Das Clima der Alpen am Ende des vorigen und im Anfang des jetzigen Jahrhunderts
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Das Clima der Alpen am Ende des vorigen und im Anfang des jetzigen Jahrhunderts

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am Ende des vorigen und im Anfang des jetzigen

Jahrhunderts,

von

Pater Placidus a Spescha 1818* ).

/infolge meiner 35jährigen Beobachtungen ( 1783 bis 1818 ) sind die Schweizerischen Alpen seit einer Eeihe Ton Jahren, vorzüglich aber seit dem Jahre 1811, fortwährend rauher und kälter geworden. Diese meine Ansicht wird durch folgende Beobachtungen unterstützt und bestätigt.

* ) Dieser Aufsatz wurde uns durch die Güte des hochwürdigen H. Abtes Paulus Bircher von Disentis mitgetheilt. Wir geben ihn als ein merkwürdiges Document damaliger Ansichten eines braven Bergsteigers und Forschers. Er wurde durch eine von der Schweizerischen naturforschenden Gesellschaft gestellte Preisfrage veranlagst: Ob es wahr sei, dass die Alpen seit einer Reihe von Jahren wirklich rauher und kälter geworden sind? Speschas Beobachtungen führten ihn dahin, dies zu bejahen, während wir jetzt das Gegentheil finden. Man ersieht daraus, wie wichtig es ist, die Periodicität dieser Erscheinung zu erforschen, was eine der Fragen ist, deren Lösung der Alpenclub erstreben soll. Ueber den Verfasser, so wie über den jetzigen Stand dieser Sache verweisen wir auf unsere Schlussbemerkungen.

1. Viele Alpen, welche ehemals Weidgänge darboten, sind seitdem mit Schnee und Eis bedeckt worden.

2. Der Holz wuchs hat sich in den Alpen erheblich gemindert.

3. Die Eis- und Schneemassen haben sich beträchtlich angehäuft und sind stark thalabwärts gegangen.

Etwa vor 30 Jahren erstieg ich den Piz Muraun ( 2899 M. ) zwischen dem Medelser- und Sumvixerthal. Sein Gipfel war damals mit Gras und Blumen bewachsen, ist aber jetzt seit mehreren Jahren mit Schnee bedeckt.

Den Gipfel des Scopi ( 3200 M. ) am Lukmanierpass erstieg ich drei Male. Er war immer schneefrei. Vor drei Jahren erstieg ich ihn wieder und fand ihn von einer mehr als klafterhohen Schneemasse bedeckt.

Seit mehr als 30 Jahren beobachtete ich die Gletscher Prozeta und Garvil, die man im Medelserthal, vom Kloster Disentis aus sieht. Ihre Masse hat sich in dieser Zeit bedeutend erhöht und ihre Enden sind bedeutend in das Thal vorgerückt.

Vor etwa 20 Jahren machte ich Excursionen in das Thal Pontellias ( Puntaiglias bei Trons ) und erstieg von dort aus den Piz Urlaun. Schon damals schob dessen Gletscher den grünen Rasen vor sich her. Den vergan-gangenen Sommer ( 1817 ) bemerkte ich, dass der Berggipfel durch Schnee und Eis unersteiglich geworden sein muss und mehrere Weideplätze waren von Schnee und Eis bedeckt. ( Gletscherende, jetzt 1868, 2344 M. Der Gletscher schob 1817 fast eine Viertelstunde von seiner jetzigen Grenze Eismassen über die hohe Thalschwelle wo die Wasserfälle sind, in den mittleren Thalgrund, Th. )

Vor 24 Jahren bereiste ich zum ersten Male die Alpthäler Carlim ( Cadelin ) am Mittelrhein ( 2344—2453 M. )

und Maigals ( 2253 M. ) an der Vorderrheiiiquelle. Die dort befindlichen Seen waren damals ganz eisfrei, von blühenden Alpentriften umgeben. Bei einem späteren Besuche fand ich sie nur zum Theil aufgethaut, im letzten Sommer aber ganz unter der Schneedecke verschwunden, die auch die Alpenweiden bedeckte.

Solcher Beispiele könnte ich noch mehrere anführen. Meine Grosseltern sagten mir vor 50 bis 60 Jahren, dass zu ihrer Zeit aus Schneelagern Gletscher geworden seien und ich selbst habe diese Erscheinung an mehreren Orten beobachtet.

