«Danach bist du nicht mehr dieselbe»
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«Danach bist du nicht mehr dieselbe»

Frauen war die Teilnahme an der Patrouille des Glaciers bis 1986 verboten. Marcia Phillips war eine der ersten. Dreimal absolvierte sie das legendäre Skitourenrennen.

«Frauen und Männer, Armeeangehörige und Zivilisten – vereint in Dreierseilschaften, in einer unvergleichlichen Landschaft.» Was der damalige Bundesrat Samuel Schmid im Jahr 2002 so beherzt formulierte, war nicht immer so. Frauen sind an der Patrouille des Glaciers (PDG) erst seit 1986 zugelassen. Eine der ersten war Marcia Phillips, Permafrostforscherin am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos. Dreimal hat sie die PDG absolviert, einmal die kleine, zweimal die grosse Strecke. Drei Abenteuer, die sie prägten. «Die Patrouille drückt dir ihren Stempel auf. Danach bist du nicht mehr dieselbe», sagt sie. Schnee und Berge sind Phillips’ Leidenschaft.

Mit drei Jahren stand sie erstmals auf den Ski, mit zehn unternahm sie ihre erste Skitour. In ihrer Schule in Villars gehörten vier bis fünf Skitouren pro Winter zum obligatorischen Sportprogramm. Zum Skitourenrennsport kam sie über Studienkollegen. Einmal pilgerten sie auf die Tête Blanche – mit 3650 Metern der höchste Punkt der PDG –, um bei Mitternacht Freunde, die am Rennen teilnahmen, mit Bananen und Schokolade zu verpflegen. «Stundenlang harrten wir in der Kälte aus. Da beschlossen wir, das nächste Mal selber zu laufen.»

Marcia Phillips holt einen Ordner hervor. Jedes Rennen hat sie fotografisch dokumentiert. Ein Foto zeigt sie auf dem Podest. Anwesend war auch der damalige Bundesrat Adolf Ogi, der ihr persönlich gratulierte. «Es gab so wenig Frauen, dass eine Medaille praktisch garantiert war», sagt Phillips und lacht.

Mehr als halben Tag unterwegs

14,5 Stunden brauchten sie für die 110 Leistungskilometer mit 4000 Metern Höhenunterschied. «Verglichen mit den heutigen Laufzeiten ist das ziemlich langsam», sagt sie. Tatsächlich legt heute ein gut trainierter Hobby­sportler dieselbe Strecke rund vier Stunden schneller zurück als vor 30 Jahren. Das hat unter anderem mit einer effizienteren Vorbereitung zu tun. Heute wird mit ausgetüftelten Trainingsplänen ein langfristiger Leistungsaufbau angestrebt.

Übertrainiert und ständig krank

Früher machte man einfach Höhenmeter – je mehr, desto besser. «Natürlich trainierten wir falsch, wir wussten einfach weniger», meint Phillips. In erster Linie liefen sie Skitourenrennen, mehrmals die Trophée du Muveran. Vor der PDG nahm sie mit ihren Teamkolleginnen eine Woche Ferien. «Wir legten fast 10 000 Höhenmeter zurück.» Im Sommer kletterten sie in Skischuhen die Steintreppen von Montreux nach Glion hoch. «Letztlich waren wir übertrainiert und ständig krank.»

Am meisten hat sich in den letzten 30 Jahren im Materialbereich verändert. Marcia Phillips fragt sich heute, wie sie mit so viel Gepäck überhaupt das Ziel erreichen konnten. Das Mittragen einer Militärzeltblache und ­eines schweren Militärfunkgeräts mit meterlanger Antenne war obligatorisch. Hinzu kamen Ersatz­felle, Verpflegung und ein Paar Ersatzskispitzen aus Plastik.

