Bondo im Aufbruch
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Bondo im Aufbruch Fünf Jahre nach dem Bergsturz am Pizzo Cengalo

Das Bergeller Dorf Bondo befindet sich fünf Jahre nach dem verheerenden Bergsturz noch immer im Wiederaufbau. Künftig soll Naturereignissen Platz in der Landschaft eingeräumt werden. Mit neuen Wegen zur Capanna di Sciora CAS und zur Capanna Sasc Furä CAS wird auch der «Sentiero Bregaglia» wiederbelebt.

Die Spuren der Naturkräfte sind allgegenwärtig: Ein riesiger Schuttkegel zieht sich durch das 200-Seelen-Dorf Bondo im Bündner Südtal Bergell. Vom Bachbett der Bondasca ertönt der Lärm der Bagger, die an einem gigantischen Schutzdamm arbeiten. Gerade hält der Frühling Einzug und verleiht der Szenerie eine Aufbruchstimmung. In Aufbruchstimmung ist auch Fernando Giovanoli. Der Gemeindepräsident von Bregaglia steht am Fenster seines Büros im Gemeindehaus. Von hier aus hat er den Überblick über die Grossbaustelle und kann den Fortschritt der Arbeiten mitverfolgen.

Am 23. August 2017 lösten sich am Pizzo Cengalo drei Millionen Kubikmeter Fels und stürzten auf den Gletscher. Die Felsmassen erodierten das Gletschereis und lösten einen gigantischen Murgang aus, der sich das Tal hinunterwälzte. Dabei kamen acht Berggänger ums Leben, und Bondo wurde von Schlamm und Geröll überschwemmt. «Wir hatten ungefähr eine halbe Stunde Zeit für die Evakuierung, ehe die Schlammlawine das Dorf erreichte», sagt Fernando Giovanoli. Dank dem Auffangbecken blieb der historische Dorfkern nahezu unbeschädigt. Doch die Brücke, die Mehrzweckhalle mit Campingplatzanlagen, der Werkhof, die Trinkwasseranlange und einige Gebäude am Ufer der Bondasca wurden zerstört.

42-Millionen-Projekt für ein sicheres Bondo

Bondo hat Grosses vor. Mit dem Infrastrukturprojekt «Bondo II» entstehen neue Schutzbauten gegen Hochwasser und Murgänge. Die vier Fraktionen Bondo, Spino, Sottoponte und Promontogno werden wieder verbunden und die Kantonsstrasse und die Elektrizitätsversorgung vor ähnlichen Ereignissen geschützt.

Vor einem Dreivierteljahr hat die Bevölkerung das 42-Millionen-Projekt gutgeheissen. Die baulichen Massnahmen sollen mit Sorgfalt in die Landschaft und in die Ortsbilder der Umgebung eingepasst werden. Auf den Aussenseiten der Schutzdämme entstehen Terrassen mit Obst- und Gemüsegärten. «Für dieses Projekt haben wir eine europäische Auszeichnung bekommen», sagt Fernando Giovanoli.

Etwas weiter unten am Rand des Schuttkegels steht das historische Hotel Bregaglia. Wie im Dornröschenschlaf scheint es auf die ersten Touristen zu warten. Das Grandhotel ist eine der 18 Pensionen im Bergell, die vor allem vom Sommertourismus leben. Der Tourismus ist einer der wichtigsten Arbeitgeber im Bergell. Der Bergsturz von Bondo war für die Branche eine schmerzliche Erfahrung. Kurzfristig gingen die Übernachtungszahlen gegen 15% zurück, was für ein Tal mit nur 1600 Einwohnerinnen und Einwohnern spürbar war. «Nach dem Bergsturz brachen die Buchungen der ‹Via Bregaglia› ein», sagt Eli Müller. Danach habe sich die Gästezahl stetig erholt und in den beiden Coronajahren wieder die Grössenordnung von früher erreicht und teilweise sogar übertroffen.

Seit zweieinhalb Jahren ist die gebürtige Freiburgerin Direktorin von Bregaglia Engadin Turismo. Sie und ihr Team möchten das touristische Angebot im Bergell erweitern und neue Wertschöpfung ins Tal bringen. Neben kulturellen Events richte sich ihr Augenmerk auf die nördliche Talseite, wo noch Wanderpotenzial brachliege. «Hier gibt es keine Hütten. Wir möchten mit kleinen Unterkünften auf bestehenden Alpen eine Verbindung von Casaccia nach Soglio und Richtung Avers schaffen.» Das Konzept wird demnächst dem Kanton vorgelegt, und Eli Müller hofft, dass das Wanderangebot im Bergell schon nächstes Jahr erweitert werden kann.

Neue Hüttenwege und Hängebrücken

Dort, wo die alte Brücke über die Bondasca niedergerissen wurde, führt eine provisorische Hängebrücke von Promontogno nach Bondo. Zwischen den Mauern im historischen Dorfkern ist es ruhig. In der Osteria Donato Salis sitzt Heidi Altweger, langjährige Hüttenwartin der Capanna Sasc Furä CAS. Sie erinnert sich an die bangen Tage nach dem Bergsturz vor fünf Jahren. Die Hüttensaison ging damals abrupt zu Ende.