Eben so gewiss ist es auch, dass die Alpen von Holz wuchs entblösst worden sind.

Wo jetzt das Dörfchen Tschamot in Tavetsch ( 1640 M. ) steht, war ehemals eine Alp, deren Viehlager man noch jetzt zeigt, und dabei Tannenwald. Aus dem dort gewachsenen Holz wurde das Hospiz erbaut, das noch jetzt ( 1818 ) steht und bewohnt wird. Jetzt ist die ganze Gegend von Nadelholz und sonstigen Bäumen ganz entblösst.

Drei Viertelstunden von Tschamot im Thale Muscha-näras und Alp Surpalix ( zwischen 1710 u. 2062 M. ) lag ehedem, wie alte Männer von Sälva und Tschamot mich versicherten, eine " Waldung auf der nordöstlichen Seite dieses Thales. In der Tiefe desselben fand ich noch Spuren davon und beinahe auf der Höhe des Berges, etwa so hoch als der Oberalpsee ( 2038 M. ) habe ich quer in einem Wassergraben einen ganzen Stamm gesehen, der eine Rothtanne gewesen zu sein schien. Dort sieht man jetzt weit und breit kein Nadelholz mehr. Dasselbe beobachtete ich in anderen Alpthälern ( Alp Tschamot, Maigals, beide über 2000 M. ) Cavrein ( 1863 M. ), Russein ( 1841 M. ), Carlim ( über 2000 M. ). Am Nordfuss der Cima am Lukmanier, südlich der Froda ( Medelser-Rhein ) war vermuthlich auch eine Waldung ( auf 1844 M. ).

Zu unserer Zeit bemerkt man an allen diesen Orten nur noch niedrige verkrüppelte Eeste von Tannen, Lärchen, Zirbeln und Waldföhren. ( Pinus punilio ). Noch vor mehreren Jahren traf ich dort im Grund der Bäche Aeste und ganze Stämme dieser Holzarten.

Uebrigens wurden viele dieser Waldungen weder durch Erdschlüpfe und Lawinen noch durch Ströme oder Rauhheit und Kälte des Climas, sondern durch Alp- und Bergleute wegen Mangel an Forstpolizei zerstört und haben so aufgehört eine Zierde der Landschaft und ein Schutz der Thiere zu sein. Es Hesse sich über diesen Gegenstand noch sehr viel sagen.

Unzweifelhaft ist es, dass die Schneelinie und die Gletscher seit einigen Jahren herabgesunken sind. Es ist aber dieses Herabsinken nicht die Ursache des Kälter-werdens, sondern nur die Anzeige davon, denn wäre das Clima nicht überhaupt kälter geworden, so würde die vom Berge herabsinkende Kälte durch die von unten aufsteigende Wärme gemildert und bald auf einen gewissen Grad ausgeglichen werden.

Wenn ich das erwäge, was ich selbst seit 30 bis 50 Jahren aus Erfahrung weiss, und was alte Gemsjäger u. s. w. mir erzählt haben, so ergibt sich, dass die Schneelager und Gletscher sich beträchtlich vermehrt haben und vorgedrungen sind.

So geschah es in dem Hintergrund der Alpenthäler von Longnitz ( Lugnez ), in der Umgebung des grossen Medelsergletschers, am hohen Scopi, in den Alpthäleni Carlim und Maigals, an den Quellen des Vorderrheins und überhaupt in den Alpen des Sursälvathales ( Oberland ).

Schweizer Alpenclub.32

Um den Piz ïumpiv, nördlich von Sumvix, Disentis und Tawätsch etc. häuften sich noch zu meiner Zeit aus Schnee und Lawinenlagern Gletscher an. Der Gletscher in der Alp Schlans nördlich von Trons begann nach Aussage erfahrener Gemsjäger schon vor 70 bis 80 Jahren.

Das Herabsinken der Schnee- und Eismassen, die Abnahme des Baumwuchses, die Verminderung der Bergweiden in den Alpen seit einer Eeihe von Jahren ist eine erfahrungsmässige Thatsache, ob aber dieselbe ausreichend sei, um zu beweisen, dass das Clima der Alpen desshalb rauher und kälter geworden sei, ist eine andere Frage.

Wenn man annehmen darf, dass die Anhäufung des Materials der Alpen durch Niederschlag der Gewässer so wie durch die Wirkung von Sturm und Wellen erfolgt sei, und dass dasselbe durch Zurückziehen des Meeres, Druck, Kälte und Wärme seine Festigkeit erlangt habe, so folgt daraus der Schluss, dass je mehr die Meere sich zurückzogen und die Vorragungen des Bodens emporstiegen, um so mehr die letzteren kälter geworden sein müssen.

