Das biologische «Kapital» der Alpen
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Das biologische «Kapital» der Alpen Biodiversitätsmonitoring der Schweiz

Seit 2001 werden die Veränderungen bei Tieren und Pflanzen im Biodiversitätsmonitoring erfasst. Im hochalpinen Raum wirkt sich der Klimawandel besonders stark auf die Arten aus, aber auch auf die Arbeit der Forscher. Ein Augenschein im Sustengebiet.

Den Aufstieg durch das idyllische Steinwassertal bei Gadmen am Sustenpass bewältigen wir noch bei föhniger Aufhellung. Doch aufziehende Nebelschwaden künden den baldigen Wetterumsturz an. Als wir am Zielort eintreffen, der auf 2200 Metern liegt und durch einen gelben Winkel markiert ist, fallen erste Tropfen. Ein Biss ins Pausenbrot muss genügen. Dunja Al Jabaji beginnt unverzüglich mit der Erhebung der Pflanzen in der Stichprobenfläche. Die Feldbiologin ist im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt unterwegs, um den Bestand der Flora zu untersuchen. Vor ihr liegt ein Geländestreifen, ein sogenannter Transekt, der fünf Meter breit ist und sich 300 Höhenmeter über einen steilen Moränengrat hinaufzieht.

Vor 15 Jahren war Dunja Al Jabaji erstmals für eine Erhebung hier. Es sind keine aussergewöhnlichen Pflanzenarten, die sie mit aufmerksamem Auge im Gneisgeröll und in den Felsritzen erspäht: die Braune Hainsimse etwa, den Grossblütigen Gämswurz oder den Gefurchten Steinbrech. Manchmal nimmt sie die Lupe zu Hilfe. Bei Unsicherheiten greift sie auf das digitale Erfassungsgerät mit der Bestimmungsliteratur zurück. Die Pflanzen speichert die Biologin unter dem lateinischen Namen samt den GPS-Koordinaten des Fundorts.

Ab und zu kullern lose Steine

Derweilen ziehen die beiden Kollegen von Dunja Al Jabaji zu Markierungsarbeiten los. Adrian Zangger ist Projektleiter des Biodiversitätsmonitorings (BDM). Er wird begleitet von Bergführer Urs Tinner, der die Arbeit in einem steinschlaggefährdeten Seitenast des Transekts sichert. Denn wie anderswo ist auch hier der Permafrost im ungewöhnlich heissen Sommer 2018 weiter aufgetaut. Ab und zu hört man lose Steine kullern. «Es ist bemerkenswert», sagt Adrian Zangger, «dass bei der Ausarbeitung des BDM-Projekts Mitte der 1990er-Jahre die Klimaerwärmung nur ein marginaler Aspekt war. Heute, 20 Jahre später, ist sie in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gerückt. Mit dieser dramatischen Entwicklung hat man damals nicht gerechnet.» Dunja Al Jabaji ergänzt: «Im Vergleich zu 2003, meinem ersten Besuch hier, sehe ich, wie weit sich der Gigligletscher zurückgezogen hat.»

Die gelben Punkte, die Adrian Zangger mit dem Farbpinsel auffrischt, dürften beim einen oder anderen Berggänger schon einmal für Stirnrunzeln gesorgt haben. Sie werden bei jeder Erhebung erneuert, damit nachfolgende Biologinnen und Biologen der genauen Linie des Transekts folgen können. Seit 2001, dem Beginn des BDM-Projekts, wurde der Pflanzenbestand in diesem Transekt viermal erhoben, zweimal von Dunja Al Jabaji, zweimal von anderen Botanikern. Dunja Al Jabaji besucht noch über zwei Dutzend weitere BDM-Standorte, etwa im Prättigau oder am Gotthard.

Auslöser des Biodiversitätsmonitorings war die internationale Biodiversitätskonvention von Rio de Janeiro 1992. Das Projekt wurde 2001 im Auftrag des Bundesrats gestartet. Seine Daten sollen dem Bund und den Kantonen als Frühwarnsystem dienen; sie sind die Basis für Massnahmen in der Raumplanung und der Naturschutzpolitik. Mit standardisierten Methoden wird das biologische «Kapital» unseres Landes vermessen. Ausschlaggebend ist dabei die Biodiversität, also die Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten. Beobachtet werden Pflanzen, Schmetterlinge, Vögel, Gehäuseschnecken und Moose. «Das BDM will die Entwicklung der normalen Landschaft der Schweiz erfassen – und dazu gehören auch die Alpen», sagt Adrian Zangger. Rund 100 Fachleute beteiligen sich an den Felderhebungen.