2019 konnte ein neuer Weg zur Sasc-Furä-Hütte am Fuss des Pizzo Badile eröffnet werden. «Der Aufstieg, der das Vallun da la Trubinasca umrundet, dauert neu fünf statt drei Stunden und ist wesentlich anspruchsvoller», sagt Heidi Altweger. «Es kamen 50% weniger Besucher, vor allem weniger Wandergruppen und Tagestouristen.» Ihr Wunsch wäre die Errichtung einer Hängebrücke über das Vallun da la Trubinasca. «Das wäre am Schluss des Aufstiegs die Krönung und würde alles um eine Stunde verkürzen.»

Die Hüttenwartin erzählt von den 1980er- und 1990er-Jahren, als am Pizzo Badile viele Kletterrouten erstbegangen wurden. Damals verzeichnete die Sasc-Furä-Hütte nicht selten gegen 2000 Übernachtungen pro Jahr. Doch seit dem ersten Felssturz am Cengalo im Jahr 2011 kann der «Viale», die Wegstrecke zwischen Sciora- und Sasc-Furä-Hütte, nicht mehr begangen werden.

Wiederbelebung des «Sentiero Alpino Bregaglia»

Daraufhin wollten die Bergeller Hüttenwarte 2016 den rückläufigen Besucherzahlen mit der Vermarktung des «Sentiero Alpino Bregaglia Süd» nach Italien entgegenwirken. «Wir hatten bereits zahlreiche Reservationen. Aber dann kam der Bergsturz.» Heidi Altweger, die nach 15 Sommern auf der Hütte an ihre Nachfolgerin Daniela Rota übergibt, sieht in der Capanna Sasc Furä dennoch einen festen Bestand: «Der Badile hat eine enorme Bekanntheit und Wertschöpfung.»

Weniger Glück hatte die benachbarte Capanna di Sciora CAS: Sie bleibt auch diesen Sommer geschlossen. Gut, dass das Projekt eines neuen Hüttenweges durch die Südflanke des Val Bondasca in den Startlöchern ist. Der Geologe Hans Rudolf Keusen war in der Planung federführend und sagt: «Es wird ein abenteuerlicher Weg durch bewaldetes und felsendurchsetztes Wildland mit spektakulärer Sicht auf den Badile und den Cengalo.» Dabei gehe es nicht nur um die Wiedererschliessung der Sciora-Hütte, sondern auch um die Reaktivierung des Weitwanderwegs «Sentiero Alpino Bregaglia» vom Malojapass über die Capanna del Forno CAS und die Capanna da l’Albigna CAS bis zur Sciora-Hütte, denn seit dem Bergsturz sind Teilstrecken, wie etwa der Übergang über den Cacciabella-Pass, aufgehoben. «Das Wandernetz der südlichen Seite des Bergells ist sozusagen tot», sagt Hans Rudolf Keusen. Im besten Fall kann der neue Weg im Herbst 2023 eingeweiht werden. Somit würde die Sciora-Hütte 2024, sieben Jahre nach dem Bergsturz, wieder ihre Tore öffnen können.

Künftiger Bergsturz wird im Niemandsland niedergehen

Und was macht eigentlich der Pizzo Cengalo? Seit dem Bergsturz wird der Berg permanent überwacht. Radarmessungen weisen darauf hin, dass eine instabile Felsmasse von weiteren drei Millionen Kubikmetern dereinst ins Tal stürzen könnte. Es besteht eine Gefahrenkarte, auf der die Wirkungsbereiche einer Druckwelle für verschiedene Szenarien dargestellt sind. «Ein zukünftiger Bergsturz wird im Niemandsland niedergehen, es werden keine öffentlichen Wanderwege betroffen sein», sagt der Geologe. Es wird aber weiterhin notwendig sein, die Bergsteiger auf die Gefahrenzonen hinzuweisen, denn: Obwohl der «Viale» schon seit Jahren gesperrt ist, halten sich immer wieder Bergsteiger dort auf.

Es ist bereits später Nachmittag in Bondo, und noch immer herrscht emsiges Treiben auf der Grossbaustelle. Die Bagger schaufeln, ein Kipplaster donnert vorbei Richtung Deponie und hinterlässt eine Staubwolke. Ein Presslufthammer schlägt, als gäbe er den Takt für die Zukunft an.

Neuer Weg zur Capanna di Sciora

Der neue Hüttenweg von Bondo zur Capanna di Sciora soll auf viereinhalb Kilometern durch die Südflanke des Val Bondasca führen. Mit bis zu 60 Meter langen Hängebrücken sollen drei tiefe Schluchten überwunden werden. Weil im Gebiet zeitweise Adler nisten, soll im Zuge der Bauarbeiten während einer allfälligen Brutzeit auf Helikopterflüge verzichtet werden. Das Projekt kostet rund eine Million Franken, wovon Kanton und Gemeinde etwa die Hälfte tragen, für den Rest werden Sponsoren gesucht.

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