Diese Bildung der Alpen wird vielleicht schwer zu begreifen sein, allein wie soll man sonst begreifen, dass auf den höchsten Kalkgebirgen der Schweiz, z.B. auf dem Stockgron im Russeinthale und dem Gripgron bei Pontellias ( unstreitig ist hier die linke Seite des Puntai-gliasthales, der Piz Puntaiglias gemeint, wo ich ebenfalls im Unterjura Versteinerungen fand, Th. ) Meeresprodukte gefunden werden, die auf die Gletscher herabfallen, wenn man diese meine Ansicht verwirft? Wie könnte ein Holzstamm beinahe auf der Spitze des Piz Beverin hervorragen, wenn ihn die Fluthen des Meeres nicht dahin geführt hättenDieser Holzstamm, den ich demnächst aufsuchen werde und von dem ich neulich von anderer Seite gehört, ist wahrscheinlich eine Schieferbildung, Th. )

Spuren dieser Ereignisse mögen in weiterem Verstande folgende sein:

Am Piz Nalar im Hintergrunde des Oberhalbsteiner-thales und am Muttenhorn am Ende des Urserenthales entspringen Bäche, die nach verschiedenen Meeren abfliessen.

Auf dem Bernhardinberg befindet sich, wie Hr. Landammann de Mega mich versicherte, ein Alpsee, der seinen Ueberfluss an Wasser der Moesa und dem Rhein mittheilt, also gleichsam das Adriatische Meer mit der Nordsee verbindet. Diess ist zugleich desshalb eine auffallende Erscheinung, weil sich dieser See im Mittelpunkt zwischen den beiden obgenannten befindet. Diese Angabe scheint sich zwar nicht zu bestätigen, ich habe aber sonst die Erfahrung gemacht, dass Alpseen oft mehrere Ausflüsse haben. Man muss ferner annehmen, dass die Alpen anfänglich sanft ansteigend gewesen sein müssen, und dass sie ihre jetzige Gestalt vorzüglich durch das Rinnen der Gewässer, durch Schnee und Eis und wenig nur durch Erdbeben und andere Zufälle angenommen haben.

Das Rinnen der Flüsse und Bäche schnitt in die Alpen ein, und diese Einschnitte nennen wir Thäler, die Hervorragungen dazwischen Berge.

Diese Thätigkeit des Wassers hat unstreitig begonnen, als die ersten Hervorragungen sich zeigten und hat die Thäler von Jahr zu Jahr tiefer und zahmer gemacht. Je tiefer und ausgebreiteter sie wurden, desto mehr verschluckten sie die Sonnenstrahlen und behielten deren Wärme in sich. Je mehr also die Thäler bei fortwährender Vertiefung sanfter und wärmer werden, desto kälter werden im Verhältniss die der Kälte ausgesetzten Berge und Alpen.

Dem zufolge sind die Alpen immer rauher und kälter geworden, sind noch jetzt rauh und kalt und müssen immer rauher und kälter werden.

Ich schreibe also das Kälterwerden der Alpen vorzüglich dem Zurückweichen der Meere und deren Senkung zu. Denn als sie noch die ganze Erde bedeckten, fiel hier kein bleibender Schnee auf sie, weil Alles gleich hoch war und nicht in die Region hineinragte, wo der Schnee liegen bleibt und auf dem Lande, das wenig über ihren Spiegel hervorragte, konnte sich daher kein Gletscher bilden. Je mehr sie sich'zurückzogen, desto mehr fiel Schnee auf die nun entstehenden Höhen. Dann begann die Vertiefung der Thäler, deren Seitenwände die Berge darstellten. Je tiefer die Thäler wurden, desto steiler wurden diese Seitenwände. Bewegung und Druck der Luft, so wie jede Erschütterung des Bodens riss den Schnee los, der in* die Tiefe rollte und sich in den Hochthälern anhäufte. Da aber die Sonnenwärme nicht vermögend war, die Schneemassen ganz vollständig zu schmelzen, weil der Schatten in diesen Vertiefungen andauerte, und die Luft der Höhe wegen an sich schon kalt war, drang das Thauwasser in den angehäuften Schnee, den dann die Kälte wieder verhärtete, wodurch das matte Eis der Gletscher entstand, und dann die Umgebung weiter erkältete.