In 16 Jahren 16 Meter nach oben gerückt

Die ersten drei Erhebungsphasen (2001–2017) zeigten, dass die Pflanzen auf den BDM-Stichprobenflächen im Durchschnitt einen Meter pro Jahr in die Höhe gewandert sind, also 16 Meter. Bei den Schmetterlingen waren es durchschnittlich fünf Meter pro Jahr, also 80 Meter. «Das scheint wenig zu sein», meint Adrian Zangger, «ist aber im Lichte des Klimawandels doch bemerkenswert.» Diese Ergebnisse des BDM decken sich auch mit anderen Beobachtungen: Im Goms hat ein Förster festgestellt, dass die Lärchen in den 30 Jahren, seit er im Tal tätig ist, 300 Meter hinauf gewandert sind und heute auf 2500 Metern gedeihen können. Auch in tieferen Lagen würden die Pflanzen nach oben wandern, sagt Adrian Zangger. «Nur sind die durchschnittlichen Anstiege nicht so hoch wie im alpinen Bereich.»

90 Pflanzen, 12 Falter und 5 Brutvogelarten

Am Ende des Tages hat Dunja Al Jabaji 90 Pflanzenarten bestimmt. Trotz langjähriger Erfahrung kann sie nicht mit Sicherheit sagen, ob sie wirklich jedes Pflänzlein erfasst hat: «Eine kleine Unschärfe gibt es immer.» Ihr Kollege, ein Entomologe, hat in diesem Sommer auf dem gleichen Transekt unter dem Giglistock die Vielfalt der Tagfalter untersucht; dabei hat er zwölf Arten gefunden. Und der Ornithologe, der 2018 im Auftrag der Schweizerischen Vogelwarte in diesem Kilometerquadrat war, hat fünf Brutvogelarten identifiziert, darunter auch ein Alpenschneehuhn, das hier sein Brutrevier hat. Und wie steht es allgemein um die Biodiversität in diesen Höhenlagen? «An die Bedingungen des Gebirges sind deutlich weniger Pflanzenarten angepasst», sagt Adrian Zangger. «In der alpinen Zone inklusive Teilen des Sömmerungsgebiets messen wir im Durchschnitt 180 Pflanzenarten auf unseren Transekten und damit nur knapp die Hälfte der durchschnittlichen Artenzahl in tiefen Lagen.» In einem felsdurchsetzten Transekt könnten aber auch mal nur halb so viele Arten gezählt werden. Nebst klimatischen Bedingungen und anderen Standortfaktoren würden auch Form und Intensität verschiedener Nutzungen wie Land- und Forstwirtschaft oder Erholungsnutzung über das Vorkommen der einzelnen Arten entscheiden.

Die bisherige Datenausbeute des BDM-Projekts ist beeindruckend: «Die BDM-Datenreihe ist einzigartig. Die Daten sind in der Forscherwelt sehr gefragt und bilden die Grundlage für nationale und internationale Analysen und wissenschaftliche Publikationen», sagt Adrian Zangger. So konnte zum Beispiel ein Zusammenhang zwischen dem Stickstoffeintrag über die Luft und der Biodiversität aufgezeigt werden: In artenreichen Bergwiesen mit hoher Stickstoffbelastung ist die Vielfalt tiefer.

1900 Stichprobenflächen

Das Biodiversitätsmonitoring (BDM) umfasst schweizweit 1900 Stichprobenflächen mit 1450 Messpunkten von zehn Quadratmetern und 450 grossen Probeflächen von bis zu einem Quadratkilometer. Die Flächen wurden als Raster von einem zufällig gewählten Ausgangspunkt über die Schweiz gelegt. Rund 60% entfallen auf die Alpen und Voralpen. 20 grosse Probeflächen liegen in hochalpinen Gebieten bis 2500 Meter über Meer, eine davon bei Gadmen am Sustenpass. Zusätzlich zu den terrestrischen Erhebungen werden in rund 500 Fliessgewässerabschnitten Insekten überwacht. Mehr unter www.biodiversitymonitoring.ch/de/home.html.

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