«Der Fortschritt hat den Berg geraubt»
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«Der Fortschritt hat den Berg geraubt» Crystallization - das SAC-Kulturprojekt für alle Sinne

Jean Odermatt hat sein ganzes bisheriges Künstlerleben den Alpen gewidmet. Nun hat er für den SAC das Kunstprojekt Crystallization entwickelt. Von Mai bis Oktober soll an vielen kleinen Veranstaltungen zwischen Graubünden und der Waadt über den Umgang mit den Alpen nachgedacht werden.

Sie bezeichnen die Alpen als «gesellschaftliches Frühwarnsystem». Was meinen Sie damit?

Auch wenn die Alpen nur aus Fels und Geröll zu bestehen scheinen, bilden sie doch einen lebendigen Organismus, der unmittelbar auf Veränderungen der Nutzung reagiert. Der Klimawandel zeigt sich hier sehr deutlich, aber auch die Ökonomisierung aller Lebensbereiche und die Folgen davon manifestieren sich in den Alpen exemplarisch.

Auch Kunst ist eine Art gesellschaftliches Frühwarnsystem. Was wollen Sie mit dem Kunstprojekt Crystallization erreichen?

Wir wollen den gegenwärtigen wie zukünftigen Umgang mit dem Alpenraum reflektieren.

Bei Crystallization geht es um das Verhältnis zwischen Mensch und Berg. Was ist Ihr Verhältnis zu den Alpen?

Die Berge sind für mich das Erhabenste, was es gibt. Wahrscheinlich existieren für jeden Menschen Orte auf der Erde, wo er sich wohlfühlt. Für mich sind das die Alpen.

Sind die Alpen heute noch identitätsstiftend für die Schweizerinnen und Schweizer?

«Die Alpen sind der Seelenanker der Schweizer», sagt Stadtwanderer Benedikt Loderer. Obwohl die grosse Mehrheit der Bevölkerung ausserhalb des alpinen Raums lebt, haben die Alpen doch noch eine identitätsstiftende Funktion. Wie fragt doch Walter in Schillers Wilhelm Tell: «Gibt’s Länder, Vater, wo nicht Berge sind?»

Glauben Sie, dies trifft für jüngere Generationen auch noch zu?

Das kann ich selbst nicht beantworten, wir erhoffen uns aber Hinweise von jungen Autorinnen, die Crystallization als «Chronistinnen» begleiten werden.

Wie bewegen Sie sich in den Bergen?

Ich bin nicht einer, der Gipfel sammelt. Im Gotthardmassiv habe ich eine Hütte, die so etwas wie den Hafen für meine Erkundungen im Gelände bildet. Dort lasse ich die Natur auf mich wirken, lasse mich auf die Umgebung ein, fotografiere und schreibe. In einer schier meditativen Beziehung zur Umgebung tauchen oft neue Ideen auf.

Die Alpen sind Schutz und Bedrohung zugleich, auch das ist ein Thema von Crystallization. Empfinden Sie das manchmal selbst so?

Ich habe in den 1980er-Jahren drei Winter im alten Hospiz auf dem Gotthard verbracht und wurde dabei hautnah mit den Naturgewalten konfrontiert. Was mich am meisten beeindruckt hat, waren aber nicht die Kälte oder die Schneemassen, sondern die unbändige Kraft der Winde. Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa sagt zu Recht: «Nur um dem Wind zu lauschen, lohnt es sich, auf die Welt zu kommen.» Gleichzeitig brachten die Winde aber auch den Schwefelgestank aus der Lombardei oder die Radioaktivität aus Tschernobyl auf den Gotthard.

Wie hat das angefangen mit Ihrem innigen Verhältnis zu den Alpen?

Ich bin am Vierwaldstättersee aufgewachsen, das Viergestirn aus Pilatus, Stanserhorn, Bürgenstock und Rigi war ein wichtiger Bezugspunkt meiner Kindheit. Die Berge hatten für mich Gesichter, waren Persönlichkeiten mit einem ganz eigenen Charakter – fast wie lebendige Wesen.

Und wie kam es dazu, dass Sie Ihr ganzes Künstlerleben den Alpen gewidmet haben?

Ich kann mir schlicht nichts anderes vorstellen. Es interessiert mich nichts so stark wie das stete Beobachten dieser Gebirgslandschaft.

Über 30 Jahre haben Sie sich mit dem Gotthard beschäftigt. Warum gerade der Gotthard?

Der Gotthard ist für mich ein Ankerpunkt, ein magnetischer Pol. Ich bin in den 1950er-Jahren aufgewachsen, als der Gotthardmythos noch sehr präsent war. Im Gegensatz zur beschaulichen, ländlichen Rütliwiese, die die bäuerliche Schweiz repräsentiert, steht der Gotthard für die moderne Schweiz. Seit den Eisenbahnpionieren ist die technologische Entwicklung exemplarisch am Gotthardmassiv sichtbar. Zudem zwingt uns der Gotthard als Transitraum immer wieder zur Auseinandersetzung mit Europa.

Sie haben den Gotthard einmal als Stachel im Fleisch der mobilen Gesellschaft bezeichnet. Wie erleben Sie die Reise durch den Gotthard heute?