Wir Alpenbewohner erfahren täglich, dass die Südwinde weit wärmer sind, als die Nord-, West- und Ostwinde. Warum? Erstlich weil wir näher am Nordpol als am Aequator liegen und zweitens weil die Südmeere uns näher sind als die übrigen ( natürlich auch die Südländer ).

Ich schliesse also, dass das Zurückweichen der Meere die dadurch statthabende Erhöhung des Landes und erst in Folge davon die Anhäufung von Schnee und Eis in tien Alpen die wahre Ursache davon sind, dass diese kälter und rauher geworden sind, und dass sie diess im Laufe der Zeit immer mehr werden müssen.

Bemerkungen der Redaction.

Wie es überhaupt von Interesse ist, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, so ist es namentlich auch wichtig und lehrreich, sich auf den Standpunkt zu stellen, von welchem aus ein Mann von regem Forschungstriebe und kühnem Geist, abgeschlossen von der Welt in der Klosterzelle von Disentis und in dem damals fast eben so einsamen Pfarrhause zu Trons, in der Natur gesammelte Erfahrungen überdachte, und sich die Erscheinungen der Alpen erklärte, deren Erforschung er zur Aufgabe seines Lebens gemacht hatte. Desshalb haben wir diesen Aufsatz so gegeben, wie er vorliegt und nur einigermassen den Styl geändert, da Spescha, als geborener Romane, des Deutschen nicht vollkommen mächtig war, ohne die Eigenthümlichkeit zu verwischen. Die Namen der Orte gaben wir, wie sie Spescha schrieb, da diess von Wichtigkeit ist, weil er sich viel mit romanischer Sprachforschung beschäftigte; die Berghöhen sind nach Dufour eingeschaltet.

Der Aufsatz zerfällt in zwei Theile; im ersten setzt Spescha seine Erfahrungen über die zunehmende kalte Temperatur in den Alpen und deren Folgen auseinander, im zweiten gibt er eine Theorie, die diess erklären soll.

Der erste Theil ist für uns der bei weitem wichtigere. Die angeführten Thatsachen sind richtig und werden auch.

von anderer Seite her bestätigt. Es sind damals auch anderweitige Aufzeichnungen gemacht worden, welche darin übereinstimmen, dass namentlich in der Periode von 1811—1819 alle Gletscher der Alpen in bedenklicher Weise zunahmen; die Erzählungen alter Leute besagen dasselbe und vorgeschobene Moränen, von welchen man weiss, dass die Gletscher sie damals erreichten, bezeugen es auch. Eine Reihe kühler, regnerischer Sommer und schneereicher " Winter brachten diese Wirkung hervor. Ueber die dem warmen Sommer 1811 vorangegangene-Zeit sind weit weniger brauchbare Angaben vorhanden, so wie auch über die spätere Periode von dem warmen Jahre 1819 bis zu dem Beginn der berühmten Gletscherstudien von Agassiz, Desor, Charpentier, Vogt, Escher u. A. auf der Grimsel 1841 und den folgenden Jahren, fehlen wenigstens systematische Angaben. Man weiss jedoch, dass-ein Schwanken zwischen Zunehmen und Abnehmen der Gletscher stattfand, je nach Beschaffenheit der Sommertemperatur und dem grösseren oder geringeren Schnee-reichthum der Winter. Auffallende Abnahme fand z.B. in den Jahren 1822 und 1834 statt. Seit dem Ende der Vierziger Jahre ist mit geringen Unterbrechungen ein fortwährendes Abschmelzen der Gletscher bemerklich, an den Enden sowohl als in der Dicke, so dass sie kürzer und niedriger werden. Nur wenige haben wegen besonderen, meist nachweisbaren Umständen hievon eine Ausnahme gemacht. Kleine Gletscher sind auch wohl verschwunden oder auf dem Wege dazu. Noch schneller nehmen die alten Schneelager ab. In eben dem Maasse, als das Eis und der Schnee zurückgehen, rückt das Pflanzenreich vor und erobert sich in langem mühsamem Kampfe den in einer früheren ungünstigen Periode verlorenen Boden wieder.

