allem die Schweizerische Vereinigung für Heimatschutz. Politisch unabhängig kann die junge Bewegung geradezu klassenkämpferisch auftreten: «Es ist in moderner Form der alte, brutale Egoismus der Feudalherren. Die Sucht, rasch und mühelos reich zu werden, tritt bei vielen an Stelle einer würdigen Auffassung von Arbeit und persönlicher Anstrengung.»7

Eine Petition mit über 68 356 Unterschriften wird dem Gesamtbundesrat zugestellt. Der zentrale Satz: «Die Gipfel unserer Hochalpen sind das ideale Eigentum des ganzen Schweizer Volkes und somit unverkäuflich!»8 Der Naturschutz erwacht, die gegnerische Lawine lässt sich nicht mehr aufhalten. Keine Chance für die Bahn aufs Matterhorn! 1909 stirbt Xaver Imfeld erst 56-jährig, kurz darauf folgt ihm sein Partner Prof.Golliez in den Tod. Damit ist die «Akte Matterhornbahn» auf allerdings unerwartete Art endgültig geschlossen.

Bergbahnbau: härteste Arbeit

Das erste Gesuch von Leo Heer-Bétrix und Xaver Imfeld sah auch den Bau einer Bahn auf den Gornergrat vor. Verwirklicht hat das schwierige Projekt schliesslich ein Bieler Unternehmen. 2400 Arbeiter schufteten zwei Jahre lang. An ihnen erkannte man auch zum ersten Mal die Symptome der Höhenkrankheit.

Frühsommer 1896: Für die Pauschalsumme von drei Millionen Franken übernahm das Bieler Unternehmen Haag & Greulich den Bau der Gornergratbahn. Es hatte für die Einhaltung der extrem engen Baufrist geradezustehen: Die Strecke Zermatt–Gornergrat musste spätestens bis zum 1. Juli 1898 betriebsbereit der Bahngesellschaft übergeben werden. Der Gornergratbahn-Gesellschaft stand «das Recht zu, für jeden Tag Verspätung vom 1. Juli 1896 an 2000 Franken an dem hievor ausgesetzten Übernahmepreis in Abrechnung zu bringen».9 Vorsichtige Sympathien der misstrauischen Zermatter Bevölkerung erwarb die Gornergratbahn, als es den Ingenieuren und Bauarbeitern gelang, den für unbezwingbar gehaltenen Findelenbach mit einem 48 Meter hohen, 80 Meter langen und 124 Promille Steigung aufweisenden Viadukt zu überspannen.

 

Ein harter, langer Winter

Durch einen Regierungsbeschluss des Walliser Staatsrates wurde dem Bauunternehmen, aus Rücksicht «auf die Fremden in Zermatt», verboten, Sprengarbeiten zwischen 22 und 5 Uhr auszuführen, was bei andern Tunnelbaustellen selbstverständlich war. Der Probleme nicht genug: «Ende September 1896 war in Zermatt so viel Schnee gefallen, dass die Arbeiten im Freien eingestellt werden mussten. Um Versäumtes nachzuholen, wurde für die Tunnels Winterbetrieb eingerichtet. Zu diesem Zwecke hatte man an den Mündungen […] mit doppelter Verschalung, die Zwischenwände mit Moos ausgestopft, hergestellt, jede Baracke für 35 bis 40 Mann eingerichtet, und mit je zwei Öfen versehen. Auf diese Weise waren während des ganzen Winters 1896/97 auf 2000 m ü.M. 150 Mann untergebracht, welche von Zermatt aus verproviantiert wurden.»10

 

2400 Arbeiter, meist aus Italien

1000 Mann arbeiteten ab April 1897 am Schienenstrang, in den zwei Jahren waren es insgesamt rund 2400. Wie bei den meisten Tunnelbauten in der Schweiz kamen sie aus Italien, am Gornergrat vor allem aus der Provinz Bologna. Wie später beim Bau der Jungfraubahn, zeigten sich bei den Arbeitern auf einer Höhe von über 2700 Metern im Herbst «schnelle Ermüdung, Mattigkeit, starke Kopf- und Rachenschmerzen, Appetitlosigkeit, Herzklopfen und Atembeschwerden […]. Zuletzt sah sich die Bauleitung veranlasst, die aus der Tiefebene stammenden Arbeiter durch Bergbewohner zu ersetzen; auch sie wurden von der Krankheit ergriffen. Die beim Bau der Gornergratbahn gemachten Erfahrungen ergaben so die wissenschaftlich bemerkenswerte Feststellung, dass die Schwerstarbeitsleistung des Menschen von etwa 2700 m ü.M. an zunehmend nachlässt und von etwa 3000 m Höhe an bald gänzlich aufhört.»11

 

51 Tage Verspätung

Was selbst die Fachwelt überraschte: Die Gornergratbahn konnte in einer von vielen Fachleuten nicht für möglich gehaltenen Frist, am 20. August 1898, feierlich eröffnet werden. Dennoch musste das Bieler Bauunternehmen Haag & Greulich der Gornergratbahn AG 50 000 Franken als Entschädigung «für verspätete Bauvollendung» zahlen. Dies, weil die Eröffnung der Bahn innerhalb von 24 Monaten, auf den 1. Juli 1898, vereinbart worden war…

 

>Heinz Schild

Der Autor der Serie über die unvollendeten Bahnprojekte war bis zu seiner Pensionierung Redaktor beim Regional-journal Bern, Freiburg, Wallis von Schweizer Radio DRS. In den letzten Jahren hat er die Geschichte der unvollendeten Bahnprojekte zusammengetragen, sie soll 2013 als Buch im AS Verlag erscheinen.

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