Da ich teilweise im Tessin lebe, fahre ich pro Woche sicher zweimal durch den Basistunnel. Einem Sog gleich zieht es den Zug in den Tunnel, und 17 bis 20 Minuten später ist man wieder draussen. Was zuvor und danach ist, gleicht sich mittlerweile immer mehr an. Das Innehalten, die rituellen Momente, die Erfahrung des Widerstands gibt es nicht mehr. Der Berg ist verschwunden, der Fortschritt hat ihn geraubt, wie der Teufel die Seele.

Wo sehen sie Chancen und Gefahren im künftigen Umgang mit dem Alpenraum?

Da können sie genauso gut fragen, was uns als Gesellschaft wichtig ist. Der Alpenraum stemmt sich der modernen Entwicklung entgegen, er zeigt uns die Begrenztheit unserer Möglichkeiten und dass der physische Bezug zu den Dingen, zu Langsamkeit und Essenz ein wertvoller Bestandteil eines sinnhaften und sinnvollen Lebens sein kann. Dem stehen der Sog der Ökonomisierung aller Lebensbereiche und die Ausrichtung auf Effizienz und Rendite, auf Tempo und Masse des Mainstreams gegenüber. Der alpine Raum folgt einem anderen Wertesystem als jenem der modernen kurzlebigen Ökonomie.

Crystallization besteht aus kleinen Veranstaltungen mit beschränktem Teilnehmerkreis. Droht das nicht zu einer elitären Angelegenheit zu werden?

Warum muss sich immer alles mit grossen Zahlen profilieren? Wir machen kleine Veranstaltungen, dafür sind alle Teilnehmenden einbezogen. Wir rufen nicht Vertrautes ab, sondern begeben uns auf eine Expedition. Und da ist es wie beim Bergsteigen, wo die Plätze am Seil auch beschränkt sind. Seit Monaten publizieren wir übrigens auf Instagram täglich Fotos. Da folgen uns bereits 9000 Personen. Zudem kann es durchaus sein, dass Elemente von Crystallization nach Abschluss des Kunstprojekts weitergeführt werden.

Das Resultat des ganzen Kunstprojekts soll sich am Ende in einer Skulptur herauskristallisieren. Verraten Sie etwas Konkretes dazu?

Ideen und Erfahrungen aus den Veranstaltungen werden im Alpinen Museum zu einem symbolischen Kristall heranwachsen. Dafür werden die Beteiligten auf Postkarten ihre Gedanken festhalten. Das ganze Material tragen wir zusammen und präsentieren es im Foyer des Museums.

Wagen Sie noch eine Prognose: Wie wird der Alpenraum in 50 Jahren aussehen?

Nur Orte, die schneesicher sind und genügend Funpower bieten, werden überleben. Ausserhalb der Resorts entsteht alpine Brache. Die technologischen Umwälzungen werden zwar Raum und Zeit als Hindernisse verschwinden lassen, eine allumfassende Mobilität wird aber auch das Wurzelnschlagen verhindern.

Die Digitalisierung könnte den Alpenraum aber auch als Wohn- und Arbeitsort wieder attraktiv machen?

Ich halte das nicht für ausgeschlossen, ohne Wertewandel wird es aber nicht funktionieren. Nur wenn wir von der Fokussierung auf Quartalszahlen, auf Tempo, Menge und Preis wegkommen und mehr auf Qualität und Nachhaltigkeit setzen, haben die Alpen als Lebensraum eine Zukunft.

Veranstaltungskalender

An den Salon Alpins wird über das Verhältnis der Berge diskutiert. Während einer Tavolata geniessen die Teilnehmer Wurst, Bergkäse und Kräuterspezialitäten. Und die Pfade laden zu meditativen Spaziergängen durch die Landschaften ein.

4. Mai› Eröffnung, Alpines Museum, Bern, 16 Uhr

Einführung, Apéro (offen für alle), Salon Alpin, Tavolata (Alpwürste)

14. Juni›Tavolata, Dazio Grande, Prato

Wilde Kräuter

22. Juni›Pfade, Belalp Nesserjeri

Wanderung entlang der Suonen

30. Juni›Pfade, Val Frisal

Wanderung zum höchstgelegenen Fichtenurwald

6. Juli›Pfade, Juf im Averstal

Wanderung zu Lawinenverbauungen und Kavernen

27. Juli›Pfade, Niederrickenbach

Auf den Spuren des Musenalp-Expresses

28. Juli bis 3. August›Rotondohütte SAC

Soziokulturelles Kulturprojekt mit Vernissage

9. August›Tavolata, Pays d’Enhaut*

Alpkäse nach alter Tradition

17. August›Salon Alpin, Altdorf

Diskussionsrunde im Foyer Tellspielhaus

17. August›Tavolata, Niederrickenbach

Gschwelti de luxe und mehr

13. September›Salon Alpin Reichenau-Tamins

Diskussionsrunde im Spiegelsaal

13. September›Tavolata, Reichenau-Tamins

Mungge und Gämse

5. Oktober›Abschlussevent, Alpines Museum, Bern

Präsentation der Erkenntnisse, Salon Alpin, Apéro (offen für alle),Tavolata (Rezepttausch)

* Details zum genauen Ort folgen noch.

Infos und Anmeldung: www.sac-cas.ch/crystallization

Instagram: Crystallization2018

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