Selbst die grossen Schneemassen des Winters 1867 auf 1868 haben diesen Gang der Dinge nicht aufhalten können. Es fehlt hier an Raum diese übrigens allgemein bekannten Erfahrungen in 's Einzelne zu verfolgen und ich verweise auf einen Aufsatz im letzten Jahrbuch « die Vegetation des Hochgebirges im Kampfe mit Gletscher und Firnschnee » so wie auf verschiedene Angaben im diesjährigen Bande.

Als eine Art Urkunde des Abnehmens von Eis und Schnee in unserr Periode können wir noch Dufours Atlas anführen. Hier sind namentlich in den älteren Blättern an manchen Stellen Gletscher und Firnlager angegeben, die jetzt ganz schneefrei sind. Ich setze voraus, dass dies s doch nicht durch die Phantasie der aufnehmenden Ingenieure geschehen ist und dass diese auch nicht gewöhnlichen Schnee für Firn ansahen, sondern dass sich die Sache damals wirklich so verhielt. Jene Eis- und Schneelager sind einstweilen geschmolzen. Ich könnte davon aus eigener Erfahrung verschiedene Fälle anführen.

" Wie also Speschas Leben in eine Periode fiel, in welcher durch nasse kühle Sommer und schneereiche Winter die Gletscher und die Schneebedeckung in den Alpen zunahmen und gegen die Alpenweiden vorrückten dieselben auch theilweise bedeckten, überhaupt, die Alpen « kälter und rauher » wurden, so ist unsere Thätigkeit im Gebirg in eine günstigere Zeit gefallen, wo von all dem das Gegentheil stattfindet. Diese günstigen Verhältnisse zu benutzen ist unsere Aufgabe. Manche Spitze ist zugänglich geworden, die es früher nicht war, mancher Pass gangbar, den frühere Bergfahrer ungangbar fanden, geologische Verhältnisse sind aufgedeckt, welche früher unter Schnee- und Eismassen begraben, nur vermuthet werden konnten.

Das Zurückweichen der Gletscher von den letzten Moränen gibt uns ein Bild davon, was nach der Eiszeit im Grossen geschah, so wie diess auch die Schwankungen in den der warmen Periode vorangegangenen Zeiten thun. Diese günstigen Verhältnisse werden wahrscheinlich nicht bleiben; voraussichtlich wird ihnen eine kalte Periode folgen u. s. w. Es wird daher sehr wohl gethan sein, die gegenwärtigen Zustände in ihrem Verlaufe genau, und zwar nach Mass und Zahl zu notire n und dadurch den nach uns Kommenden ein treues Bild unserer Periode zu hinterlassen. Wir vermissen das bei den meisten Angaben aus früherer Zeit, unter andern auch bei den uns von Spescha hinterlassenen und doch sind Zahlen eigentlich die einzigen strengen Beweise/

Eine Menge Beobachtungen wissenschaftlicher und ökonomischer Art, auf die wir hier nicht weiter eingehen können, knüpfen sich an diese wärmere und wohnlichere Periode der Alpemiatur.

Endlich kann nur eine genaue und wissenschaftliche Aufzeichnung der Thatsachen, die unter unseren Augen vorgehen, wenn sie von späteren Generationen fortgesetzt wird, zur Erkenntniss des Gesetzes führen, welches dieser Periodicität zu Grunde liegt, wenn überhaupt eine solche besteht, was zwar höchst wahrscheinlich, aber auch noch keineswegs streng erwiesen ist. In diesem Sinne würde es auch von Interesse sein, wenn solche, denen Zeit, Gelegenheit und namentlich die genügende Literatur zu Gebote steht, dasjenige sammeln und zusammenstellen würden, was uns mit Bestimmtheit aus früherer Zeit überliefert ist, und damit wollen wir durch Publicirung von Speschas Arbeit den Anfang gemacht haben.

Wenn wohl ziemlich jedermann damit einverstanden sein wird, dass diese Arbeit für uns von Werth ist, so möchte vielleicht diese Einstimmigkeit bei der seltsamen Theorie im zweiten Theil vermisst werden.

