Das grosse Spannort
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Das grosse Spannort

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Dr. Carl Meyer.

Das grosse Spannort ( 3205 Meter. ) Der Kurort Engelberg ist am gründlichsten von Fr. Meissner im dritten Theile der « kleinen Reisen in die Schweiz » beschrieben und am treffendsten von K. R. Hagenbach im zweiten Bändchen seiner Gedichte besungen worden. Die Lage desselben hat sich seit jener Zeit nicht sehr verändert, und es wäre höchstens zu erwähnen, dass derselbe jetzt nicht mehr wie früher 3085 ', sondern 1010 m über dem Meeresspiegel liegt. Während aber zu Meissners Zeiten die Touristen genöthigt waren, im Kloster ihre Unterkunft zu suchen,, wobei ihnen dann die wohlbesetzte Klostertafel verhältnissmässig günstige Ideen über Klöster und kloster-artige Institute beibrachte, verhält sich die Sache in dieser Beziehung heutzutage wesentlich anders. Bekanntlich besteht die ursprünglichste, wesentlichste und in national-ökonomischer Hinsicht allein zulässige Bestimmung der Wirthshäuser darin, Fremden während der Nacht ein schirmendes Obdach zu gewähren. Der Kurort Engelberg nun besitzt gegenwärtig, wie der unbefangene Leser aus der « liste des étrangers du canton d' Unterwalden » ersehen kann, noch fünf Herbergen, welche diese ursprüngliche Bestimmung des Wirthshauses bis auf den heutigen Tag festgehalten haben, nämlich den Engel, die Pension Müller, das Hotel Engelberg, das Hotel Titlis und das Hotel Sonnenberg. Das nette Wirthshaus freilich, der alte weisshaarige Wirth, die vertäfelte Stube mit bunten Sittensprüchen und Crucifix nebst grünem Ofen, welche im Sommer 1831 Felix Mendelssohn so sehr entzückten, sind jetzt kaum mehr zu finden, und das Haus dient jedenfalls nicht mehr seinem damaligen Zwecke. Um so grösser ist hingegen jetzt die Zahl der Schenken, welche lediglich dazu dienen, den Kurgästen Gelegenheit zum Früb-und Abendschoppen, zum Jass und andern höchst ta-delnswerthen Angewöhnungen zu bieten. Ich zählte im Ganzen acht derartige Etablissements, und zu meinem grossen Leidwesen muss ich noch beifügen, dass ich sehr viele Kurgäste des Jahres 1875, und zwar Leute, welchen ich sonst meine Hochachtung durchaus nicht versagen kann, öfters zur Unzeit in solchen Tabernen gesehen habe. Ich werde jedoch bei meinem bekannten Hange zur Schonung menschlicher Schwächen ihre Namen dieses Mal noch verschweigen; zu meiner persönlichen Entschuldigung bemerke ich noch, dass ich dieselben lediglich darum an besagten Oertlichkeiten sah, weil mich mein Weg täglich mehrmals an den offenen Fenstern eines solchen Lokals vorbeiführte, und weil ein verführerischer Husten mich mehrmals in dasselbe zu locken beabsichtigte. Ich kann sogar nicht umhin, zu meiner grossen Beschämung zu gestehen, dass besagter Husten zuweilen nicht ganz wirkungslos war. Was mich aber in solchen Fällen immer wieder mit dem Besuche des betreffenden Lokales aussöhnte, war erstlich der Umstand, dass das Bier in demselben wirklich gut war, und zweitens, dass ich daselbst in der Lektüre des gutkonservativen Luzerner « Vaterland » eine Art von Gegengift gegen den an und für sich verwerflichen Wirthshausbesuch fand.