Um Gewicht zu sparen, benutzten Marcia Phillips und ihre Teamkolleginnen einen schmalen Telemarkski mit Stahlkanten. Erst bei ihrer dritten Teilnahme besass sie eines der ersten Tourenski-Leichtmodelle: «Ich war sehr stolz auf meinen Trab-Ski mit leichter Tourenbindung.» Einen Helm trug niemand, auch nicht die Spitzenläufer in ihren dünnen Nylonrennanzügen. Fleecepullis, Ski­hosen und Lederfäustlinge waren das Outfit der meisten Läufer. «Gefroren haben wir nie», sagt Philipps.

Dafür liefen sie sich die Füsse wund in den steifen Lederskischuhen. Noch Wochen nach der PDG konnte Marcia Phillips keine geschlossenen Schuhe anziehen. Heute wiegen Skitourenrennschuhe ein paar Hundert Gramm, ebenso die Ski.

Beindrücken vor dem Fernseher

Marcia Phillips blättert in ihrem Fotoordner und erzählt weiter. «In einem Dreierteam hat jede seine Stärken. Ich war schnell im Fellwechsel.» Obwohl sie körperlich die Schwächste war, zeigte sie am Wettkampf Stärke. «Ich hatte einen regelrechten Adrenalinschub.» Geholfen habe auch das Publikum, das einem jubelnd zur Seite stand und in seiner Begeisterung auch mal Hand anlegte in den Wechselzonen.

Hilfeleistung durch Dritte führt heute zur Disqualifikation. Verboten ist auch die Hexenposition, die damalige Abfahrtstechnik: auf schaumstoffgepolsterten Skistöcken sitzend den Hang abfahren. Stahlzacken an den Stocktellern dienten als Bremsvorrichtung. «Gut trainierte Oberschenkel waren die Voraussetzung für kontrollierte Abfahrten. Das zu üben, ging am besten vor dem Fernseher.»

Leistungsdruck hat zugenommen

Mit 1500 Dreierpatrouillen an der PDG 2016 hat sich die Teilnehmerzahl fast vervierfacht. Für die Sicherheit der Läufer waren in den jüngsten Durchgängen 1600 Armeeangehörige, 45 Ärzte, aufgeteilt auf 13 Streckenposten, 16 Lawinenhunde, 6 Lawinenspezialisten des SLF Davos und 4 Meteorologen im Einsatz. Die PDG 2016 verläuft im ähnlichen Rahmen.

Mit den gestiegenen Sicherheits- und Materialstandards habe auch der Leistungsdruck auf die Sportler zugenommen, findet Marcia Phillips. Vor allem im Profisport. Dass im Skitourenrennsport mittlerweile auch Doping ein Thema ist, hat sie dennoch erstaunt. Doch die Schuld bei Einzelpersonen zu suchen, sei falsch. «Man darf sich fragen, welche Rolle dabei das ganze Umfeld spielt.»

Marcia Phillips läuft keine Skitourenrennen mehr. Doch der Sport fasziniert sie nach wie vor. Die PDG verfolgt sie via App auf ihrem Mobile. Wenn am 19. April spät nachts der erste Startschuss fällt, wird sie wie immer kein Auge zutun und mitfiebern, weil Freunde «und nun schon deren Kinder» unterwegs sind auf dem längsten Skitourenrennen der Welt.

Die PDG 2016

Die Patrouille des Glaciers findet alle zwei Jahre statt, diesmal vom 19. bis 23. April 2016 (S.63). 1625 Patrouillen dürfen starten, das macht knapp 5000 Athleten. Der Rekord für die grosse PDG steht bei den Herren bei 5 Stunden, 52 Minuten und 20,7 Sekunden. Rund 17 Stunden brauchen die Langsamsten jeweils für dieselbe Strecke. Noch Langsamere werden disqualifiziert.

Grosse PDG: Zermatt–Verbier, 53 km, +3994 Hm/–4090 Hm.

Kleine PDG:Arolla–Verbier, 26 km, +1881 Hm/–2341 Hm

Mehr Infos unter www.pdg.ch.

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