Jeder Schüler der einmal einen geologischen Curs gehört, jeder Zeitungsleser der einmal in der Illustrirten Zeitung, oder sonst wo eine Reihe systematisch geordneter geologischer Aufsätze durchstöbert hat, wird sagen: Was wärmt man uns da die Phantasien des alten Paters auf? Das verstehen wir besser! Die Erdoberfläche ist, nachdem sich die Sedimentschichten im Schoos des Oceans gebildet hatten, zu wiederholten Malen und verschiedenen Zeiten von unten auf gehoben worden, dadurch sind Muscheln und dgl. auf den Stockgron und den Piz Puntaiglias etc. gekommen, die Thäler sind Faltungen in der Gebirgsmasse durch Hebung hervorgerufen und die Auswaschung hat dabei eigentlich die Hauptsache gar nicht gethan. Yon einem allgemeinen Zurücktreten der Meere lassen sich wenigstens keine erfahrungsmassigen Thatsachen anführen und ihre Wassermasse ist im besten Falle nicht gross genug, um die Erde bis zu der Höhe der Alpen zu bedecken oder noch höher bis zur Spitze des Chimborazo und Mount Everest, Dhavalagiri etc. So wie Spescha dieses Zurücktreten darstellt, ist es jedenfalls nicht richtig.

Guter Freund, das wissen und behaupten wir alles auch und noch mehr dazu; aber wir wissen auch, dass des alten Paters Theorie in freilich sehr veränderter Form, wieder auftaucht. Spescha war strenger Neptunist aus Werners Schule, das heisst er leitete die Entstehung der Erde rein von den Wirkungen des Wassers ab und schrieb dem Feuer der Tiefe keine andere als örtliche und zufällige Einwirkung zu, daher musste er sich die Sache nach seinem System erklären. In kurze präcise Sätze gefasst, läuft diess auf Folgendes hinaus:

Alle existirenden Felsarten, etwa die wenigen nach-weislichen Laven davon ausgenommen, sind durch Niederschlag aus dem Wasser entstanden. Diess war anfangs alles wagrecht oder bildete vielmehr concentrische Lagen auf dem Erdsphäroid. Grössere Theile dieser Felslagen senkten sich und dadurch entstanden die Meere. In diese Tiefen zog sich das Wasser zurück und liess die nicht gesenkten Theile trocken, das gab die Continente.Von diesen wusch das athmosphärische Wasser grosse Massen herab, riss tiefe Thäler ein etc. Es fand aber auch Unterwaschung statt, es entstanden weite Höhlen, in welche ganze Landstriche versanken, Faltungen bildeten sich, Schichtenbiegungen, Windungen, Üeberschiebungen, Ueberwerfungen, Fächer, etc. Entzündung organischer Massen und elektrochemische Prozesse verursachten Vul-cane, Einstürze von Höhlen und Weitungen sind Ursachen von Erdbeben u. s. w. Da haben wir die Theorie des älteren und auch des neueren Neptunismus und alles erklärt sich leicht, wenn man über die erste Schwierigkeit hinaus ist, wie es geschehen konnte, dass in mehr oder weniger schaliger gleichmässiger Ablagerung, die nach dem Gravitationsgesetz nach innen immer dichter werden muss, Einsenkungen von Meerestiefen entstehen konnten, und wie das Wasser, das in der Tiefe auswäscht, das ausgewaschene Material wieder zu Tage fördert. Die Grundlage dieser Theorie, welche in unserer Zeit sehr viele gewichtige Anhänger zählt, ist keine andere, als die worauf Spescha seine Bildungsgeschichte der Alpen baut. Wir sehen, der Mann hat nicht phantasirt, sondern gedacht und geforscht; dass er ein rüstiger Bergsteiger war, geht aus den oben angeführten Thatsachen und aus der Ausrüstung hervor, welche der beistehende Holzschnitt zeigt, der kurzen Kutte, dem Bergstock, dem Ränzel, den dicken Schuhen u. s. w. und man wird fragen:

Wer war Vater Placidus a Spescha?

Es war derselbe der Urpapa der Rhätischen Clubisten, bekannt und berühmt seiner Zeit als kühner Bergsteiger und unermüdlicher Gebirgsforscher. Da aber seine geistige Nachkommenschaft erst lange nachher erwuchs und erstarkte, so stand er vereinzelt unter Menschen, die sein Streben nicht begriffen. Es trug ihm dieses vielmehr während seines langen Lebens nur Verkennung und vielfaches Ungemach ein. Erst die neuere Zeit hat ihn richtig gewürdigt und aus der Vergessenheit hervorgezogen.

Es sind in diesem Sinne schon zwei kurze Biographien geliefert worden, die eine in « Theobalds Beschreibung des Bündner Oberlandes » und eine andere, die verschiedene weitere Quellen benutzen konnte, in einem Vortrag von H. Forstinspektor Coaz bei der Alpenclubver- sammlung zu Chur 1865, abgedruckt in dem Jahresbericht der Bündner Naturforschenden Gesellschaft, Vereinsjahr 1865-66. Es muss auf beide verwiesen werden, da hier des Raumes wegen nur die Hauptzüge aus dem Leben des interessanten Mannes gegeben werden können.