Die Hauptsache indessen und das Vorzüglichste, was Engelberg seinen Kurgästen bietet, sind die Alpengipfel, welche das Thal von allen Seiten einschliessen. Zwar pflegt die überwiegende Mehrzahl der Gäste dieselben nur von unten anzustaunen, und wenn ihr Gewissen je einmal erwacht, so wird vor dem Mittagessen oder gegen Abend etwa ein Spaziergang eingeschlagen, dessen bescheidenes Ziel in der Kegel der Tätschbach ist. Freilich passte auch auf den Juli des Jahres 1875 die Schilderung nur allzu gut, welche Hagenbaeh von den Witterungsverhältnissen Engelbergs entwirft:

Unerbittlich herrscht der „ Thalvogt "; Schüttelnd seines Graubarts Locken, Breitet er sein nasses Zepter Ueber Engelbergs Gelände, Nun beinah schon zwanzig Tage, Bald die halbe Zeit der Sintfluth.

Ohne den Schönheiten des Tätschbaches irgendwie zu nahe treten zu wollen, hatten sich doch zwei Kurgäste entschlossen, dem schwierigsten und folglich am seltensten bestiegenen der umliegenden Gipfel, dem grossen Spannort, einen Besuch abzustatten; der eine derselben war Herr Albert Hoffmann-Burckhardt, gegenwärtig Obmann der Sektion Basel des S.A.C., der andere meine eigene Wenigkeit. Das Wetter freilich schien einem solchen Vorhaben lange Zeit nicht günstig zu sein; endlich aber am zweiten August — es war ein Montag — klärte sich der Himmel entschieden auf, und es war wenn nicht ein schöner Tag, doch wenigstens ein schöner Vormittag zu erwarten. So wurden denn am Nachmittag die zu solchen Touren nothwendigen Vorbereitungen getroffen und zwei Führer in der Person der Brüder Leodegar und Joseph Feierabend engagirt.