Als Heimath Speschas gilt gewöhnlich Trons, nach andern Nachrichten wohnten seine Eltern in Andest; sein Geburtsjahr ist jedenfalls 1752. In seinen Knabenjahren hütete er, wie er selbst erzählt, die Heerde seiner Eltern. Der Hirtenknabe hatte seine, Freude an Krystallen und bunten Steinen, am Erklettern von Bergspitzen, und mag von diesen oft hinüber geblickt haben in die unermessliche Weite, wo der Himmel sich niedersenkt auf die fernen Gebirge und hinab in die Tiefe, welche die Geheimnisse der Erde birgt, mit jenem Drang nach Erkennen und Wissen, der begabten jungen Leuten eigenthum- lieh ist und sich in wilder Freiheit oft mehr entwickelt, als im alltäglichen Leben, das alles verflacht.

Es mag diess der Grund gewesen sein, warum er den geistlichen Stand wählte, in seinen Verhältnissen das einzige Mittel, zu höherer Einsicht zu gelangen. Er besuchte von 1776 an die Schule von Einsiedeln und fand dort in dem Abte Marian und den P.P. Adalrik Römi und Moritz Brodha-gen Lehrer, die seine Ausbildung, wie es scheint, mit Yorliebe förderten. Nach seiner Rückkehr 1782 trat er in das Benediktinerkloster Disentis ein, setzte dort seine Studien fort und suchte in dem Kloster wissenschaftlichen Eifer anzuregen, eine Naturaliensammlung zu schaffen, die damals ansehnliche Bibliothek zu ordnen und zu vermehren. Durch seine überlegene Intelligenz erlangte er bald ansehnlichen Einfluss, so dass er die Verwaltung der öco-nomischen Angelegenheiten des Klosters fast ganz in seine Hände bekam, und besser zu ordnen strebte. Letzterer Umstand, so wie seine wissenschaftliche Richtung, zog ihm aber mancherlei Verdruss zu, wegen letzterer namentlich wurde er als Freigeist verketzert. Er kümmerte sich darum wenig, knüpfte mit verschiedenen damaligen Schwei-zer-Gelehrten Verbindungen an und vertiefte sich besonders in das Studium der Natur, welche gerade dort, wo « r lebte, mit unendlicher Erhabenheit und Schönheit das Auge erfüllt und den Geist anregt, der sie zu erfassen vermag. Es erwachte in ihm von Neuem die jugendliche Neigung hohe Bergspitzen zu ersteigen und er erkletterte nach und nach eine grosse Anzahl der damals noch von keinem menschlichen Fusse betretenen Spitzen des Bündner-Ober-landes, dehnte seine Bergfahrten aber auch auf andere Theile von Bünden, auf Uri, das Berner Oberland, u. s. w. aus und schrieb die Ergebnisse dieser Reisen nieder; auch wusste er sich neuere naturwissenschafttiche Schriften zu Biographie.509*

verschaffen und durch tiefere Studien seinen Bergreisen eine umfassendere Bedeutung zu geben. Von seiner Umgebung wurde er weder verstanden noch unterstützt, auch sonst in Bünden nicht, nur die Berge seiner Heimath waren seine Vertrauten.

Jene Zeit war in politischer Hinsicht eine verhängnissvolle; es brach die französische Revolution aus. Als. Republikaner und Democrat von Natur hing Spescha ihren ursprünglichen edlen Grundsätzen an, meinte jedoch, man müsse sich sowohl Franzosen als Oestreicher vom Halse halten und wo möglich neutral bleiben. Bei den nun folgenden Parteiungen und Unruhen suchte er versöhnend einzuwirken. Bei dem ersten Angriff der Franzosen 1799 wo die Oberländer siegten, half er die Verwundeten pflegen und verschaffte dann als Mitabgeordneter dem Lande günstige Bedingungen bei dem nen anrückenden Feind. Unglücklicher ging es bei dem zweiten Aufstand, vor welchem Spescha gewarnt hatte und dessen verderblicher Ausgang bekannt ist. Die Franzosen verbrannten das Kloster und dabei gingen nebst vielen anderen wissenschaftlich unersetzbaren Dingen auch Speschas Schriften und der Rest seiner Sammlungen zu Grunde, so weit er diese nicht schon als Theil einer Contribution an die Franzosen dem Kloster abgetreten. Obgleich er sich in nichts Politisches gemischt, mit Aufopferung und Gefahr für seine Heimath gewirkt und dabei nichts als Verlust gehabt hatte, galt er doch als Franzosenfreund und Jacobiner, wurde bei dem späteren Siege der Oestreicher diesen ausgeliefert und als Geisel nach Innsbruck geführt. Dort fand er jedoch bei den Tyrolern Freunde, die ihn zu schätzen wussten, und setzte mit völliger Freiheit seine Bergstudien fort. Man bot ihm dort an zu bleiben. Er kehrte aber mit dem Frieden aus Liebe zur Heimath in diese zurück, wo neuer Verdruss seiner wartete.