Um- fünf Uhr Nachmittags wurde aufgebrochen. Ein höchst ehrenvolles Geleite, aus lauter bei Wittwe Catani und Kinder yerkostgeldeten Kurgästen bestehend, umgab uns bis zu derjenigen Stelle, an welcher die beiden von Engelberg nach dem Tätschbach führenden Wege zusammen treffen. Kaum hatte sich dasselbe « geräuschlos bei Zeiten » verzogen, so wurden unsrerseits Westen und Fauxcols aufgeknüpft und nebenbei ein etwas schnellerer Schritt angeschlagen. Um sieben Uhr erreichten wir die Sennhütte von Nieder-Surenen, in welcher wir zu übernachten gedachten. Die Hütte wird von den Geschwistern Zgraggen, einem Bruder und einer Schwester, bewohnt; die Schwester machte bei unserm Einmärsche die Honneurs, der Bruder rückte bald darauf mit dem Zgraggen'schen Viehstande an. Unser Nachtlager wurde uns in dem neben der eigentlichen Hütte stehenden Gaden angewiesen, welcher in seinem Innern eine Fülle feuchten Heues barg. Ein Leintuch wurde über letzteres ausgebreitet, und ein Shawl sollte uns nach oben vor unmittelbarer Cohäsion mit dem feuchten Heu schützen. Ehe wir uns aber zur Kühe begaben, assen wir in der wohnlichen und, wie wir erfuhren, auch den grössten Theil des Winters hindurch wirklich bewohnten Stube der Sennhütte unser Abendbrod, tranken eine Flasche Wein und rauchten dazu eine Cigarre. An Unterhaltungsstoff fehlte es keineswegs. Zgraggen hat schon ziemlich viel gelesen, sowohl Bücher als Zeitungen. Letztere hält er zwar nicht selbst; wohl aber bemächtigt er sich der von Engelberger Kurgästen am nahen Stierenbach ihres aus Schinken, Braten u. s. w. bestehenden Inhalts beraubten und sorglos zurückgelassenen Journale und schleppt sie in seine Hütte. Im Uebrigen schöpft er gleich andern Christenmenschen aus den Büchern seine Kenntnisse der Vergangenheit und aus den Zeitungen die der Gegenwart. Besonders viel aber hat die Phantasie der Geschwister Zgraggen mit Reptilien zu thun. Ich knüpfe diese Bemerkung nicht desswegen gerade hier an, weil ich eben erst von den Zeitungen gesprochen habe; die Reptilien, um welche es sich hier handelt, gehören keineswegs zu den nur bildlich so genannten und durch Fonds unterstützten, es sind vielmehr Reptilien im buchstäblichen Sinne des Worts und, wenn nicht wirklich vorhandene, doch wenigstens sagenhafte und in der Phantasie der Geschwister Zgraggen lebende. Die Schwester Zgraggen behauptete, einst von einer Viper gebissen worden zu sein, und der Bruder wollte sogar einmal Nachts in Schaddorf eine sechs Fuss lange und mit Fussen versehene Schlange gesehen haben. Es sollte indessen noch besser kommen; vor ungefähr achtzig Jahren, behaupteten sie, habe auf einer kleinen Alp in der Nähe des Surenenpasses eine geflügelte Schlange gehaust, welche ganze Kälber erwürgt habe. Als man sie zuletzt getödtet habe, sei ihr Leib so lang und so dick wie ein Baumstamm gewesen. Auch von dem sogenannten Lebenswecker, von welchem das Kloster Engelberg noch ein Exemplar aufbewahren sollte, war die Rede. Wir konnten jedoch weder aus der Beschreibung noch aus der Bestimmung dieses wunderbaren Instrumentes recht klug werden, zumal da Zgraggen die Beantwortung unserer neugierigen Fragen stets mit dem Refrain « Ja wüsset er, e Läbeswecker ischt halt e Läbeswecker schloss. Zur Vervollständigung der Charakteristik Zgraggens füge ich noch bei, dass derselbe sehr kirchlich gesinnt und in politischer Beziehung sehr konservativ ist. Er verhält sich in Folge dessen dem schweizerischen Volksverein gegenüber völlig apathisch, ja er besucht sogar seit 1847 nicht einmal mehr die Urner Landsgemeinde. Und diese seine politische Parteinahme verdient um so mehr Achtung, als ihn seine vornehmeren Vettern in Uri ignoriren; Zgraggen ist konservativ aus Ueberzeugung, nicht aus Politik.

Ein Viertel vor neun Uhr suchten wir unser Lager auf in der Hoffnung, der kommende Morgen werde uns, da sich der Abend von Stunde zu Stunde schöner gestaltet hatte, einen wolkenfreien Himmel bringen. Eine Laterne erhellte unsern Schlafraum, und die in unmittelbarster Nähe vorüberrauschende Aa belebte die einsame Stille der Nacht. Glücklicherweise konnten wir beide wenigstens einige Stunden schlafen.

Der ersehnte dritte August brach für uns an, ehe die rosenfingrige frühduftgeborne Aurora sichtbar war; die Führer weckten uns schon um zwei Uhr. Wir erhoben uns von unserm durch die Kultur gemilderten Naturlager, setzten uns in Bereitschaft und ergaben uns darauf der Thätigkeit des Einnehmens eines Frühstücks. Um drei Uhr wurde aufgebrochen; voran schritt Leodegar Feierabend mit einer zerschlagenen Flasche, in welcher die einstweilen noch nothwendige Laterne leuchtete, darauf folgte ich, dann Herr Hoffmann, und zuletzt kam Joseph Feierabend. Nach einer Stunde waren wir unter den Felsen des Geissbergs auf dem Wege nach dem Schlossberggletscher; es war eine steile Felspartie gewesen, an welcher für Leute, welche weniger kurzsichtig sind als ich, einiges Edelweiss wächst. Nun galt es, eine weniger steile Gand mit Schiefergesteube zu ersteigen; doch warteten wir ungefähr eine Viertelstunde, um diesen Weg bei wirklichem Tageslichte anzutreten. Links in der Höhe unter den Felswänden des Schlossberges weidete eine Schafheerde; aus der nämlichen Richtung kam auch ein Gemsbock heran-stolzirt, der sich durch unser Zurufen und Jauchzen keineswegs ausser Fassung bringen liess. Wir stiegen nun fortwährend über Geröll ziemlich steil bergan; der Weg zog sich in die Länge, und der Grat, welchen wir zu erreichen hatten, schien uns näher zu sein, als er in Wirklichkeit war. Die obersten Partien der Geröllhalde waren theilweise mit Lawinenschnee bedeckt. Nach 21ji Stunden, gerade um halb sieben Uhr, erreichten wir die Schlossberglücke. Der Boden bestand aus verwittertem Alpenkalk und war überwiegend mit gelbem Gestein bedeckt; hie und da zeigte sich auch glänzender Schiefer. Vor uns senkte sich der Schlossberggletscher blendend weiss nach dem Hintergrunde des Erstfelderthal hinab, und jenseits stieg der Krönlet stolz empor. Nicht gerade angenehm war der kalte Wind, welcher hier blies und uns nöthigte, eine möglichst geschützte Haltstelle zu suchen. Wir blieben ungefähr eine Stunde hier und erfrischten uns mit Speise und Trank. Dann stiegen wir auf den Glattenfirn hinab und zogen uns auf diesem östlich vom grossen Spannort mit schwachem Anstieg um dasselbe herum. Das Spannort selbst ragte in dunkeln, äusserst scharf zugespitzten Felskegeln über uns empor. Durch eine steile Schneekehle und zwischen zerrissenen Felstrümmern vorbei gelangten wir nun auf die von Engelberg aus sichtbare Grathöhe zwischen beiden Spannörtern, und von hier aus musste das grössere an der einzig möglichen Stelle erklettert werden. Es war eine theilweise böse Kletterei über zerbröckelte Kalkschiefer-felsen. Einige Fluhsätze waren mit Schnee bedeckt, und zuweilen war der Fels so steil, dass man Hände und Füsse in Aktion setzen musste, wobei dann der Bergstockmehr hinderlich als förderlich war. Die oberste Spitze war ein etwas glatter Felsblock, welchen wir über den Rücken des einen der beiden Führer erstiegen. Es war gerade 9:t/4 Uhr, als wir oben anlangten, und immer noch blies ein kalter Wind; doch legte sich dieser endlich während unseres Aufenthaltes auf der Spitze des Spannorts. Das Steinmannli, welches frühere Besteiger hier errichtet hatten, war umgestürzt; doch bauten unsere Führer ein neues auf. Auch die Stange, welche bei der letzten Besteigung aufgepflanzt wurde,.

war bis auf einen kümmerlichen, aus dem Gestein hervorragenden Rest verschwunden. Im übrigen fanden sich unter den vorhandenen Notizen die beiden Namen eines Lieutenant von Segesser aus Luzern und des Herrn Dr. Catani aus Engelberg; Herr Eduard Catani war auf eine etwas niedrigere nördliche Spitze des Berges gerathen.