Im Kloster zogen ihm seine ferneren wissenschaftlichen Bestrebungen eine förmliche Anklage zu, gegen die er sich mit Mühe rechtfertigte; damals scheint es dort finster ausgesehen zn haben. Man nahm ihm Bücher und Schriften wreg. Er suchte und erhielt ein Pfarramt, wo er sich freier bewegen konnte. Wir finden ihn später als Bénéficiât auf der Pfarrei Selva in Tavetsch, endlich als Caplan in Trons. Seinen Grundsätzen und Bestrebungen blieb er treu bis ans Ende. Noch in seinem 72. Jahre machte er einen Versuch den Piz Ptussein zu ersteigen und kam wirklich auf die Höhe der jetzt nach ihm benannten Porta da Spescha, von wo er die Ersteigung der Spitze durch seine beiden Begleiter Biscuolm und Curschellas beobachten konnte. Seine letzten Jahre, die er zu Trons im Frieden verlebte, verwandte er dazu, seine Erlebnisse und Beobachtungen, namentlich seine Bergfahrten zu redigiren, blieb körperlich und geistig rüstig und frisch bis in sein 82. Jahr, wo er in Trons, mit philosophischer Eesignation sein Ende erwartend, starb. Seine Schriften hatte er an Freunde vertheilt, damit sie nicht verloren gingen und sie sind desshalb erst spät wieder zum Vorschein gekommen.

Aus seinen letzten Jahren datirt folgendes Verslein, welches obigem Aufsatz voransteht:

Der wilde Mann der Alpen} Hat Vieles überdacht; Gewandert auf dem Kalten Und Mehres wahr gemacht. Nun sitzt er in dem Warmen Und denkt was er gedacht. Den Steiger will er warnen, Der Welt sagt gute Nacht.

Spescha war mittlerer Grosse, stark und fest gebaut, breitschulterig, von mächtiger Muskelkraft. Sein Auftreten zeigte den selbstbewussten entschlossenen Mann, welcher gewohnt war auf die eigene Kraft zu vertrauen; seine grossen, blauen Augen sprachen scharfen Verstand, entschiedene Willenskraft, zugleich aber freundliches Wohlwollen gegen Alle aus, Eigenschaften, die er im Leben bewährte und die ihn bei dem Volke sehr beliebt machten.

Als ich in diesem Sommer im Kloster Disentis war, wo unter der jetzigen Leitung ein solcher Mann sehr willkommen sein würde, erinnerten sich einige der älteren Conventualen, ihn in ihrer Jugend gekannt zu haben. Der hier beigegebene Holzschnitt nach einem Oelbild von P. Isenring in Pfäffers, meinten sie, sei gut, was die Gestalt und im Allgemeinen auch das Gesicht betreffe, den Blick und Ausdruck aber habe der Künstler nicht wiedergegeben.

Hätte Spescha während seines Lebens, wo die Alpen, namentlich die Rhätischen, noch so wenig bekannt waren, und über ihren Höhen der Schleier des ungelösten, und darum um so lockenderen Räthsels hing, seine Forschungen bekannt gemacht, so wäre er eine gefeierte Grosse geworden. Er durfte dies nicht wagen, seiner Verhältnisse wegen und weil er in seiner Heimat weder Anklang noch Schutz gegen Anfeindung gefunden haben würde. Jetzt sind Zeit und Wissenschaft darüber hinweggeschritten. Wir beurtheilen sein Streben in diesem Sinne — und werfen einige frische Alpenblumen auf das Grab unseres Vorgängers.

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