Die Aussicht war herrlich; über uns wölbte sich ein klarblauer Himmel, an welchem einzelne leichte Wölkchen dahin zogen. Südwestlich ragten die Berneralpen vom Oberaarhorn bis zur Haslijungfrau empor, letztere fiel in kühn geschwungener Linie nach der Tiefe ab. Links Schloss sich an diese die Gebirgsgruppe an, welche das Berner Oberland von Uri scheidet, der Spitzliberg, das Sustenhorn, die Dammastöcke und die Thierberge; um ein Gutes näher als; die Riesen des Grindelwald- und des obern Aarthaies bildeten sie unstreitig den imposantesten Theil der Aussicht. Auch der Titlis stieg finster und drohend aus dem Wendengletscher auf. Nach Süden trat die Gotthardgruppe vom Wytenwasserstock bis zum Pizzo Centrale hervor. Besonders interessant war auch der Anblick der Medelser- und Cristallinagletscher. Oestlich erhoben sich Windgelle, Bristenstock, Oberalpstock, Scheerhorn, Tödi u. s. w., durch das Reussthal von miserai Standorte getrennt. Im Hintergründe zeigten sich die Gipfel der rhätischen Alpen zum Theil in Wolken gehüllt. Am wenigsten lohnend war verhältnissmässig der Blick nach Norden. Zwar waren die Felsmassen des Schlossbergs, des Blacken-stocks und anderer aus der Tiefe des Thals der Aa aufsteigender Gipfel nicht ohne Interesse; aber sie hemmten doch gleichzeitig das Auge, in das Grün der Thäler « der gar auf den Spiegel des Vierwaldstättersees zu blicken. Immerhin waren die Spitzen der Mythen und die schienenbedeckten Höhen des Rigi jenseits der nächsten Berge noch sichtbar, und in weiterer Ferne glänzte der Sempachersee; das weitere Flachland hingegen verlor sich in graue dunstige Luft. Der tiefgrüne See des Erstfelderthal, eine Hauptzierde der Aussicht vom benachbarten Schlossberg, ist leider von hier aus nicht sichtbar. Dafür tritt aber als Schadenersatz der vollständige Ueberblick über das Engelbergerthal ein. Da lag es tief unter uns mit seinen vielen Häusern und Hütten, den stattlichen Klostergebäuden und der weissen Landstrasse, welche gewiss vor einigen Jahrzehnten noch keine Ahnung hatte, dass sie einst von Deutschen in eine « chaussée » werde umgetauft werden.

Dass wir auf einige Erfrischungen hier oben nicht verzichteten, versteht sich von selbst. Nachträglich sei auch noch bemerkt, dass am Gestein hie und da zer-blitzte Stellen zu bemerken waren.

Eine Viertelstunde nach eilf Uhr brachen wir wieder auf, vorsichtig kletterten wir die Felsen hinunter. Eine Felspartie, welche uns beim Aufsteigen wenig Mühe verursacht hatte, weil wir da das zu ersteigende Objekt immer vor Augen gehabt hatten, liess sich jetzt wegen ihrer Steilheit etwas bedenklicher an. Vorwärts durften wir nicht hinabsteigen, weil der Fels zu steil war, und weil wir leicht das Gleichgewicht hätten verlieren können; stiegen wir aber rückwärts, so sahen wir nicht, wohin wir Hände und Füsse zu setzen hatten.

Da schlangen uns die beiden Führer einem nach dem andern das Seil um den Leib und hielten dasselbe von. oben fest, und so kletterten wir vorsichtig hinunter; die Führer mussten dann freilich ohne Seil dasselbe thun. Endlich hatten wir die Felsen wieder hinter uns, und nun rutschten wir das erste kleine, aber steile Schneefeld hinab und gelangten so gerade in das sogenannte Spannörterjoch, den schneebedeckten Sattel, welcher sich vom grossen Spannort zum kleinen hinüberzieht. Nun zogen wir uns an der Nordseite des kleinen Spannorts westwärts, fest entschlossen, nicht auf dem Wege, auf welchem wir gekommen waren, sondern auf einem andern neuen zurückzukehren. Die Firnhalde, an welcher wir uns befanden, war sehr steil; links von den Felsen des kleinen Spannorts ergoss sich ein leichter Steinhagel, rechts senkte sich der Firn in die Tiefe, aus welcher bedenkliche Schrunde hervortraten; an ein Hinuntersteigen oder Hinunterrutschen nach dieser Seite war also nicht zu denken, so sehr auch ein solches unsern Weg abgekürzt hätte. Es handelte sich also darum, auf der Firnhalde in der Höhe zu bleiben und so die Höhe des vor uns ansteigenden G-rassengletschers zu gewinnen. Zu diesem Zwecke musste der vorausgehende Leodegar Feierabend ungefähr sechzig Tritte in den Schnee hacken, und wir folgten ihm langsam am Seil. Auf diese Weise gelangten wir von Punkt 2952 der Karte des Klubgebiets zu Punkt 2940, und von hier aus konnten wir recht gut in das Steinthal und auf die Kleinalp hinabsehen. Von hier aus Hesse sich auch der Uebergang von Engelberg nach dem Meyenthal bewerkstelligen, und es würde sogar dieser Weg vor dem sonst üblichen über den Grassen wegen der Nähe der Spannörter und wegen der Möglichkeit, die Besteigung derselben mit der Passage zu verbinden, den Vorzug verdienen. Nun gieng es steil über den Gletscher zu Punkt 2900 und von da unterhalb Punkt 2718 über die Scheidegg, die Grenze von Uri und Unterwaiden, auf den Grassengletscher; auf diesem wurde uns nochmals der Anblick einer Gemse zu Theil, welche in kühnem Trabe den Gletscher hinaneilte, während wir denselben hinabstiegen und endlich bei Punkt 2166 dessen Ende erreichten und uns vom Seile losbinden konnten. Die Beschaffenheit des Schnees war uns überall in hohem Grade günstig gewesen. Obschon wir oft und lange Zeit hindurch auf Engelberg hinabgesehen hatten, waren wir doch vom Thale aus niemals bemerkt worden.

Der Abstieg nach der Herrenrüti war ganz abscheulich, und mit Recht entzieht ihm daher der geistreiche Verfasser des Itinerars für 1875 das Prädicat « Weg ». In steilen Krümmungen mussten wir über Stein und Schutt, über kurzes Berggras oder durch bereits blüthenloses Alpenrosengebüsch uns winden. Nach und nach wurde das Gras reichlicher und tiefer; aber ein Weg fehlte immer noch. Später erreichten wir eine einzeln stehende Tanne, welche schon lange das Ziel unserer Sehnsucht gewesen war, und schliesslich erreichten wir eine Quelle, deren Wasser, mit etwas Wein vermischt, uns wieder erfrischte.Von hier kamen wir dann über den Lawinenrest, welchen man von Engelberg aus rechts über der Herrenrüti erblickt. Er ziert schon seit Jahren die meisten photographischen 10 Darstellungen Engelbergs, und Neulinge glauben wohl auch, er sei vom Dorfe aus etwa in einer halben Stunde zu erreichen. Um 4 Uhr 30 Minuten erreichten wir endlich die Herrenrüti selber; die rothe Fahne mit dem weissen Kreuz, welche vom Dache herabwehte, sprach wohl weniger die vaterländische Gesinnung ihrer Bewohner aus, als sie anzeigte, dass man hier Erfrischungen haben könne. Wir erfrischten uns denn auch in der That mit frischer Kuhmilch; handelte es sich doch um nichts geringeres, als allenfalsigen Tätschbach-besuchern gegenüber, deren Begegnung jetzt in Aussicht stand, eine möglichst stramme Haltung zu heucheln. Zuerst begegnete uns eine Dame, welche sich nach der Herrenrüti tragen liess; dann folgte mein Namensvetter aus Frankfurt am Main mit seinen zwei Töchtern und seiner Gemahlin, welche man beinahe für seine älteste Tochter hätte halten können. Wir knüpften nun Westen und Fauxcols wieder zu, und als wir uns der Kaffee-wirthschaft « Rosa's Ruhe » näherten, erschien auch das höchst ehrenvolle Geleite vom vorigen Abend wieder. Um sechs Uhr waren wir wieder in Engelberg, und ein Glas Münchner Bier in dem am Eingange dieser Schilderung bereits signalisirten Lokale bildete den würdigen Abschluss unserer Exkursion.

Feedback